OGH vom 23.10.2019, 7Ob96/19x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. S***** N*****, vertreten durch Dr. Thomas Jappel, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Dr. R***** S*****, vertreten durch Dr. Stefan Herdey und Dr. Roland Gsellmann, Rechtsanwälte in Graz, wegen 20.393,91 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom , GZ 5 R 183/18y-24, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom , GZ 20 Cg 22/18x-20, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
In einem Vorverfahren hatte die Klägerin einen sie wegen einer Bissfehlstellung behandelnden Zahnarzt wegen Falschaufklärung und Fehlbehandlung auf Zahlung und Feststellung der Haftung für künftige Schäden geklagt. Der nunmehr Beklagte ist ebenfalls Zahnarzt, war im Vorverfahren zum Sachverständigen bestellt worden und erstattete dort ein kieferorthopädisches Gutachten, wonach der im Vorverfahren Beklagte die Klägerin fachgerecht und vollständig aufgeklärt, eine richtige und vollständige Diagnose gestellt und die Klägerin lege artis behandelt habe. Daraufhin nahm die Klägerin die Klage im Vorverfahren unter Anspruchsverzicht zurück; sie könne das Verfahren nicht weiterführen, da ihre Rechtsschutz-Versicherungssumme erschöpft sei. Sie wurde zur Zahlung der Prozesskosten verpflichtet.
Die Klägerin begehrt nunmehr vom Beklagten den Klagsbetrag des Vorverfahrens und seit der Klagsrücknahme angefallene Folgekosten sowie die Feststellung der Haftung für die künftigen Folgen der nicht lege artis erfolgten Gutachtenserstattung im Vorverfahren. Hätte der Beklagte sein Gutachten sach- und fachgerecht erstattet, wäre der Klage im Vorprozess stattgegeben worden. Das unsachgerechte Gutachten sei kausal für den Verlust des Vorverfahrens gewesen. Dessen Bekämpfung zur Abwendung des sonst absehbaren Prozessverlusts sei der Klägerin aufgrund fehlender eigener Mittel und Erschöpfung der Rechtsschutzversicherungssumme nicht möglich gewesen.
Der Beklagte bestritt. Sein Gutachten im Vorprozess sei richtig, zumindest vertretbar, und ausreichend begründet. Es sei zu keiner detaillierten Auseinandersetzung mit dem Gutachten gekommen, weil die Klägerin ausufernde Fragen gestellt und dann die Klage zurückgezogen habe; allerdings hätte auch eine weitere Fragenbeantwortung und Erörterung nichts an seinem richtigen Gutachten geändert, wonach die dem Stand der Wissenschaft entsprechende Behandlung des im Vorverfahren beklagten Zahnarztes nicht zu beanstanden gewesen sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Beklagte habe die ihm im Vorverfahren erteilten Gerichtsaufträge, einen kieferorthopädischen Befund zu erstatten und weiters die umfangreichen Fragenkataloge der Parteien zu beantworten, vollständig, schlüssig begründet und widerspruchsfrei erfüllt. Die von der Klägerin erhobenen Vorwürfe würden bereits durch die Gutachten selbst widerlegt, sodass sich weitere Beweisaufnahmen erübrigten.
Das Berufungsgericht gab der wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Bestimmungen über die Haftung von Gerichtssachverständigen würden nicht die Minimierung des jede Partei treffenden Kostenrisikos bezwecken, sondern dienten ausschließlich dem Schutz des Vertrauens in die Richtigkeit des Gutachtens. Zwar könne eine Haftung des Sachverständigen für ein falsches Gutachten auch dann bestehen, wenn dieses der gerichtlichen Entscheidung nicht zugrunde gelegt worden sei. Dies setze aber voraus, dass die zur Vermeidung einer weiteren Kostenbelastung gesetzte Parteihandlung im Vertrauen auf die Richtigkeit des Gutachtens vorgenommen worden wäre. Dies sei hier nicht der Fall, weil der Klägerin nach eigenem Vorbringen die Unrichtigkeit des Gutachtens von Anfang an bewusst gewesen sei und sie die Klage im Vorprozess nicht deshalb zurückgezogen habe, weil sie sich von der scheinbaren Richtigkeit des Gutachtens habe überzeugen lassen. Eine Haftung des Beklagten scheide daher mangels Rechtswidrigkeitszusammenhangs aus, sodass allfällige Verfahrensmängel irrelevant wären und auf die Beweisrüge nicht einzugehen sei, weil die angefochtenen ebenso wie die Wunschfeststellungen zum selben klagsabweisenden Ergebnis führen würden.
