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OGH vom 23.02.1989, 7Ob3/89

OGH vom 23.02.1989, 7Ob3/89

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Flick als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Wurz, Dr. Warta, Dr. Egermann und Dr. Niederreiter als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Michael Ü***, Student, Innsbruck, Fischnalerstraße 30/13, vertreten durch Dr. Max Denk, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei I*** Internationale Unfall- und Schadenversicherungs-AG, Innsbruck, Rennweg 18, vertreten durch Dr. Heinz Bauer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 600.000 S sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom , GZ 4 R 159/88-16, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom , GZ 11 Cg 125/87-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit 17.587,80 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 2.931,30 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat bei der Beklagten eine Unfallversicherung abgeschlossen, der die allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB 1982) zugrundeliegen. Nach Art 3 I 2 wird für psychische und nervöse Störungen eine Leistung nur erbracht, wenn und soweit diese Störungen auf eine durch Unfall verursachte organische Erkrankung des Nervensystems oder auf eine Epilepsie zurückzuführen sind, die durch den Unfall erstmals entstanden ist. Gemäß Art 11 II der AUVB 1982 erfolgt die Leistung des Versicherers im Todesfall in Form der Kapitalzahlung. Das gleiche gilt im Falle der dauernden Invalidität. Wenn jedoch im Invaliditätsfall .... c.) die dauernde Invalidität in einer nervösen Erkrankung oder Geisteskrankheit besteht (siehe auch Art 3 I Punkt 2), tritt anstelle der Kapitalzahlung eine nach der beigedruckten Rententafel unter Zugrundelegung des vom Versicherten am Unfallstage vollendeten Lebensjahres zu bemessende Rente. Der Kläger erlitt bei einem Unfall am schwerste Verletzungen. Seither besteht beim Kläger eine dauernde Invalidität. Außer Streit steht, daß dem Kläger im Falle einer Kapitalzahlung 1,100.000 S zustehen würden. 500.000 S hat die Beklagte bezahlt, während sie bezüglich der restlichen 600.000 S, die der Kläger mit der vorliegenden Klage begehrt, unter Berufung auf Art 11 II c der AUVB 1982 eine Rente zahlen will.

Die Verletzungen des Klägers waren unter anderem auch hirnorganischer Art. Diese haben zu einem hirnorganischen Psychosyndrom geführt, das, für sich allein betrachtet, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 bis 15 % hervorgerufen hätte. Anhaltspunkte für eine durch den Unfall bewirkte Geisteskrankheit oder neurotische Störungen liegen nicht vor. Die gesamte Minderung der Erwerbsfähigkeit steht mit 80 % außer Streit.

Die Vorinstanzen haben dem Klagebegehren mit der Begründung stattgegeben, Art 11 II c der AUVB 1982 sei dahin auszulegen, daß der Versicherer eine Rente anstelle einer Kapitalzahlung nur dann leisten könne, wenn die Invalidität ausschließlich auf eine der im Art 3 I 2 AUVB 1982 angeführten organischen Erkrankungen des Nervensystems oder auf eine Epilepsie zurückzuführen sei. Sei jedoch, wie im vorliegenden Fall, die Invalidität auch durch organische Verletzungen bedingt, so komme dieses Wahlrecht nicht in Frage.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Beklagten gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision ist nicht gerechtfertigt.

Die Vorinstanzen haben unter Hinweis auf ein vom Erstgericht eingeholtes medizinisches Gutachten sowie weitere vorgelegte Gutachten dargelegt, daß der in Art 11 II c AUVB 1982 verwendete Begriff "nervöse Erkrankung oder Geisteskrankheit" nicht der medizinischen Terminologie entstammt und auch eine eindeutige Auslegung durch den Hinweis auf Art 3 I 2 AUVB 1982 nicht möglich ist. Immerhin ergibt aber der Hinweis auf die letztgenannte Bestimmung, daß das hirnorganische Psychosyndrom unter den Begriff der nervösen Erkrankung oder Geisteskrankheit eingeordnet werden kann. Dagegen ist der erstgenannten Bestimmung keinesfalls eindeutig zu entnehmen, ob das Wahlrecht des Versicherers nur dann gegeben ist, wenn die in Art 11 II c AUVB 1982 genannten Krankheiten die einzige Ursache für die Invalidität waren oder ob hier eine Mitverursachung durch derartige Erkrankungen ausreicht. Immerhin spricht die Wendung "die dauernde Invalidität in .... besteht" dafür, daß diese Erkrankungen schlechthin für sich die Invalidität bewirkt haben müssen. Der Oberste Gerichtshof hat sich mit dieser Frage bereits in der vom Erstgericht zitierten Entscheidung VersR 1984, 952 auseinandergesetzt. Allerdings kann diese Entscheidung zur Lösung der hier zu beurteilenden Rechtsfrage nur einen ersten Schritt bedeuten, weil dort feststand, daß andere als psychische Erkrankungen als Unfallsfolgen die Invalidität ebenfalls für sich allein bewirkt hätten. Dies steht im vorliegenden Fall nicht fest. Es wäre durchaus möglich (im Hinblick auf den relativ geringen Anteil der durch die psychische Erkrankung hervorgerufenen Unfallsfolgen allerdings nicht sehr wahrscheinlich), daß die dauernde Invalidität hier bei Wegfall der psychischen Erkrankungen nicht eingetreten wäre. Keinesfalls wurde aber bewiesen, daß diese psychischen Erkrankungen für sich allein die dauernde Invalidität bewirkt hätten. Es kann also nur davon ausgegangen werden, daß beide Arten von Erkrankungen zusammen zu der dauernden Invalidität in dem genannten Ausmaß geführt haben.

