OGH vom 13.04.2000, 6Ob82/00b
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schiemer, Dr. Huber, Dr. Prückner und Dr. Schenk als weitere Richter in der Pflegschaftssache ua der mj Cäcilia F*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Eltern, Ing. Eduard F***** und Elfriede F*****, gegen den Beschluss des Jugendgerichtshofs Wien als Rekursgericht vom , GZ 1 R 53/99f-402, mit dem der Beschluss des Jugendgerichtshofes Wien als Pflegschaftsgericht vom , GZ 13 P 1143/95i-391, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Punkt 1. des erstinstanzlichen Beschlusses ersatzlos behoben wird.
Text
Begründung:
Zwischen den Eltern der Minderjährigen und deren bereits volljährigen Geschwistern ist seit langem ein mit großen Emotionen geführter Streit um die Obsorge der drei noch minderjährigen Kinder anhängig. Anfang Mai 1999 kam es im elterlichen Haushalt zwischen dem Vater und Cäcilia zu einem Streit. Diese erklärte, bei ihrer volljährigen Schwester Anna wohnen zu wollen. Die Eltern traten diesem Wunsch nicht entgegen. Die genannte Schwester beantragte am , ihr die vorläufige Obsorge zu übertragen. In der Zeit vom 4. 5. bis war die Minderjährige in einem Krisenzentrum des Jugendwohlfahrtsträgers, seither lebt sie bei ihrer Schwester Anna. Am beantragte der Jugendwohlfahrtsträger beim Pflegschaftsgericht unter Berufung auf § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB iVm § 176a ABGB, die am getroffene Maßnahme der vollen Erziehung zu verfügen und dem Jugendwohlfahrtsträger die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung zu übertragen. Cäcilia sei akut gefährdet, weil ihr der Vater nahegelegt habe, die elterliche Wohnung zu verlassen. Sie sei seit im Krisenzentrum untergebracht, und zwar gegen den Willen der Eltern.
Mit dem Beschluss des Erstgerichtes vom wurden
1. für die Zeit vom 4. bis die volle Erziehung angeordnet und die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung für diesen Zeitraum der MA 11, Amt für Jugend und Familie 6./7. Bezirk übertragen;
2. ab dem die vorläufige Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung von den Eltern auf die genannte Schwester der Minderjährigen übertragen;
3. der Antrag dieser Schwester, in eventu einer weiteren Schwester auf Übertragung der vorläufigen Obsorge auch für die Zeit vom 3. bis abgewiesen;
4. die mit den Beschlüssen des Jugendgerichtshofes Wien vom (ON 110), (ON 188), (ON 192) sowie (ON 370) den Eltern im Rahmen der Unterstützung der Erziehung erteilten Aufträge hinsichtlich Cäcilias vorläufig aufgehoben und
5. der vorläufig obsorgeberechtigten Schwester Anna aufgetragen, Cäcilia auch weiterhin, solange es der betreuende Psychotherapeut für nötig erachtet, der bestehenden pädagogisch-psychologischen Psychotherapie (Einzeltherapie) zuzuführen.
Das Erstgericht stellte ua fest, der Vater habe Cäcilia nach einem heftigen Streit am 1. oder nahegelegt, die elterliche Wohnung zu verlassen und ihr, nachdem sie am 3. 5. ihre Sachen gepackt hatte, erklärt, wenn sie einmal gegangen sei, brauche sie nicht mehr zu kommen. Die "Zwischenstation" im Krisenzentrum sei zum Wohl Cäcilias unbedingt erforderlich, weil die Wohn- und Lebensverhältnisse bei ihrer Schwester Anna geklärt werden müssten und ein gewisser "Zeitpuffer" vor der vorläufigen Übertragung der Pflege und Erziehung an diese Schwester eingeschaltet werden müsse. Deshalb sei der "Antrag" des Jugendwohlfahrtsträgers auf volle Erziehung für diesen kurzen Zeitraum "aufrecht zu erhalten".
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Eltern auf ersatzlose Behebung des P 1. des erstinstanzlichen Beschlusses nicht Folge.
Mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs beantragen die Eltern die ersatzlose Behebung des P 1. des erstinstanzlichen Beschlusses.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
Wenn im Bereich von Pflege und Erziehung Gefahr im Verzug besteht, kann der Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB als (gesetzlicher) Sachwalter die erforderlichen Maßnahmen vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen, wenn er unverzüglich, jedenfalls aber innerhalb von acht Tagen die erforderlichen gerichtlichen Verfügungen beantragt. Die zur Abwendung der Gefahr erforderliche Maßnahme konnte ua in der Heimunterbringung des Kindes, also in der vollen Erziehung nach § 28 JWG und dem entsprechenden Landesgesetz (hier § 34 WrJWG), bestehen. Die vom Jugendwohlfahrtsträger im Rahmen seiner Interimskompetenz ergriffene Maßnahme ist bis zur gerichtlichen Entscheidung wirksam. Sie bedarf keiner deckungsgleichen vorläufigen Maßnahme des Gerichtes nach § 176 ABGB. Das Gericht hat nur seine Erhebungen zügig durchzuführen und
dann eine endgültige Entscheidung zu treffen (1 Ob 550/91 = RZ
1992/7; 2 Ob 9/98g = EFSlg 87.117). Diese besteht hier in der
unangefochten gebliebenen Übertragung der vorläufigen Obsorge von den Eltern auf eine volljährige Schwester der Minderjährigen, womit die vorläufige Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers abgeändert wurde. Die im bekämpften P 1. des erstinstanzlichen Beschlusses für die Zeit vom
4. bis rückwirkend angeordnete "volle Erziehung" und Übertragung der Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung auf den Jugendwohlfahrtsträger steht im Gegensatz zu der zitierten oberstgerichtlichen Judikatur und entspricht nicht dem Gesetz. Dem Revisionsrekurs der Eltern ist daher stattzugeben.
Fundstelle(n):
SAAAD-68811