Den Wert des Entscheidungsgegenstands bewertete das Berufungsgericht mit 30.000 EUR übersteigend; die ordentliche Revision ließ es nicht zu.
Die Revision der Klägerin beantragt die Abänderung im klagsstattgebenden Sinn; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Beklagte beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Die Klägerin führt ins Treffen, die Kosten der Parteien seien sehr wohl vom Schutzzweck etwa des § 25 Abs 4 GebAG umfasst. Aus der Rechtsprechung sei nicht abzuleiten, dass ohne Vertrauen auf die Richtigkeit des Gutachtens kein Schadenersatz zustehe. Vielmehr könne eine Haftung auch eintreten, wenn sich die Unrichtigkeit des Gutachtens im laufenden Verfahren herausstelle, wo also
– wie hier – offenkundig kein Vertrauen auf dessen Richtigkeit gegeben sei. Der Entschluss der Klägerin, die Klage im Vorverfahren zurückzuziehen, sei aufgrund des pflichtwidrigen Verhaltens des Beklagten und seines fehlerhaften Gutachtens sowie der dadurch verursachten
– frustrierten und noch zu erwartenden – Kosten gefasst worden.
Dazu wurde erwogen:
1.1. Nach Lehre und ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs haftet ein Sachverständiger, der im Prozess ein unrichtiges Gutachten abgibt, den Parteien gegenüber persönlich nach § 1299 ABGB (RS0026316, RS0026319; 10 Ob 4/18p mwN). Er kann aufgrund eigener deliktischer Haftung direkt belangt werden (RS0026353 [T3], RS0026337 [T4, T 5]). Ein gerichtlich bestellter Sachverständiger, der in einem Zivilprozess schuldhaft ein unrichtiges Gutachten abgibt, haftet demnach den Prozessparteien gegenüber für die Folgen dieses Versehens. Ob einer Prozesspartei durch ein solches schuldhaftes Fehlverhalten des Sachverständigen ein Schaden entstanden ist, ist danach zu beurteilen, ob die Entscheidung im Vorprozess für sie günstiger ausgefallen wäre, wenn der Sachverständige dort ein in allen von ihm begutachteten Fragen richtiges Gutachten abgegeben hätte (RS0026360).
1.2. Eine Haftung nach allgemeinen Regeln des Schadenersatzrechts gilt nicht nur in Fällen, in denen der Ersatz für Schäden aus einer auf Basis eines unrichtigen Sachverständigengutachtens ergangenen gerichtlichen Entscheidung begehrt wird (2 Ob 180/08x). Eine Haftung besteht vielmehr auch für alle den Parteien verursachten Schäden, die durch ein, wenn auch letztlich nicht der Entscheidung des Gerichts zu Grunde gelegtes, Gutachten entstehen, das sich im Laufe des Verfahrens als unrichtig und mangelhaft herausstellt und daher der Entscheidung nicht zu Grunde gelegt werden kann (
vgl RS0124312). Das Wesen des Rechtswidrigkeitszusammenhangs liegt nämlich darin, dass aufgrund eines rechtswidrigen Verhaltens für jene verursachten Schäden zu haften ist, die die übertretene Verhaltensnorm nach ihrem Schutzzweck gerade verhindern sollte (RS0022933 [T1]).
