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OGH vom 11.06.1996, 10ObS2022/96t

OGH vom 11.06.1996, 10ObS2022/96t

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer und Dr. Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Dietmar Strimitzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Peter Fischer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Olga M*****, ***** vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram und Dr. Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 8 Rs 170/95-23, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom , GZ 3 Cgs 89/94b-19, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am geborene Klägerin erlitt bei einem Arbeitsunfall am Laugenverätzungen beider Augen. Seither ist ihr linkes Auge erblindet und die Sehschärfe des rechten Auges infolge Hornhauttrübung auf 0,3 herabgesetzt (dies entspricht einem Drittel der Sehfähigkeit eines normalen Menschen, sodaß sie etwa optische Wahrnehmungen, die ein Gesunder auf 100 m bzw 10 m macht, nur mehr auf 30 m bzw 3 m machen kann). Ihr Gesichtsfeld ist nicht beeinträchtigt, sie kann sich auch im Straßenverkehr bewegen. Schriftgrößen 4 bis 5 (laut Sehprüftafel) sowie große Schreibmaschinschrift kann sie noch lesen, nicht mehr jedoch Telefonbuchdruck. Beim Lesen normaler Schreibmaschinenschrift hat sie bereits Schwierigkeiten; sie kann diese nicht in derselben Zeit wie ein Gesunder und nicht in der normalen Zeit lesen. Ihre Sehfähigkeit ermüdet rascher als die eines Normalsichtigen. Die MdE beträgt laut augenärztlichem Sachverständigengutachten 50 %. Aus berufskundlicher Sicht können allerdings für die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine entsprechenden Berufstätigkeiten mehr gefunden werden, wobei dies für alle unselbständigen und selbständigen Berufstätigkeiten gilt. Arbeitsmarktausschließend wirkt für sie, daß bei sämtlichen Tätigkeiten mit einer erhöhten Fehlerhaftigkeit wegen Ermüdung gerechnet werden muß.

Mit Bescheid vom hat die beklagte Partei den Unfall vom als Arbeitsunfall anerkannt und ihr ab eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % der Vollrente zuzüglich Zusatzrente unter Anwendung der Ruhensbestimmungen gemäß § 90 a ASVG zuerkannt. Im Verfahren 13 Cgs 173/94i des ASG Wien verpflichtete sich die beklagte Partei laut Vergleich vom , der Klägerin (im Vergleich AS 45 des bezogenen Aktes auf Grund eines offenkundigen Schreib- oder Diktierfehlers: "der beklagten Partei") eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, und zwar vorbehaltlich des Vorliegens der allgemeinen und besonderen Anspruchsvoraussetzungen ab dem auf die Auflösung des letzten Beschäftigungsverhältnisses folgenden Monatsersten sowie vorbehaltlich allfälliger Ersatzansprüche und des Nichtvorliegens einer Pflichtversicherung zum Stichtag.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrte die Klägerin unter Hinweis darauf, daß alle Voraussetzungen für die Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 100 % (plus Zusatzrente) vorlägen, die beklagte Partei schuldig zu erkennen, ihr ab eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu leisten. Im Zuge des Verfahrens wurde dieses Begehren dahingehend modifiziert, daß die beklagte Partei schuldig sei, der Klägerin ab eine Versehrtenrente von mehr als 50 % zu leisten (ON 7 und 18).

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens, da die Einschätzung der MdE mit 50 % laut ihrem Bescheid der unfallbedingten Herabsetzung der Leistungsfähigkeit der Klägerin entspreche.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, der Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom eine Versehrtenrente im Ausmaß von 100 % der Vollrente samt Zusatzrente ab dem zu gewähren. Aus dem Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen ergebe sich, daß bei der Klägerin ein völliger Ausschluß vom Arbeitsmarkt bestehe; diesem Gutachten sei gegenüber jenem des medizinischen Sachverständigen der Vorzug zu geben. Die vom Obersten Gerichtshof in SSV-NF 1/64 entwickelten Grundsätze seien in Literatur und Lehre kritisiert worden. Die (auch hier vom medizinischen Sachverständigen zugrunde gelegten) Rententabellen würden sich nicht mit der Realität decken. Gemäß § 205 Abs 1 ASVG sei vielmehr der konkrete Grad der MdE heranzuziehen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte die angefochtene Entscheidung dahingehend ab, daß die beklagte Partei schuldig sei, der Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom eine Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % der Vollrente samt Zusatzrente ab dem zu gewähren; das darüber hinausgehende Mehrbegehren von weiteren 50 % der Vollrente wurde hingegen abgewiesen. Ausgehend von der Grundsatzentscheidung SSV-NF 1/64 sei der Oberste Gerichtshof in einer bis zur Gegenwart reichenden Judikaturkette davon ausgegangen, daß die MdE abstrakt zu prüfen und anhand veröffentlichter Rententabellen nachvollziehbar zu begründen sei. Nach den Richtlinien der deutschen und österreichischen ophtalmologischen Gesellschaft einerseits sowie der Beurteilung des beigezogenen medizinischen Sachverständigen auf Grund eigener Erfahrung andererseits betrage die MdE der Klägerin aber nur 50 %.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der klagenden Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß die Entscheidung des Erstgerichtes wiederhergestellt werde; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.

