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OGH vom 08.09.2022, 3Ob80/22v

OGH vom 08.09.2022, 3Ob80/22v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Exekutionssache der betreibenden Partei S* SE, *, vertreten durch Cerha Hempel Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die verpflichtete Partei Staat Libyen, *, Libyen, vertreten durch Binder Grösswang Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 10 Mio EUR sA, über den Revisionsrekurs der verpflichteten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 47 R 6/22p-49, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom , GZ 68 E 14/21z-6, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Vollstreckbarerklärung werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Die Betreibende ist eine Holding-Gesellschaft mit Sitz in Österreich, die über deutsche Tochtergesellschaften zu 60 % an einem im Jahr 2007 gegründeten libyschen Unternehmen (Joint Venture A*) beteiligt ist. A* schloss in den Jahren 2006 und 2010 sechs Bau-Projektverträge mit drei libyschen Agenturen, denen nach libyschem Recht jeweils eigene Rechtspersönlichkeit zukommt. Im Februar 2011 kam es zum Ausbruch der Revolution in Libyen, in deren Folge A* Schäden aus der Verletzung der Projektverträge und Schäden an in ihrem Eigentum stehenden Sachen entstanden.

[2] Mit Schiedsspruch vom verurteilte das von der Betreibenden angerufene Schiedsgericht „Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID)“, eine Schiedsinstitution der Weltbankgruppe mit Sitz in Washington, den verpflichteten Staat aufgrund von Verletzungen des Abkommens zwischen der Republik Österreich und dem verpflichteten Staat als Rechtsnachfolger der Großen Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Dschamahirija über die Förderung und den Schutz von Investitionen (bilaterales Investitionsschutzabkommen, im Folgenden BIT), BGBl III 2003/127, zur Zahlung von (umgerechnet) 74.937.003,60 EUR samt näher angeführten Zinsen und Kosten an die Betreibende. Dieser Schiedsspruch ist unstrittig nach der „ICSID-Zusatzfazilität“ ergangen, weil Libyen der ICSID-Konvention nicht angehört.

[3] Die Betreibende stellte im vorliegenden Verfahren den Antrag auf Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs vom für Österreich sowie zur Hereinbringung einer (Teil-)Forderung von 10 Mio EUR sA die Bewilligung der Forderungsexekution nach § 294 EO.

[4] Soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung erklärte das Erstgericht den Schiedsspruch für Österreich für vollstreckbar.

[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Auf die Versagungsgründe nach Art V des Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (New Yorker Schiedsübereinkommen; im Folgenden NYÜ), BGBl 1961/200, könne sich die Verpflichtete nicht berufen, weil Libyen dieses Übereinkommen nicht ratifiziert habe. Zwischen Österreich und Libyen sei nur das BIT anzuwenden. Nach Art 15 Abs 2 BIT gebe es keine Versagungsgründe, die gegen die Vollstreckbarerklärung eingewendet werden könnten. Nach § 416 Abs 1 EO seien primär die in zwischenstaatlichen Vereinbarungen festgelegten Anerkennungs- und Versagungsgründe maßgebend. § 408 EO sei wegen der abschließenden Regelungen im BIT nicht anzuwenden. Auf die inhaltlichen Einwendungen gegen die im Schiedsspruch zuerkannten Ansprüche sei nicht einzugehen.

[6] Die Verpflichtete macht in ihrem Revisionsrekurs diverse Versagungsgründe nach dem NYÜ geltend, konkret das Überschreiten der Grenzen der Schiedsabrede (Art V Abs 1 lit c), die Verletzung der Angriffs- und Verteidigungsmittel wegen Nichtberücksichtigung der Gegenforderungen (Art V Abs 1 lit b) sowie die Verletzung des Ordre public (Art V Abs 2 lit b NYÜ) wegen Verletzung des Beratungs- und Amtsgeheimnisses und wegen Nichtbeachtung der Gegenforderungen.

[7] Mit ihrer – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Betreibende, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig; er ist im Sinn des subsidiär gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[9] 1. Entgegen der Ansicht der Betreibenden war der Rekurs der Verpflichteten nicht verspätet.

