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OGH vom 30.05.2017, 4Ob92/17h

OGH vom 30.05.2017, 4Ob92/17h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Jensik, Dr. Schwarzenbacher, Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. G***** T*****, gegen die beklagte Partei Dr. E***** O*****, wegen Aufhebung eines Schiedsspruchs (Streitwert 17.760 EUR), über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 2 R 201/16t-12, mit dem das Anerkenntnisurteil des Handelsgerichts Wien vom , GZ 64 Cg 21/16i-8, als nichtig aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben und diesem die Entscheidung über die bisher nicht erledigten Teile der Berufung unter Abstandnahme von dem als gegeben erachteten Nichtigkeitsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die Streitteile sind Rechtsanwälte und Gesellschafter einer im Liquidationsstadium befindlichen Rechtsanwälte OG. Im Gesellschaftsvertrag wurde vereinbart, dass alle Streitigkeiten aus dem Vertrag ausschließlich durch ein dreigliedriges Schiedsgericht zu entscheiden sind, wobei Schiedsrichter nur Rechtsanwälte sein dürfen und die §§ 577 ff ZPO zur Anwendung gelangen. Am schlossen die Streitteile einen durch die Erledigung dort näher angeführter Punkte aufschiebend bedingten Vergleich über die wechselseitigen Ansprüche aus der Auflösung der Gesellschaft. In dem Vergleich wurde vereinbart, dass ein namentlich genannter Schiedsmann bei Streitigkeiten über die Auslegung der offenen Punkte entscheidet. In der Folge kam es zwischen den Parteien zu einer Meinungsverschiedenheit darüber, ob der Beklagte, der einer ehemaligen Mandantin der OG von dieser an die Gesellschaft geleistete Pauschalgebühren zurückbezahlt hatte, diesen Betrag vom Kläger fordern kann. Zur Schlichtung dieser Streitigkeit wandte sich der Beklagte an den Schiedsmann, der ohne Einbeziehung des Klägers einen Schiedsspruch verfasste.

Der Kläger begehrte vor dem Handelsgericht Wien die Aufhebung dieses Schiedsspruchs und stützte die Zuständigkeit des Erstgerichts auf § 617 Abs 9 ZPO.

Der Beklagte berief sich auf die Schiedsklausel und wandte diesbezüglich die (ursprünglich mit „Unzulässigkeit des Rechtswegs“ bezeichnete) sachliche Unzuständigkeit des Erstgerichts ein. Hingegen wurde nicht gerügt, dass das angerufene Gericht wegen § 615 ZPO unzuständig sei.

Das Erstgericht verwarf die Einrede der sachlichen Unzuständigkeit und gab dem Klagebegehren statt.

In seiner dagegen erhobenen Berufung machte der Beklagte ua Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung nach § 477 Abs 1 Z 3 ZPO geltend und führte aus, das Erstgericht habe übersehen, dass die vorliegende Klage auf Aufhebung des Schiedsspruchs gemäß § 615 ZPO in die ausschließliche Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs falle. Mangels Heilung dieser Unzuständigkeit sei die Entscheidung nichtig.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge, hob das Ersturteil samt dem ihm vorangegangenen Verfahren als nichtig auf und überwies die Rechtssache an den Obersten Gerichtshof als dafür zuständiges Gericht. Es bejahte mangels Beteiligung eines Verbrauchers die Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs nach § 615 ZPO. Soweit der Kläger die Zuständigkeit des angerufenen Handelsgerichts aus der Bestimmung des § 617 Abs 9 ZPO ableite, übersehe er, dass diese Bestimmung nur auf Schiedsvereinbarungen anwendbar sei, an denen ein Verbraucher beteiligt ist. Bei § 615 ZPO handle es sich um eine individuelle, dh zwingende sachliche, örtliche und funktionelle Zuständigkeit, die der Parteienvereinbarung nicht zugänglich sei. Eine Heilung gemäß § 104 Abs 3 JN komme nicht in Betracht, weil sich diese Bestimmung ausdrücklich nur auf die sachliche und örtliche, nicht aber auf eine funktionelle Zuständigkeit beziehe. Ein Verstoß gegen § 615 ZPO heile erst mit Rechtskraft der Entscheidung. Die absolute Unzuständigkeit des bisher mit der Klage befasst gewesenen Erstgerichts habe die Nichtigkeit des angefochtenen Urteils und des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens gemäß § 477 Abs 1 Z 3 ZPO zur Folge. Sie führe entsprechend § 474 Abs 1 ZPO zur Überweisung an den nach § 615 ZPO zuständigen Obersten Gerichtshof.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteigt und ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof mangels oberstgerichtlicher Rechtsprechung zur rechtlichen Qualifikation des Zuständigkeitstatbestands des § 615 ZPO und zur Heilung eines Verstoßes dagegen zu.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs des Klägers ist zulässig und berechtigt.

1. Ein an sich aufgrund des Fehlens der sachlichen oder örtlichen Zuständigkeit unzuständiges Gericht wird auch dadurch zuständig, dass der Beklagte zur Sache vorbringt oder mündlich verhandelt, ohne die Einrede des Fehlens der sachlichen oder örtlichen Zuständigkeit zu erheben (§ 104 Abs 3 JN). Ist der Beklagte anwaltlich vertreten oder tritt dieser – wie hier – als Rechtsanwalt in eigener Sache auf (§ 28 Abs 1 ZPO), setzt die Heilung nach § 104 Abs 3 JN keine Belehrung durch das Gericht voraus.

