OGH vom 23.04.2008, 7Ob26/08m
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. Erhard E*****, vertreten durch Salpius Rechtsanwalts GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Mag. Martin Paar, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung der Versicherungsdeckung, Feststellung der Unwirksamkeit einer Klausel und Zahlung von 833,33 EUR, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 1 R 100/07t-14, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom , GZ 6 Cg 114/06b-8, infolge Berufung der klagenden Partei teilweise bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art 234 EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 4 (1) der Richtlinie 87/344/EWG des Rates zur Koordination der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung vom dahin auszulegen, dass ihm eine in Allgemeinen Versicherungsbedingungen eines Rechtsschutzversicherers enthaltene Klausel, die den Versicherer in Versicherungsfällen, in denen eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern durch dasselbe Ereignis (etwa die Insolvenz eines Wertpapierdienstleistungsunternehmens) geschädigt wird, zur Auswahl eines Rechtsvertreters berechtigt und damit das Recht des einzelnen Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl beschränkt (sogenannte „Massenschadenklausel"), widerspricht?
2. Im Fall der Verneinung von Frage 1.:
Unter welchen Voraussetzungen liegt ein „Massenschaden" vor, der es im Sinn (beziehungsweise in Ergänzung) der genannten Richtlinie gestattet, dem Versicherer anstelle des Versicherungsnehmers das Recht der Auswahl des rechtsfreundlichen Vertreters einzuräumen?
II. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Text
Begründung:
1.) Sachverhalt:
Der in Salzburg wohnhafte Kläger ist bei der Beklagten, einem österreichischen Versicherungsunternehmen, rechtsschutzversichert. Dem Versicherungsvertrag liegen die „Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung" (ARB 1995) zugrunde. Deren Art 6.7.3. lautet:
„Genießen mehrere Versicherungsnehmer zur Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen Versicherungsschutz aus einem oder mehreren Versicherungsverträgen und sind ihre Interessen aufgrund der gleichen oder einer gleichartigen Ursache gegen den/dieselben Gegner gerichtet, ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung vorerst auf die außergerichtliche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Versicherungsnehmer und die Führung notwendiger Musterprozesse durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter zu beschränken.
Wenn oder sobald die Versicherungsnehmer durch diese Maßnahmen nicht ausreichend gegen einen Verlust ihrer Ansprüche, insbesondere durch drohende Verjährung, geschützt sind, übernimmt der Versicherer darüber hinaus die Kosten für Gemeinschaftsklagen oder sonstige gemeinschaftliche Formen außergerichtlicher und gerichtlicher Interessenswahrnehmungen durch von ihm ausgewählte Rechtsvertreter."
Der Kläger hatte bei zwei Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Kurzbezeichnung „A*****") Geld veranlagt. Infolge Insolvenz beider Unternehmen wurde er - wie viele andere Anleger auch - geschädigt. Er beauftragte die an seinem Wohnort ansässige Salpius Rechtsanwalts GmbH mit seiner rechtsfreundlichen Vertretung. Seine Anwälte vertraten und vertreten seine Interessen unter anderem in den über das Vermögen der insolventen A*****-Unternehmen eröffneten Konkursverfahren und in einem gegen die Organe dieser Unternehmen geführten Strafverfahren.
Ein am schriftlich gestelltes Ersuchen des Klägers, für das erfolgte und künftige Einschreiten seiner Anwälte Rechtsschutzdeckung zuzusagen, wurde von der Beklagten abgelehnt.
2.) Anträge und Vorbringen der Parteien:
Der Kläger begehrte (soweit für das Vorabentscheidungsverfahren wesentlich) die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für die Kosten des gerichtlichen und außergerichtlichen Einschreitens seiner Anwälte in den bereits anhängigen und weiteren Verfahren gegen diverse Schädiger, darunter auch die Republik Österreich, der er Versäumnisse der Finanzmarktaufsicht vorwirft. Weiters begehrte er die Feststellung, dass die Bestimmung des Art 6.7.3. der ARB 1995 unwirksam und nicht Bestandteil des zwischen den Streitteilen geschlossenen Rechtsschutzversicherungsvertrags sei. Art 6.7.3. der ARB 1995 schränke das im Art 4 der Richtlinie 87/344/EWG (Rechtsschutzversicherungsrichtlinie) postulierte und durch § 158k Versicherungsgesetz (VersVG) in Österreich umgesetzte Recht des Versicherungsnehmers auf freie Anwaltswahl unzulässig ein und sei daher unbeachtlich.
Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Der Fall A***** sei ein klassischer Massenschadensfall, wenngleich die Höhe des Schadens der einzelnen Anleger unterschiedlich sei. Massenschäden seien bei Einführung der Richtlinie 87/344/EWG vom und des die Richtlinie umsetzenden § 158k des VersVG größtenteils unbekannt gewesen, nicht bedacht und nicht mitgeregelt worden. Art 6.7.3. der ARB 1995 verstoße daher nicht gegen die Richtlinie und § 158k VersVG, zumal die beanstandete Klausel wegen der Kosteneinsparung im Interesse der Versicherungsnehmer geboten sei und den Versicherungsnehmern Vorteile bringe.