[10] Zur Rechtzeitigkeit des Rekurses hat sich das Rekursgericht vor allem auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 8 ObA 201/00t gestützt. Aus dieser Entscheidung ist abzuleiten, dass mangels eines anwendbaren internationalen oder bilateralen Zustellungsabkommens die Zustellungen an einen Staat in Angelegenheiten, die den acta iure gestionis zuzuordnen sind, an die nach dem innerstaatlichen Recht dieses Staates für dessen Vertretung (in der konkreten Rechtssache) zuständige Behörde zu erfolgen hat und es nicht genügt, dass das Schriftstück einer anderen Behörde zugekommen ist. Gegen diese Rechtsansicht vermag die Betreibende keine neuen Gesichtspunkte aufzuzeigen. Mit den von ihr vorgetragenen Argumenten hat sich bereits das Rekursgericht ausführlich auseinandergesetzt, dessen Beurteilung auf keine Bedenken stößt. Die Behauptung der Betreibenden, dass die nach den libyschen Zustellvorschriften vorgesehene Zustellung an das „Litigation Department“ bzw das „Department of Foreign Disputes“ nicht zwingend sei, ändert nichts an der unbestrittenen Vertretungsbefugnis dieser Stelle im Anlassfall.

[11] 2.1 Auf das zugrunde liegende Schiedsverfahren gelangte die ICSID-Zusatzfazilität zur Anwendung, die aus den Normen der ICSID-Additional Facility Rules (AFR) und der ICSID-Arbitration Additional Facility Rules (Arbitration AFR) besteht. Nach der ICSID-Zusatzfazilität können Investitionsstreitigkeiten auch dann abgehandelt werden, wenn eine der Vertragsparteien (Staat oder Angehöriger eines Staates) kein ICSID-Vertragsstaat bzw kein Angehöriger eines solchen Staates ist, oder wenn die Streitigkeit nicht unmittelbar eine Investition zwischen Verfahrensparteien betrifft, von denen zumindest eine ein ICSID-Vertragsstaat oder ein Angehöriger eines solchen Staates ist (Art 2 lit b AFR).

[12] Im Gegensatz zur ICSID-Konvention enthalten die Arbitration AFR keinen eigenen Anerkennungs- und Vollstreckungsmechanismus für die ICSID-Schiedssprüche. Vielmehr unterliegt die Anerkennung und Vollstreckung eines im Rahmen der Zusatzfazilität ergangenen Schiedsspruchs dem Recht des Schiedsorts (hier Washington) einschließlich aller anwendbaren völkerrechtlichen Verträge. Art 19 Arbitration AFR schreibt dazu vor, dass Schiedsverfahren nach diesen Regeln nur in Staaten durchgeführt werden dürfen, die Vertragsparteien des NYÜ sind. Dies bedeutet, dass Schiedssprüche nach der Zusatzfazilität dem Anerkennungs- und Vollstreckungsregime des NYÜ unterliegen (Kriebaum/Reinisch in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer, Handbuch Schiedsrecht Rz 36.161; Dolzer/Schreuer, Principles of International Investment Law2 310; Schreuer, ICSID-Konvention2 Art 54 Rz 13; Quinke in Wolff, New York Convention2 Art VII Rz 93).

[13] 2.2 Die Ansicht des Rekursgerichts, dass sich der verpflichtete Staat nicht auf die Versagungsgründe nach Art V NYÜ berufen könne, erweist sich damit als unrichtig. Tatsächlich sind die vom verpflichteten Staat ins Treffen geführten Versagungsgründe im Rahmen des Vollstreckbarerklärungsverfahrens zu prüfen.