Vorauszuschicken ist, daß es im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichtes tatsächlich der ständigen Rechtsprechung des seit dem mit der sozialen Unfallversicherung befaßten 10.Senates des Obersten Gerichtshofes entspricht, daß die MdE grundsätzlich abstrakt zu prüfen und anhand der veröffentlichten Rententabellen (für den vorliegenden Fall siehe etwa die MdE-Tabellen in Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit5, 311 sowie Verband deutscher Rentenversicherungsträger, Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung5, 522) nachvollziehbar zu begründen ist (SSV-NF 1/64 = SZ 60/262 = JBl 1988, 259 = dRdA 1989, 128, SSV-NF 3/19, 7/52, 7/127 und 7/130, 10 ObS 13/95, 10 ObS 164/95, 10 ObS 177/95; ebenso auch Grillberger, Österr Sozialrecht2, 67 f sowie Gitter, Sozialrecht3, 133 f). Auf Grund dieses für die Ermittlung der MdE maßgeblichen Prinzips der abstrakten Schadensberechnung wird die Versehrtenrente sowohl dann gewährt, wenn im konkreten Fall kein Lohnausfall entstanden ist oder sogar ein höheres Einkommen erzielt wird (10 ObS 13/95, 10 ObS 177/95), als auch, wenn ein Versicherter seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben kann und damit allenfalls ein Einkommensentfall einhergeht (10 ObS 161/95, 10 ObS 248/94; Grillberger, aaO 68). Die auch vom Erstgericht (in S 2 seiner Entscheidung) im Rahmen der Sachverhaltsfeststellungen wiedergegebene Einschätzung der MdE auf Grund des Gutachtens des augenärztlichen Sachverständigen ist hiebei ein zum Tatsachenbereich gehöriger Akt der irreversiblen Beweiswürdigung (SSV-NF 3/19, 5/125, 6/15, 10 ObS 112/92, 10 ObS 230/92). Der Senat hat stets daran festgehalten, daß Grundlage zur Annahme der Minderung der Erwerbsfähigkeit regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen oder die Folgen einer Berufskrankheit oder deren Auswirkungen ist; diese medizinische MdE, die auch auf die Verhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Bedacht nimmt, ist im allgemeinen dann aber auch die Grundlage für die rechtliche Einschätzung der MdE (ständige Rechtsprechung seit SSV-NF 1/64 [weitere Veröffentlichungen siehe oben], zuletzt SSV-NF 9/26; jüngst 10 ObS 55/96 mwN). Nach dem Beweisverfahren erster Instanz wurde der Grad der MdE bei der Klägerin vom ärztlichen Sachverständigen mit 50 % eingeschätzt (ON 5) und diese Feststellung auch im Rahmen der Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes (S 2, dritter Absatz des Urteils ON 19 = AS 57) wiedergegeben.

Nur unter besonderen Umständen kann ein Abweichen von dieser medizinischen Einschätzung dann geboten sein, wenn im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall unbillige Härten eines Verletzten zu vermeiden sind; mit anderen Worten: um die Ausbildung und den bisherigen Beruf des Versicherten zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen und den Grad der MdE abweichend von der medizinischen Einschätzung höher einzuschätzen (10 ObS 177/95, SSV-NF 9/26). Daß ein solcher besonderer Härtefall bei der Klägerin, die keinen spezifischen Fachberuf ausübte, sondern nach dem Akteninhalt als Hilfsarbeiterin in einer Molkerei beschäftigt war (wo sie sich auch die Augenverletzung zuzog), vorliege, wurde allerdings nicht einmal behauptet (10 ObS 177/95). Die sog. Härteklausel kann daher hier kein Argument für eine von der medizinischen Einschätzung abweichende Bemessung der Versehrtenrente bilden. Im übrigen hat auch das Erstgericht in seinen Ausführungen (insbesondere S 7 des Urteils = AS 67) diese Härteklausel bloß erwähnt, tatsächlich jedoch die Festsetzung der MdE mit 100 % nicht darauf gestützt, sondern auf die seiner Ansicht nach sich nicht mit der Realität deckenden Einschätzungen von sog. Rententabellen (S 8 des Urteils = AS 69). Auch das Berufungsgericht ist darauf - schon mangels Relevierung auch etwa in der Berufungsbeantwortung - zutreffend nicht näher eingegangen.

Ausgehend von der medizinisch eingeschätzten MdE kann aber damit dem Klagebegehren - und damit auch der Revision - kein Erfolg beschieden sein. Insoweit ist die vom Berufungsgericht zur Stützung seiner Rechtsmeinung zitierte "Judikaturkette" durchaus zutreffend (§ 48 ASGG) und keineswegs, wie von der Revisionswerberin betont, "mißverstanden" worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.