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OGH vom 26.04.2018, 6Ob74/18b

OGH vom 26.04.2018, 6Ob74/18b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden, durch die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder E***** R*****, geboren am *****, und A***** R*****, geboren am *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragstellerin C***** L*****, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom , GZ 21 R 327/17p-35, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Text

Begründung:

Der gewöhnliche Aufenthalt der beiden 2002 und 2004 geborenen Kinder war ursprünglich in Spanien. Ihre Eltern ließen sich im November 2013 in Spanien scheiden; das spanische Gericht legte die gemeinsame Obsorge der Eltern mit gleichteiligem Aufenthalt fest und sprach ein Ausreiseverbot für die beiden Kinder ohne gerichtliche Genehmigung aus. Noch im selben Monat reiste die Mutter ohne Zustimmung des Vaters oder des Gerichts mit den Kindern nach Österreich; hier leben sie seither. Am bestätigte das spanische Rechtsmittelgericht die gemeinsame Obsorge und das Ausreiseverbot der Kinder, legte jedoch eine ausschließliche Aufsichtspflicht zugunsten des Vaters fest.

Im Jänner 2014 beantragte der Vater in Österreich die Rückführung der Kinder nach Spanien; das Rekursgericht ordnete im Oktober 2014 die sofortige Rückführung der Kinder nach Spanien an; der dagegen von der Mutter erhobene außerordentliche Revisionsrekurs wurde vom erkennenden Senat am zurückgewiesen (6 Ob 217/14a).

Im Juli 2015 wurde versucht, die Rückführung zu vollziehen, allerdings widersetzten sich dem die Kinder. Mit Beschluss vom hob das Bezirksgericht Wels die dem Vollzugsauftrag vom zuerkannte sofortige Vollstreckbarkeit auf und wies den Antrag des Vaters auf neuerlichen Vollzug der Rückführungsanordnung ab. Der Rekurs und der Revisionsrekurs des Vaters blieben erfolglos. Der erkennende Senat führte aus, eine zwangsweise Rückführung würde zur Traumatisierung der Kinder führen. Wenn die Vorinstanzen bei dieser Sachlage die Rückführung der Kinder gemäß Art 13 Abs 1 lit b HKÜ abgelehnt hätten, hätten sie den ihnen zukommenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten (, 6 Ob 218/15z).

Über einen weiteren Antrag des Vaters auf Vollstreckung der Rückführungsentscheidung wurde noch nicht entschieden. Die Kinder möchten in Österreich bleiben, haben sich hier eingelebt und hatten seit Juli 2015 keinen Kontakt zum Vater.

Im nunmehrigen Verfahren beantragte die Mutter im November 2016 beim Erstgericht die Übertragung der Obsorge für beide Kinder an sie. Sie lebe seit drei Jahren mit den Kindern in Österreich und habe diese allein betreut, während sich der Vater in Spanien aus dem Leben der Kinder zurückgezogen habe.

Das Erstgericht sprach aus, für den Obsorgeantrag der Mutter international unzuständig zu sein: Zwar hätten die Kinder iSd Art 10 Brüssel IIa-VO in Österreich ihren gewöhnlichen Aufenthalt und sich hier eingelebt, allerdings fehle es am Vorliegen einer der Bedingungen des Art 10 lit b) Z i) bis iv) Brüssel IIa-VO.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung. Bei der Entscheidung des spanischen Rechtsmittelgerichts vom handle es sich nicht um eine solche nach Art 11 Abs 8 Brüssel IIa-VO; diese Bestimmung würde nur solche Entscheidungen privilegieren, die später als die Entscheidung im Herausgabeverfahren nach dem HKÜ ergingen, was hier nicht der Fall sei. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu.

In ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs macht die Mutter geltend, die spanische Rechtsmittelentscheidung vom enthalte keine Rückgabeanordnung, auch wenn in der Bescheinigung nach Art 39 Brüssel IIa-VO die Rückgabe angeordnet werde; eine Bescheinigung nach Art 42 Brüssel IIa-VO sei nicht ausgestellt worden. Das Sorgerechtsverfahren in Spanien sei deshalb nach Art 11 Abs 7 Brüssel IIa-VO abgeschlossen worden und die Bedingung des Art 10 lit b) Z iii) Brüssel IIaVO erfüllt, sodass die internationale Zuständigkeit auf die österreichischen Gerichte übergegangen sei. Vertrete man die Ansicht, das spanische Verfahren sei nicht nach Art 11 Abs 7 Brüssel IIa-VO abgeschlossen worden, ergebe sich der Zuständigkeitswechsel aus Art 10 lit b) Z iv) Brüssel IIa-VO, weil die spanische Rechtsmittelentscheidung die Rückgabe nicht anordne. Selbst wenn man annehmen wollte, die Rückgabe würde darin angeordnet, könne ein Zuständigkeitswechsel nicht für alle Zeiten blockiert sein; deshalb müsse die Zuständigkeit übergehen, wenn innerhalb von 12 Monaten ab Vollstreckbarkeit der Rückführungsentscheidung deren Vollstreckung nicht gelinge. Dies habe das Rekursgericht nicht erkannt; es stelle eine erhebliche Rechtsfrage dar, weil die Rechtsprechung bislang nicht geklärt habe, ob bei dauerhaftem Auseinanderfallen von Aufenthalt und Zuständigkeit die Zuständigkeitssperre des Art 10 Brüssel IIaVO dauerhaft greife.