[14] 2.3 Art V NYÜ regelt taxativ, aus welchen Gründen die Anerkennung und Vollstreckung eines Schiedsspruchs nach diesem Übereinkommen versagt werden darf. Diese Bestimmung unterscheidet zwischen Gründen, die vom Verpflichteten geltend gemacht und nachgewiesen werden müssen (Abs 1), und solchen, die von Amts wegen zu beachten sind (Abs 2). Die Prüfung der Versagungsgründe kann – ausschließlich zu diesem Zweck – auch eine Nachprüfung der zu vollstreckenden Entscheidung erforderlich machen. Dies darf aber nicht auf eine rechtsmittelähnliche Überprüfung des ausländischen Titels in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht hinauslaufen. Das Gericht des Vollstreckungsstaats hat nicht etwa zu beurteilen, wie der Streitfall richtig zu entscheiden gewesen wäre (vgl RS0002409 [T4]; 3 Ob 153/18y; 3 Ob 190/21v). Zur Darlegung der Versagungsgründe kann der Verpflichtete in seinem Rekurs auch neue, bisher nicht aktenkundige Tatsachen geltend machen und dazu auch Beweise anbieten (siehe zur vergleichbaren Fragestellung nach der EuGVVO 3 Ob 64/09x).

[15] 3.1 Der verpflichtete Staat stützt sich in erster Linie auf den Versagungsgrund der Überschreitung der Grenzen der Schiedsabrede durch den Schiedsspruch (Art V Abs 1 lit c NYÜ). Er macht damit die Überschreitung der Kompetenz des Schiedsgerichts geltend und beruft sich in dieser Hinsicht darauf, dass die Betreibende nicht die (unmittelbar) Geschädigte aus den behaupteten Vorgängen in Libyen sei, weshalb keine Investition der Betreibenden vorliege, sowie dass die Verpflichtungen aus dem Schiedsspruch den verpflichteten Staat (als Gaststaat) selbst treffen müssten.

[16] 3.2 Gemäß Art V Abs 1 lit c NYÜ ist die Anerkennung bzw Vollstreckbarerklärung zu versagen, wenn der Schiedsspruch eine Streitigkeit oder über Ansprüche entscheidet, die nicht von der dem Schiedsspruch zugrunde liegenden Schiedsvereinbarung erfasst werden (Koller in Angst/Oberhammer, EO3 Vor § 79 EO Rz 628; Wong in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer, Handbuch Schiedsrecht Rz 19.87). Bei der Prüfung dieses Versagungsgrundes hat das Gericht im Vollstreckungsstaat die Kognitionsbefugnis des Schiedsgerichts selbständig zu überprüfen, und zwar auch dann, wenn das Schiedsgericht seine Zuständigkeit ausdrücklich bejaht haben sollte; eine Bindung besteht insoweit nicht (Czernich, New Yorker Übereinkommen Art V Rz 27; vgl auch 3 Ob 221/04b). Das NYÜ enthält auch nicht etwa eine Regelung zur Begründung der Zuständigkeit des Schiedsgerichts durch rügelose Verfahrenseinlassung (Czernich, New Yorker Übereinkommen Art V Rz 11).

[17] 3.3 Die Zulässigkeit der Anrufung des ICSID resultiert im Anlassfall aus Art 11 und 12 BIT. Nach Art 11 Abs 2 lit c ii) kann die Investitionsstreitigkeit vom ICSID gemäß den Regeln der AFR entschieden werden, wenn nur eine Verfahrenspartei ein ICSID-Vertragsstaat oder Angehöriger eines solchen Staates ist. Nach Art 12 BIT erklärt jede Vertragspartei ihre uneingeschränkte Zustimmung, eine Streitigkeit einem internationalen Schiedsverfahren nach Art 11 BIT zu unterwerfen. Art 3 AFR sieht dazu vor, dass eine Vereinbarung über ein Schiedsverfahren nach den Regeln der Zusatzfazilität vom Generalsekretär des ICSID genehmigt werden muss, bevor das Verfahren beginnen kann.

[18] Es stellt sich damit die Frage, ob die Streitteile als Parteien des Schiedsverfahrens eine gesonderte Schiedsvereinbarung mit Regelungen zu den von dieser erfassten Streitigkeiten und Ansprüchen geschlossen oder ob sie nur die Zustimmung zum Schiedsverfahren im Sinn des Art 12 BIT gegenüber dem Generalsekretär des ICSID erklärt haben. Dazu wurden von den Vorinstanzen keine Feststellungen getroffen. Eine abschließende Beurteilung der Überschreitung der Entscheidungsbefugnis durch das ICSID ist daher schon aus diesem Grund nicht möglich, weshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben werden müssen.