2. Die von § 104 Abs 3 JN umfassten Zuständigkeitsarten (ua die sachliche und örtliche Zuständigkeit) betreffen stets die Anhängigmachung der Sache (Fasching, Lehrbuch2 Rz 194; Ballon in Fasching/Konecny3 Vor § 27a JN Rz 5). Das gilt auch für die sogenannte individuelle Zuständigkeit, bei der für bestimmte Rechtssachen aufgrund einer speziellen Regel ein einziges örtlich und sachlich bestimmtes Gericht zuständig ist (Mayr in Rechberger4 Vor § 27 JN Rz 1), womit die örtliche und sachliche Zuständigkeiten aus einer Norm abgeleitet (Ballon in Fasching/Konecny3 Vor § 27a JN Rz 4) und diesbezüglich vereint werden. Eine Heilung nach § 104 Abs 3 JN ist somit auch dann möglich, wenn die verletzte Bestimmung eine individuelle Zuständigkeit regelt.

3.1 Nach der insoweit zutreffenden Ansicht des Berufungsgerichts kommt eine Heilung nach § 104 Abs 3 JN aber dann nicht in Betracht, wenn die verletzte Zuständigkeitsnorm die funktionelle Zuständigkeit regelt (RIS-Justiz RS0044561; Mayr in Rechberger4§ 104 JN Rz 17; Simotta in Fasching/Konecny3§ 104 JN Rz 175).

3.2 Eine funktionelle Zuständigkeit betrifft nicht die Anhängigmachung der Sache, sie regelt vielmehr, welche Prozessstadien vor bestimmte Gerichte gehören (Prozessgericht, Rechtshilfegericht, Rechtsmittelgericht) oder welches Rechtspflegeorgan (etwa Richter oder Rechtspfleger) innerhalb des Verfahrens zur jeweiligen Verfahrenshandlung berufen ist (Fasching, Lehrbuch2 Rz 194; Ballon in Fasching/Konecny3 Vor § 27a JN Rz 5).

4. Bei § 615 ZPO handelt es sich um eine individuelle Zuständigkeit (Rechberger/Hofstätter in Liebscher/Oberhammer/Rechberger, Schiedsverfahrensrecht II [2016] Rz 13/24), weil darin die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Obersten Gerichtshofs für die dort genannten Klagen normiert wird. § 615 ZPO betrifft (nur) die Anhängigmachung der Sache, nicht aber (auch) die Verteilung der Rechtssache nach Prozessstadien bzw die Zuordnung der Sache zu bestimmten Rechtspflegeorganen innerhalb einer Streitsache. Somit wird durch § 615 ZPO keine funktionelle Zuständigkeit (mit-)geregelt.

5. Letzteres unterscheidet § 615 ZPO von § 532 ZPO, der (auch) daran anknüpft, dass im Vorprozess mehrere Gerichte mit unterschiedlicher funktioneller Zuständigkeit eingeschritten sind, wobei damit für die Rechtsmittelklagen auch die regelungsbedürftige Frage der funktionellen Zuständigkeit entschieden wird. Einer solchen Regelung der funktionellen Zuständigkeit bedarf es bei Aufhebungsklagen von Schiedssprüchen nicht.

6. Im Gegensatz zur nach § 532 ZPO geregelten Zuständigkeit (vgl 6 Ob 579/86 SZ 60/238) kommt im Bereich des § 615 ZPO eine Heilung einer Unzuständigkeit nach § 104 Abs 3 JN somit in Betracht.

7. Dem hier vertretenen Ergebnis kann auch nicht entgegnet werden, es ermögliche den Parteien durch ihre rügelose Einlassung die Begründung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und damit die Herbeiführung eines im Gesetz nicht vorgesehenen Instanzenzugs. Dem steht grundsätzlich die Pflicht des Gerichts entgegen, seine Unzuständigkeit von Amts wegen wahrzunehmen (§ 43 Abs 1 JN). Nur wenn das Gericht seine Unzuständigkeit übersieht und daher nicht rechtzeitig wahrnimmt, sieht § 104 Abs 3 JN im Fall der unprorogablen Unzuständigkeit eine Heilung vor. Dem liegt der verfahrensökonomische Gedanke zugrunde, die Vernichtung eines bereits getätigten Verfahrensaufwands in engen Grenzen zu halten. Auch wenn das Gesetz eine Disposition über seine Zuständigkeit ausschließt, ist eine Heilung der sachlichen und örtlichen (bzw individuellen) Unzuständigkeit nach § 104 Abs 3 JN möglich. Gegenteiliges setzt eine Ausnahmeregel voraus (vgl § 104 Abs 4 und 5 JN), die der Gesetzgeber im Bereich der §§ 615 ff ZPO nicht normiert hat.

8. Der Beklagte brachte zur Sache vor und verhandelte auch mündlich, ohne einen Verstoß gegen § 615 ZPO zu rügen. Damit wäre eine (allfällige) Unzuständigkeit des Erstgerichts jedenfalls nach § 104 Abs 3 JN geheilt, sodass das Berufungsgericht den Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 3 ZPO zu Unrecht bejaht hat. Die angefochtene Entscheidung war somit aufzuheben.

9. Ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsmeinung zur Nichtigkeit der erstgerichtlichen Entscheidung hat das Berufungsgericht die weiters geltend gemachten Berufungsgründe bisher unerledigt gelassen. Im Hinblick darauf, dass die geltend gemachte Nichtigkeit zu verneinen ist, wird sich das Berufungsgericht mit diesen Berufungsausführungen inhaltlich auseinanderzusetzen haben.

10. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:0040OB00092.17H.0530.000
Schlagworte:
1 Generalabonnement,14 (Zivil-)Verfahrensrechtliche Entscheidungen,27 Schiedsverfahren

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