3.) Bisheriges Verfahren:
Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Die in Art 6.7.3. der ARB 1995 getroffene Regelung stehe nicht im Widerspruch zu § 158k VersVG, sondern sei vielmehr im Hinblick auf die Lösung von „Kumulfällen" ergänzend zu dieser Rechtsnorm zu sehen. Das unbedingte Festhalten am Prinzip der freien Anwaltswahl könne in „Kumulfällen" in das Gegenteil des eigentlichen Zwecks umschlagen, weil der Versicherungsnehmer aufgrund der zusätzlichen Kosten der freien Anwaltswahl und der damit verbundenen Führung von Einzelprozessen, die seitens des Versicherers nicht getragen werden könnten, keine Deckung bekomme. Das Risiko des Rechtsschutzversicherers, seine Kosten dieser „Kumulfälle" gedeckt zu halten, könne nur bei Einsatz solcher Massenschadenklauseln gewährleistet werden.
Das Gericht zweiter Instanz teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts und bestätigte daher dessen Entscheidung hinsichtlich beider Feststellungsbegehren. Eine Einschränkung der freien Anwaltswahl durch eine „Massenschadenklausel" wie Art 6.7.3. der ARB 1995 erscheine richtlinienkonform. Ziel der Richtlinie sei nicht die Verwirklichung der freien Anwaltswahl, sondern die Ausschließung von Interessenkollisionen zwischen Versicherten und Mehrspartenversicherern. Die freie Anwaltswahl sei nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zum Erreichen dieses Zwecks der Richtlinie. Eine unterschiedliche Handhabung von Individualschäden und Massenschäden sei sachgerecht und auch im Interesse der Versicherungsnehmer geboten.
4.) Gemeinschaftsrecht:
Art 4 der Richtlinie 87/333/EWG des Rates vom zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtsschutzversicherung, deren Auslegung Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist, lautet:
„(1) In jedem Rechtsschutz-Versicherungsvertrag ist ausdrücklich anzuerkennen, dass
a) wenn ein Rechtsanwalt oder eine sonstige nach dem nationalen Recht entsprechend qualifizierte Person in Anspruch genommen wird, um in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren den Versicherer zu verteidigen, zu vertreten oder seine Interessen wahrzunehmen, dem Versicherten die Wahl des Rechtsanwalts oder der sonstigen Person freisteht;
b) der Versicherte einen Rechtsanwalt oder, wenn er es vorzieht, und soweit das nationale Recht dies zulässt, eine andere entsprechend qualifizierte Person frei wählen kann, die seine Interessen vertritt, wenn eine Interessenkollision entsteht.
(2) Unter Rechtsanwalt ist jede Person zu verstehen, die ihre beruflichen Tätigkeiten unter einer der Bezeichnungen gemäß der Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (1) auszuüben berechtigt ist."
Art 5 der Richtlinie 87/344/EWG stellt eine Ausnahmeregelung zu Art 4 dar und hat folgenden Wortlaut:
„(1) Jeder Mitgliedstaat kann die Rechtsschutzversicherung von der Anwendung des Art 4 Abs 1 ausnehmen, wenn alle nachfolgenden Bedingungen erfüllt sind:
a) Die Versicherung gilt nur für Fälle, die sich aus dem Einsatz von Straßenfahrzeugen im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats ergeben.
b) Die Versicherung ist an einen Vertrag über den Beistand gebunden, der bei einem Unfall mit oder einem Schaden an einem Straßenfahrzeug zu gewähren ist.
c) Weder der Rechtsschutzversicherer noch der Beistandsversicherer decken Haftpflichtversicherungszweige.
d) Es werden Vorkehrungen getroffen, damit die Rechtsberatung und die Vertretung der Parteien in einem Streitfall durch völlig unabhängige Rechtsanwälte sichergestellt wird, wenn diese Parteien bei ein und demselben Versicherer rechtsschutzversichert sind.
(2) Die Freistellung, die ein Mitgliedstaat einem Unternehmen gemäß Absatz 1 gewährt, berührt nicht die Anwendung von Artikel 3 Absatz 2."
Mit der Problematik der freien Anwaltswahl beschäftigt sich in dieser Richtlinie auch noch der Erwägungsgrund 11, der folgenden Wortlaut hat:
„Das Interesse des Rechtsschutzversicherten setzt voraus, dass letzterer selbst seinen Rechtsanwalt oder eine andere Person wählen kann, die die nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften im Rahmen von Gerichts- und Verwaltungsverfahren anerkannten Qualifikationen besitzt, und zwar immer, wenn es zu einer Interessenkollision kommt."
5.) Nationales Recht:
Der in Art 4 der Richtlinie 87/344/EWG vorgegebene Grundsatz der freien Anwaltswahl des Rechtsschutzversicherungsnehmers wird durch § 158k VersVG im österreichischen Recht umgesetzt. Diese Bestimmung ist gemäß § 158p VersVG zwingend zugunsten des Versicherungsnehmers.