1.3. Jene Vorschriften, die auf die verfahrensrechtliche Verwertbarkeit eines Sachverständigengutachtens abzielen, bezwecken (auch) den Schutz der Parteien vor frustrierten Verfahrenskosten (RS0124312 [T1]). Schäden aufgrund eines unrichtigen Gutachtens sind daher vom Schutzzweck umfasst, insbesondere für einen aufgrund der drohenden Kosten nicht weiterverfolgten Anspruch oder frustrierte Rechtsverfolgungskosten, weil es – unabhängig vom subjektiven Vertrauen des Geschädigten – darauf ankommt, ob er im Hinblick auf das unrichtige Gutachten in Bezug auf das Verfahren Dispositionen getroffen hat.
Dem steht auch die vom Berufungsgericht ins Treffen geführte Vorjudikatur nicht entgegen: Zu 5 Ob 169/06y schloss die Klägerin aufgrund eines unrichtigen Gutachtens einen den tatsächlichen Schaden nicht deckenden Vergleich ab. Der für die Klägerin günstige Prozesserfolg unter der Hypothese des rechtmäßigen Verhaltens des Schädigers (der Erstattung eines richtigen Gutachtens) und damit der eine Tatfrage bildende, natürliche Kausalzusammenhang zwischen der schädigenden Handlung (der Erstattung eines unrichtigen Gutachtens) und der Reduktion einer berechtigten Forderung als positiver Schaden standen eindeutig fest. Ein subjektives Vertrauen auf die Richtigkeit des Gutachtens wurde weder gefordert noch festgestellt, sondern nur im Zusammenhang mit dem vom dort Beklagten aufgeworfenen Verjährungseinwand erörtert. In der Entscheidung 10 Ob 54/18s (= RS0124312 [T5]) war dagegen schon eine prozessbeendende Disposition aufgrund eines unrichtigen Gutachtens gerade nicht erweislich.
2.1. Der Schädiger hat nur für adäquat herbeigeführte Schäden einzustehen, was dann der Fall ist, wenn die Schadensursache ihrer allgemeinen Natur nach für die Herbeiführung eines derartigen Erfolgs nicht als völlig ungeeignet erscheinen muss und nicht nur infolge einer ganz außergewöhnlichen Verkettung von Umständen zu einer Bedingung des Schadens wurde (RS0022906; RS0022546; RS0022944; RS0022914; RS0022918).
2.2. Soweit das Berufungsgericht unter Hinweis auf die soeben zitierten Rechtssatzketten die Begrenzung der Haftung durch Adäquanzüberlegungen ins Spiel bringt, weist die Revisionswerberin zutreffend darauf hin, dass ihre Reaktion auf das Gutachten für den Sachverständigen erwartbar war. Es liegt auf der Hand, dass Prozessparteien im Hinblick auf ein Sachverständigengutachten, das den Prozessausgang naturgemäß beeinflusst, auch im Hinblick auf die Minimierung von Prozesskosten Dispositionen treffen. Dadurch verursachte Schäden stehen daher im Adäquanzzusammenhang.
2.3. Die vom Berufungsgericht aufgeworfenen Überlegungen zur Erörterung des Gutachtens betreffen eine allfällige Verletzung der Schadensminderungsobliegenheit der Klägerin. Diese Frage stellt sich hier allerdings nicht, weil der Beklagte hiezu selbst ausdrücklich vorgebracht hat, dass er sein Gutachten auch bei einer vollständigen Erörterung aufrecht erhalten hätte (vgl 5 Ob 169/06y).
3.1. Zusammengefasst kann die Auffassung des Berufungsgerichts nicht geteilt werden, dass eine Haftung des Beklagten mangels Rechtswidrigkeitszusammenhangs oder mangels adäquater Verursachung schon vorab zu verneinen wäre.
3.2. Da das Berufungsgericht aufgrund seiner diesbezüglich unrichtigen Rechtsansicht die Verfahrens- und Beweisrügen der Klägerin nicht erledigt hat und damit nicht feststeht, ob das Gutachten überhaupt unrichtig war, ist das angefochtene Urteil aufzuheben, die Rechtssache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen und diesem aufzutragen, neuerlich über die Berufung zu entscheiden.
4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 50 Abs 1 iVm § 52 Abs 1 ZPO.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00096.19X.1023.000 |
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