[19] 3.4 Soweit es für die Beurteilung der Kognitionsbefugnis des ICSID – mangels einer gesonderten Schiedsvereinbarung – nur auf die Regelungen im BIT ankommen sollte, gilt Folgendes:

[20] 3.4.1 Zunächst stellt sich die Frage, ob eine Investition der Betreibenden vorliegt. Da weder die ICSID-Konvention noch die ICSID-Zusatzfazilität eine eigene Definition zum Investitionsbegriff enthalten, ist auf das BIT als materielle Grundlage der gegenständlichen investitionsgeschützen Ansprüche zurückzugreifen (vgl ICSID vom Enron vs Argentina Rn 42 bis 57; Kardassopoulos vs Georgia Rn 116). Art 1 Abs 2 BIT enthält ein weites Verständnis zum Investitionsbegriff und bezieht in diesen alle Vermögenswerte ein, die direkt oder indirekt im Eigentum oder unter Kontrolle eines Investors stehen. Ausdrücklich genannt sind nicht nur etwa Anteilsrechte und andere Arten von Beteiligungen, sondern auch durch Vertrag übertragene Rechte einschließlich Bauverträge, Ansprüche auf vertraglich vereinbarte Leistungen und jedes Eigentum an körperlichen und unkörperlichen, beweglichen und unbeweglichen Vermögenswerten (vgl RV 37 BlgNR 22. GP 3; vgl auch Kläger, Einführung in das internationale Enteignungs- und Investitionsrecht, JuS 2008, 973). Auch nach der Spruchpraxis des ICSID werden mittelbare Beteiligungen über Zwischengesellschaften als Investition angesehen (vgl ICSID Enron vs Argentina Rn 56; Kardassopoulos vs Georgia Rn 121 bis 124; vgl auch Happ, Aktuelle Rechtsprechung der ICSID-Schiedsgerichte, SchiedsVZ 2005, 21 [27] mwN; Schäfer, Einführung in das internationale Investitionsschutzrecht, JuS 2016, 795 [798]; Schreuer, ICSID-Konvention2 Art 25 Rz 150).

[21] Vermögenswerte und Bauverträge, die bei der A* zum Unternehmenswert beitragen, gehören demnach zu den mittelbaren Investitionen der Betreibenden nach dem BIT. Wie bereits ausgeführt, können nach der Zusatzfazilität auch mittelbare Investitionen abgehandelt werden.

[22] 3.4.2 Im Weiteren stellt sich die Frage, ob nach dem BIT die Verpflichtungen aus dem Schiedsspruch den verpflichteten Staat (als Gaststaat) selbst treffen müssen. In dieser Hinsicht ist zwischen Ansprüchen für Schäden bei einem (bewaffneten) Konflikt (Art 5 BIT) und für Schäden aus der Verletzung vertraglicher Verpflichtungen wegen Nichteinhaltung der Schirmklausel (Art 8 BIT) zu unterscheiden.

[23] Art 5 Abs 1 BIT erkennt den ausländischen Investoren Entschädigungsansprüche für den Fall zu, dass sie im Verlauf eines (bewaffneten) Konfliktereignisses (Krieg, bewaffneter Konflikt, Revolution, nationaler Notstand, Revolte oder Aufruhr) Schäden an ihrem Eigentum erleiden (vgl ICSID CMS vs Argentina Rn 401). Die Entschädigung hängt inhaltlich – nach den Prinzipien der Nichtdiskriminierung und der Meistbegünstigung – von den konkreten Schutzmaßnahmen ab, die der Gaststaat auch sonst seinen Investoren gewährt. Wenn solche Schäden speziell durch die Beschlagnahme oder Zerstörung von Eigentum durch die staatlichen Streitkräfte (Regierungstruppen) oder Behörden erfolgen, so gebührt dem Investor zumindest eine angemessene Entschädigung (erweiterte Kriegsklausel nach Art 5 Abs 2 BIT; vgl Schreuer, The Protection of Investments in Armed Conflicts 10 f). Derartige Schadenszufügungen fallen in die Verantwortung des Gaststaats und sind daher diesem zuzurechnen. Soweit sich der zugrunde liegende Schiedsspruch auf derartige Entschädigungsansprüche bezieht, war die Zuständigkeit des ICSID gegeben, weshalb der vom verpflichteten Staat angezogene Versagungsgrund nicht vorliegt.