§ 158k Abs 1 VersVG lautet:
„Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, zu seiner Vertretung in einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren eine zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Person frei zu wählen. Darüber hinaus kann der Versicherungsnehmer zur sonstigen Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen einen Rechtsanwalt frei wählen, wenn beim Versicherer eine Interessenkollision entstanden ist."
§ 158p VersVG lautet:
„Auf eine Vereinbarung, durch die von den §§ 158j Abs 2 bis 158o zum Nachteil des Versicherungsnehmers abgewichen wird, kann sich der Versicherer nicht berufen."
Rechtliche Beurteilung
6.) Begründung der Vorlage:
Der Europäische Gerichtshof ist gemäß Art 177 EG-Vertrag für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständig, wenn dieses den fraglichen Sachverhalt nicht unmittelbar regelt, aber der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung der Bestimmungen einer Richtlinie in nationales Recht beschlossen hat, rein innerstaatliche Sachverhalte und Sachverhalte, die unter die Richtlinie fallen, gleich zu behandeln, und seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften deshalb an das Gemeinschaftsrecht angepasst hat.
Über die hier maßgebliche Frage der Auslegung des Art 4 der Richtlinie 87/344/EWG wurde vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften noch nicht entschieden. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs ist die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch nicht derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bliebe:
Einerseits scheint der Wortlaut des Art 4 der genannten Richtlinie und der Umstand, dass in deren Art 5 (nur) eine - im vorliegenden Rechtsfall nicht in Betracht zu ziehende - Ausnahmeregelung angeführt wird, für die Ansicht des Klägers zu sprechen.
Andererseits lassen sich für ein Auswahlrecht des Rechtsschutzversicherers hinsichtlich der (anwaltlichen) Vertretung des Versicherungsnehmers in sogenannten „Kumulfällen" (Schadensfälle, die gleichzeitig eine große Anzahl von Rechtsschutzversicherten - etwa als Anleger - betreffen) aus teleologischer Sicht insbesondere folgende Gründe ins Treffen führen: Es liegt auf der Hand, dass die Kosten eines Musterprozesses oder einer Gemeinschaftsklage für mehrere Anspruchsteller wesentlich geringer sind als viele entsprechende Einzelklagen. Da diese bei einer sehr großen Anzahl von geschädigten Versicherungsnehmern exorbitant hohe Kosten verursachen und für den Versicherer daher nicht finanzierbar sein können, werden die Versicherungen zur Deckung von „Kumulfällen" nur bereit sein, wenn in diesen Fällen am Postulat der freien Anwaltswahl nicht kompromisslos festgehalten, sondern eine entsprechende Kostenbegrenzung durch eine „Massenschadenklausel" (ähnlich der hier in Rede stehenden) sichergestellt wird. Eine solche Kosteneinsparung wird in „Kumulfällen" durch Auswahl des Rechtsvertreters durch den Versicherer als Organisator und Koordinator gewährleistet und ist im Interesse der Versicherungsgemeinschaft wohl geboten. Unterstellt man, dass die Rechtsschutzversicherungsrichtlinie vom Modell der konventionellen Geltendmachung von Ansprüchen durch den einzelnen Versicherungsnehmer ausgeht, so steht sie der Auswahl des Rechtsvertreters für die Vertretung vor Gerichten und Verwaltungsbehörden durch den Versicherer in „Kumulsituationen" nicht entgegen. Insofern kann die Regelung einer „Massenschadenklausel" wie Art 6.7.3. der ARB 1995 als Ergänzung des in der Richtlinie formulierten Grundsatzes der freien Anwaltswahl angesehen werden.
Auch wenn man in diesem Sinn anerkennt, dass die organisierte gemeinschaftliche Wahrnehmung rechtlicher Interessen zugunsten einer Gruppe von Versicherten nicht Gegenstand der Überlegungen und Regelungen der Rechtsschutzversicherungsrichtlinie war und eine „Kumulfälle" berücksichtigende Klausel daher nicht im Widerspruch zur Richtlinie steht, sondern diese ergänzt, erscheint allerdings eine Klarstellung der Grenze zwischen einem „konventionellen Fall" und einer „Kumulschadenssituation" erforderlich. Es stellt sich demnach die Frage, auf welche Weise und nach welchen Kriterien eine „Massenschadenklausel", die dem Versicherer anstelle des Versicherungsnehmers das Recht der Auswahl des Vertreters einräumt, ihren Anwendungsbereich zu bestimmen beziehungsweise einzugrenzen hat. In Betracht käme etwa die Festlegung einer Mindestanzahl der betroffenen Versicherungsnehmer oder ähnliches. Aus diesem Blickwinkel scheint eine Klausel, die wie Art 6.7.3. der ARB 1995 bereits die Involvierung „mehrerer Versicherungsnehmer" genügen lässt, um dem Versicherer das Auswahlrecht zuzuerkennen, im Sinn der Intentionen und Anforderungen der Rechtsschutzversicherungsrichtlinie problematisch. Auch in diesem Punkt erscheint eine Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Fall der Verneinung der Frage 1. notwendig.
Der Oberste Gerichtshof, dessen Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann, ist daher gemäß Art 234 EG zur Vorlage der im Spruch dieser Entscheidung formulierten Fragen verpflichtet.