Rechtliche Beurteilung

Die Mutter hat jedoch keine erhebliche Rechtsfrage aufgeworfen:

1.1. Art 10 Brüssel IIa-VO lautet:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a) jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b) das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen

i) Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

ii) ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

iii) ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

iv) von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.“

1.2. Art 11 Abs 6 und 7 Brüssel IIa-VO lauten:

„(6) Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und

(7) Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.“

2. Die Kinder wurden im November 2013 von der Mutter widerrechtlich, nämlich ohne Zustimmung des obsorgeberechtigten Vaters, von Spanien nach Österreich gebracht, die Kinder haben seither ihren Aufenthalt in Österreich und sich hier eingelebt.

Art 10 lit a Brüssel IIa-VO ist nicht erfüllt.

Ein Zuständigkeitsübergang von den spanischen auf die österreichischen Gerichte könnte somit nur dann erfolgt sein, wenn eine der weiteren Bedingungen des Art 10 lit b Z i) bis iv) Brüssel IIa-VO erfüllt wäre, was jedoch nicht der Fall ist:

Die Bedingung der Z i)ist nicht erfüllt, weil im Jänner 2014, somit innerhalb eines Jahres seit November 2013, der Vater bei den österreichischen Gerichten einen Rückführungsantrag gestellt hat.

Die Bedingung der Z ii)ist nicht erfüllt, weil der Vater diesen Antrag nicht zurückgezogen hat.

Auch die Bedingung nach Z iii) ist nicht erfüllt:Das Obsorgeverfahren vor den spanischen Gerichten wurde am durch die Rechtsmittelentscheidung abgeschlossen. Die Entscheidung der österreichischen Gerichte, die Rückführung nach Art 13 HKÜ zu verweigern, erfolgte erst im August 2015, die spanischen Gerichte waren schon zuvor von den Parteien befasst worden. Somit wurde das spanische Obsorgeverfahren jedenfalls nicht, wie von der Mutter behauptet, nach Art 11 Abs 7 Brüssel IIa-VO abgeschlossen.

Schließlich ist auch Z iv) nicht erfüllt: Die spanischen Gerichte haben durch die Rechtsmittelentscheidung vom eine Sorgerechtsentscheidung erlassen. Darin wurde eine ausschließliche Aufsichtspflicht zugunsten des Vaters festgelegt und das Ausreiseverbot betreffend die Kinder bestätigt.

Im Fall der Entscheidung 6 Ob 110/17w lag eine ähnliche Konstellation vor: Die Mutter hatte ihr Kind aus Frankreich nach Österreich entführt. Die französischen Gerichte sprachen dem Vater die alleinige Obsorge zu. Der erkennende Senat führte aus, der Entscheidung des französischen Berufungsgerichts lasse sich der eindeutige Entscheidungswille entnehmen, dass dem Vater nicht bloß das elterliche Sorgerecht zukommen, sondern das Kind auch bei seinem Vater in Frankreich Aufenthalt nehmen soll. Deshalb liege die internationale Zuständigkeit weiterhin bei den französischen Gerichten.

Diese Konstellation liegt auch hier vor, weil die spanische Entscheidung sowohl die ausschließliche Aufsichtspflicht des (in Spanien lebenden) Vaters festlegt (vergleichbar dem überwiegenden Aufenthalt), als auch das Verbot der Ausreise der Kinder aus Spanien ohne Zustimmung des Gerichts bestätigt. Daher lässt sich der Entscheidung der eindeutige Entscheidungswille entnehmen, dass die Kinder bei ihrem Vater in Spanien Aufenthalt nehmen sollen.

3. Die angefochtene Rekursentscheidung entspricht der zitierten oberstgerichtlichen Rechtsprechung.

4. Die dargestellte Rechtslage ergibt sich eindeutig aus den zitierten Bestimmungen der Brüssel IIa-VO, weshalb ein Vorabentscheidungsersuchen vor dem EuGH nicht angezeigt ist.

5. Das Bezirksgericht Wels wird aber aufgrund seines (rechtskräftigen) Beschlusses vom , 2 PS 49/14d-136, das Verfahren nach Art 11 Abs 6 Brüssel IIa-VO durchführen müssen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2018:0060OB00074.18B.0426.000

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Fundstelle(n):
UAAAD-67500