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OGH vom 27.02.2019, 7Ob9/19b

OGH vom 27.02.2019, 7Ob9/19b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen R***** U*****, geboren am ***** 2011, *****, Mutter Mag. O***** S*****, vertreten durch Mag. Robert Pöschl, Rechtsanwalt in Graz, Vater M***** U*****, vertreten durch Stingl und Dieter Rechtsanwälte OG in Graz, weitere Verfahrenspartei: Land Steiermark, als Kinder- und Jugendhilfeträger (Stadt Graz, Amt für Jugend und Familie, Kinder- und Jugendhilfe/Recht, 8010 Graz, Kaiserfeldgasse 25), wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom , GZ 2 R 285/18y-147, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom , GZ 221 Ps 9/17m-137, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die Minderjährige ist die uneheliche Tochter von Mag. O***** S***** und M***** U*****. Der Vater hat die Vaterschaft anerkannt.

Die Obsorge kam der Mutter ursprünglich alleine zu. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom ist der Vater vorläufig mit der alleinigen Obsorge betraut. Die Minderjährige befindet sich seither auch hauptsächlich in seinem Haushalt.

Das Erstgericht wies – rechtskräftig – den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers vom auf Obsorgeentziehung und -übertragung im Bereich Pflege und Erziehung für die Minderjährige ab. Darüber hinaus sprach es aus, dass die Obsorge für die Minderjährige in Hinkunft beiden Eltern gemeinsam zukomme, wobei die Minderjährige im Haushalt des Vaters hauptsächlich betreut werde. Den Eltern wurde weiters der Auftrag erteilt, eine Elternberatung im Ausmaß von sechs Einheiten innerhalb der nächsten sechs Monate bei einer geeigneten Person oder Institution zu besuchen. Die festgestellten Defizite der Mutter in ihren pädagogischen Kompetenzen würden keine Kindeswohlgefährdung darstellen, sodass der Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers auf Entziehung und Übertragung der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung abzuweisen gewesen sei. Da die Gesprächsbasis zwischen den Eltern sich in der letzten Zeit verbessert habe und zuletzt auch gemeinsame Ausflüge zu dritt unternommen worden seien, sei vom Vorliegen einer gewissen Gesprächsbasis zwischen den Eltern auszugehen; jedenfalls sei zu erwarten, dass die Eltern mit Hilfe der verpflichtenden Elternberatung die für die gemeinsame Obsorge notwendige Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit erlangen.

Das Rekursgericht teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts und gab dem Rekurs der Mutter, die die alleinige Obsorge anstrebt, nicht Folge. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels der Voraussetzungen nach § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.

Gegen den Beschluss des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass ihr auch künftig die alleinige Obsorge zukomme; hilfsweise stellt sie auch einen Aufhebungsantrag.

Der Vater beantragt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und in seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt.

1. Nach der Rechtslage nach dem KindNamRÄG 2013 BGBl I 2013/15 soll die Obsorge beider Eltern insbesondere dann (eher) den Regelfall darstellen, wenn eine halbwegs „normale“ familiäre Situation zwischen den Eltern und auch zwischen den Eltern und dem Kind besteht (vgl 7 Ob 14/18w mwN).

2. Für die Anordnung der beiderseitigen Obsorge ist maßgebend, ob die Interessen des Kindes auf diese Weise am besten gewahrt werden können (vgl RIS-Justiz RS0130247). Die beiderseitige Obsorge setzt eine Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes voraus (vgl RIS-Justiz RS0130248). Dementsprechend erfordert die Teilnahme an den Betreuungsaufgaben einen Mindestkontakt des jeweiligen Elternteils zum Kind. Zudem ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit sowie an Bereitschaft der Eltern voraussetzt. Um Entscheidungen möglichst übereinstimmend im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen (vgl RIS-Justiz RS0128812). Es ist notwendig, dass Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen besprochen werden, die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend beurteilt werden und sich die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile nicht regelmäßig widersprechen (7 Ob 147/18w mwN). Nach diesen Grundsätzen ist eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern bereits vorhanden ist, ob in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet oder eine solche zumindest hergestellt werden kann (RIS-Justiz RS0128812).

3. Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt und können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen; insofern gilt auch das Neuerungsverbot nicht (RIS-Justiz RS0106312; vgl auch RS0106313). Es müssen daher auch während des Rechtsmittelverfahrens eingetretene unstrittige und aktenkundige Umstände, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, berücksichtigt werden (vgl RIS-Justiz RS0048056 [insbesondere T 10, T 11]).

4. Zur strittigen Frage einer ausreichenden Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern baut die Entscheidung des Erstgerichts wesentlich darauf auf, dass sich die Gesprächsbasis zwischen den Eltern wesentlich verbessert habe, sodass ein Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit sowie Bereitschaft der Eltern zur Erfüllung der Betreuungsaufgaben vorliege. Aktenkundig ist nunmehr ein Vorfall vom , bei dem es vor der Minderjährigen zwischen den Eltern zu einer tätlichen Auseinandersetzung im Zuge einer Streitigkeit darüber, ob der Minderjährigen ein bestimmtes Medikament verabreicht werden solle, gekommen ist. Dabei beschuldigen sich die Eltern gegenseitig der Körperverletzung. Dies lässt darauf schließen, dass sich die Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft der Eltern betreffend den (gemeinsamen) Umgang mit der Minderjährigen wiederum massiv verschlechtert hat. Eine Entscheidung über die künftige Gestaltung muss diese wesentlich geänderten Umstände berücksichtigen, wozu die Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen unumgänglich ist.

5. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht daher insbesondere die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Eltern neuerlich zu beurteilen haben.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00009.19B.0227.000

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