[24] Für Schäden aus der Verletzung vertraglicher Verpflichtungen enthält Art 8 Abs 1 BIT eine Schirmklausel. Danach hält jede Vertragspartei jede Verpflichtung ein, die sie hinsichtlich spezieller Investitionen durch Investoren der anderen Vertragspartei eingegangen ist. Daraus folgt unter anderem die völkerrechtliche Verpflichtung des Gaststaats, die gegenüber Investoren eingegangenen vertraglichen Bindungen einzuhalten. Aufgrund der weiten Formulierung wird damit grundsätzlich jede Verletzung eines Investitionsvertrags zwischen einem privaten Investor und dem Gaststaat gleichzeitig zu einer Verletzung der Schirmklausel (vgl Kriebaum/Reinisch in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer, Schiedsrecht Rz 36.103; Gramlich/Conen, Streitbeilegung bei Auslandsinvestitionen – Guter Rechtsschutz für private Investoren, SchiedsVZ 2015, 225 [231]; von Walter, Die Reichweite von Schirmklauseln in Investitionsschutzabkommen, RIW 2006, 815 [818]; Adler/Grill, Investitionsschutz in der Bauwirtschaft – Anspruchsdurchsetzung vor internationalen Schiedsgerichten, in Berlakovits/Hussian/Kletečka, FS Karasek [2018] 1 [18]). Das BIT stellt in dieser Hinsicht darauf ab, dass eine Investitionsstreitigkeit zwischen einem Investor und dem Gaststaat besteht (vgl etwa Art 11). In Bezug auf die Verletzung einer Schirmklausel bedeutet dies, dass die zugrunde liegende Vertragsverletzung dem Gaststaat zurechenbar sein muss. Nach der Spruchpraxis des ICSID ist dies selbst bei Verträgen mit staatsnahen Einrichtungen grundsätzlich nicht anzunehmen, wenn es sich bei der rechtsverletzenden Vertragspartei um eine autonome juristische Person handelt. Eine Zurechenbarkeit zum Gaststaat ist aber dann gegeben, wenn der Rechtsträger (zB Unternehmer) effektiv unter der Kontrolle des Gaststaats gehandelt hat oder die vertragsverletzende Handlung von einer staatlichen Behörde genehmigt wurde (vgl Kriebaum/Reinisch in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer, Schiedsrecht Rz 36.103; Adler/Grill, Investitionsschutz in der Bauwirtschaft – Anspruchsdurchsetzung vor internationalen Schiedsgerichten, in Berlakovits/Hussian/Kletečka, FS Karasek [2018] 1 [22]). Im Anlassfall kommt den libyschen Agenturen nach libyschem Recht eigene Rechtspersönlichkeit zu. Für eine staatliche Kontrolle oder Genehmigung ihrer Handlungen bestehen bisher keine Anhaltspunkte. Sollten die Vertragsverletzungen dem verpflichteten Staat nach den dargelegten Grundsätzen nicht zurechenbar sein, so hätte das Schiedsgericht ausgehend von Art 8 BIT seine Kognitionsbefugnis überschritten.

[25] 3.5 Die Gerichtsstandsvereinbarungen in den Projektverträgen zwischen der A* und den libyschen Agenturen beziehen sich nur auf Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien aus diesen Verträgen und nicht auch auf damit lediglich im Zusammenhang stehende Streitigkeiten anderer Rechtssubjekte, in denen auf anderer Grundlage spezielle investitionsgeschützte Ansprüche geltend gemacht werden. Ihre Nichtbeachtung führt daher nicht zur Überschreitung der Kognitionsbefugnis durch das ICSID in Bezug auf die von der Betreibenden geltend gemachten Ansprüche wegen Verletzung der Schirmklausel (vgl ICSID CMS vs Argentina; Azurix vs Argentina).

[26] 4.1 Die übrigen vom verpflichteten Staat ins Treffen geführten Versagungsgründe liegen nicht vor.