Rechtlich hat das Berufungsgricht die kontroversielle Auffassung betreffend die Auslegung allgemeiner Versicherungsbedingungen dargelegt (diesbezüglich wurde zutreffend auf die Entscheidung JBl. 1985, 287 verwiesen). Es ist zwar richtig, daß der Oberste Gerichtshof ab den Sechzigerjahren eine zeitlang der in der deutschen Lehre und Judikatur vertretenen Rechtsansicht, allgemeine Versicherungsbedingungen seien wie Gesetze auszulegen, bedingungslos gefolgt ist. Er hat sich jedoch in der Folge unter Berücksichtigung der kritischen Literatur von dieser Rechtsansicht deutlich distanziert, ohne sie jedoch eindeutig abzulehnen. Gerade der vorliegende Fall zeigt die Problematik der Auslegung allgemeiner Versicherungsbedingungen wie Gesetze, weil § 6 ABGB diesbezüglich auf die klare Absicht des Gesetzgebers verweist, ein solcher jedoch bei allgemeinen Versicherungsbedingungen, sieht man von Bedingungen ab, die im Verordnungsweg erlassen worden sind (AKB), nicht vorhanden ist, weshalb auch die gewöhnlich zur Erforschung des Willens des Gesetzgebers benützten Quellen, wie etwa Gesetzesmaterialien oder Beratungen in den gesetzgebenden Körperschaften, nicht zur Verfügung stehen. Dies wurde offenbar auch in der Bundesrepublik Deutschland, auf deren Praxis sich die erwähnte österreichische Judikatur stützt, erkannt, weshalb dort in den letzten Jahren eine erhebliche Einschränkung des Rechtssatzes, daß allgemeine Versicherungsbedingungen wie Gesetze auszulegen seien, erfolgte. Nach der nunmehr in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Praxis ist die Auslegung von Versicherungsbedingungen am Maßstab eines verständigen durchschnittlichen Versicherungsnehmers vorzunehmen (VersR 1983, 848, VersR 1982, 841), weshalb die Unklarheitsregeln des inzwischen eingeführten § 5 des Allgemeinen Geschäftsbedingungsgesetzes (AGBG) angewendet werden müssen, wenn die objektive Auslegung zu keinem Ergebnis führt (VersR 1980, 668; Prölls-Martin VVG24, 24 f). Eine derartige Auslegungsregel nähert sich aber weitgehend der Regelung der §§ 914 ff ABGB. Schließt man sich dieser Auffassung an, so wird tatsächlich, wie bereits mehrfach vom Obersten Gerichtshof ausgeführt worden ist, in praktisch allen Fällen der dogmatischen Frage, ob allgemeine Versicherungsbedingungen wie Gesetze oder wie Verträge auszulegen sind, keine entscheidende Bedeutung zukommen. Diesfalls müßten nämlich auf jeden Fall die nach objektivem Gesichtspunkt als unklar aufzufassenden allgemeinen Versicherungsbedingungen so ausgelegt werden, wie dies der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer verstehen mußte, wobei Unklarheiten zu Lasten des Versicherers gehen. Zu berücksichtigen wäre allerdings in allen Fällen der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der allgemeinen Geschäftsbedingungen (Prölls-Martin aaO).

Wendet man die aufgezeigten Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so ergibt sich, daß im Falle der dauernden Invalidität die Versicherungsleistung in Form einer Kapitalzahlung die Regel ist. Nur in ganz bestimmten Ausnahmsfällen steht es dem Versicherer frei, anstelle der Kapitalleistung eine Rentenzahlung zu erbringen. Es ist also Sache des Versicherers, diesen Ausnahmsfall zu beweisen. Ferner müssen durch die Formulierung der Versicherungsbedingungen entstandene Unklarheiten zum Nachteil des Versicherers ausgelegt werden. Die erwähnte Bestimmung des Art 11 II c AUVB 1982 läßt nun die Frage, ob das Wahlrecht des Versicherers nur dann eintritt, wenn die dort erwähnten Erkrankungen einzige Ursache für die Invalidität waren, oder ob schon eine Mitverursachung genügt, völlig im Unklaren. Dies führt aber dazu, daß im Hinblick auf den hiedurch hervorgerufenen Zweifel die ausnahmsweise Wahlmöglichkeit des Versicherers einschränkend, nämlich in dem für ihn ungünstigsten Sinn, auszulegen ist. Haben also nervöse Erkrankungen oder Geisteskrankheiten einerseits und andere Unfallsfolgen andererseits nur im Zusammenwirken die dauernde Invalidität bewirkt, so ist der erwähnte Ausnahmefall nicht gegeben, weshalb auch in solchen Fällen der Versicherer die für den Regelfall vorgesehene Kapitalzahlung zu leisten hat.

Ein einer solchen Auslegung entgegenstehender klarer Zweck kann den Versicherungsbedingungen nicht entnommen werden. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.