[27] 4.2 Gemäß Art V Abs 1 lit b NYÜ ist die Vollstreckbarerklärung zu versagen, wenn die Partei, gegen die der Schiedsspruch geltend gemacht wird, nachweist, dass sie ihre Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht geltend machen konnte. Nach der Rechtsprechung zu dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs ist maßgebend, ob sich das Schiedsgericht mit dem Vorbringen der Parteien auseinandergesetzt hat (vgl RS0002409 [T6]; 3 Ob 153/18y; 3 Ob 190/21v). Von einer solchen Rechtsverletzung kann im Zusammenhang mit der Nichtberücksichtigung der von den libyschen Agenturen geltend gemachten Gegenforderungen keine Rede sein, weil sich das Schiedsgericht mit diesen Einwendungen, insbesondere den Anzahlungen der libyschen Agenturen auseinandergesetzt und seine Entscheidung zur Nichtberücksichtigung dieser Gegenforderungen konkret begründet hat.

[28] 4.3 Auch nach Maßgabe des Ordre public (Art V Abs 2 lit b NYÜ) ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs in einem Schiedsverfahren nicht schon dadurch gegeben, dass es das Schiedsgericht – nach Anhörung der Parteien und Auseinandersetzung mit ihrem Vorbringen – ablehnt, sich mit einer Aufrechnungseinwendung auseinanderzusetzen, zumal auch nach österreichischem Recht die Möglichkeit einer prozessualen Geltendmachung einer Gegenforderung nicht uneingeschränkt besteht (vgl 3 Ob 84/01a; 3 Ob 153/18y; vgl auch Lovrek/Musger in Czernich/Deixler-Hübner/Schauer, Schiedsrecht Rz 16.62).

[29] 4.4 Schließlich wird nach dem österreichischen Ordre public eine „Dissenting Opinion“ und auch deren Kundgabe durch das Schiedsgericht mangels eines gesetzlichen Verbots grundsätzlich als zulässig angesehen (vgl 3 Ob 211/05h; 3 Ob 154/10h; Gasser/Konzett/Motal in Nueber, Handbuch Schiedsgerichtsbarkeit und ADR Rz 148 f; vgl auch Schuhmacher, Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis, in Liebscher/Oberhammer/ Rechberger, Schiedsverfahrensrecht Rz 10/156; vgl für die deutsche Literatur Münch in MünchKomm ZPO6 § 1059 Rn 55; Schroeder, Beratungsgeheimnis v. Dissenting Opinion, RIW 2021, Heft 12, I). Auch in diesem Zusammenhang liegt der vom verpflichteten Staat angezogene Versagungsgrund nach Art V Abs 2 lit b NYÜ nicht vor.

[30] 5. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Frage, ob das ICSID die Grenzen seiner Kognitionsbefugnis überschritten hat und daher der Versagungsgrund des Art V Abs 1 lit c NYÜ verwirklicht ist, noch nicht abschließend beurteilt werden kann, weil bisher nicht geklärt wurde, ob die Parteien des Schiedsverfahrens eine gesonderte Schiedsvereinbarung abgeschlossen haben. Außerdem bezieht sich der Schiedsspruch (und ebenso der sich nur auf einen Teilbetrag beziehende Exekutionsantrag) sowohl auf Ansprüche aus der behaupteten Beschlagnahme von Fahrzeugen und sonstigen beweglichen Sachen der A* (Art 5 Abs 2 BIT) als auch auf Ansprüche aus der Verletzung der Schirmklausel nach Art 8 Abs 1 BIT im Zusammenhang mit der Verletzung der zwischen der A* und den libyschen Agenturen abgeschlossenen Projektverträge. Die Vorinstanzen haben zwischen diesen Ansprüchen nicht unterschieden, was aber erforderlich ist, wenn es hinsichtlich der Verletzung der Schirmklausel auf die Zurechnung des vertragsverletzenden Verhaltens an den verpflichteten Staat als Gaststaat ankommt. Im fortgesetzten Verfahren werden diese Fragen mit den Parteien zu erörtern und dazu ergänzende Feststellungen zu treffen sein. Dementsprechend waren die Entscheidungen der Vorinstanzen in Stattgebung des Revisionsrekurses aufzuheben.

[31] Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 78 EO iVm § 52 Abs 1 ZPO.

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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2022:0030OB00080.22V.0908.000

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