OGH vom 19.09.2012, 1Ob89/12p

OGH vom 19.09.2012, 1Ob89/12p

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Musger, Dr. Nowotny, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. *****, vertreten durch Dr. Fritz Miller, Rechtsanwalt in Schruns, gegen die beklagte Partei ***** Rechtsanwaltskammer, *****, vertreten durch Simma Rechtsanwälte GmbH in Dornbirn, wegen 281.153,18 EUR sA und Feststellung (30.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 4/12b 28, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde geprüft. Sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

2. Amtshaftung für ein rechtswidriges Verhalten tritt nur dann ein, wenn es schuldhaft ist (§ 1 Abs 1 AHG). Eine bei pflichtgemäßer Überlegung aller Umstände vertretbare Rechtsanwendung mag zwar rechtswidrig sein, stellt aber kein Verschulden im Sinne dieser Gesetzesbestimmung dar ( Schragel , AHG 3 Rz 159; RIS Justiz RS0050216 [T1]). Die Prüfung der Frage nach der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung als Verschuldenselement ist ganz von den Umständen des Einzelfalls abhängig und entzieht sich deshalb regelmäßig einer Beurteilung als erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO (RIS Justiz RS0110837). Eine solche liegt im Allgemeinen nur dann vor, wenn eine gravierende Fehlbeurteilung in der Einstufung einer Rechtsansicht als (un )vertretbar durch die Instanzen im Amtshaftungsverfahren erfolgte (1 Ob 291/01b; 1 Ob 223/06k; 1 Ob 6/11f).

3.1 Der Kläger leitet seine Ersatzansprüche aus der vom Verfassungsgerichtshof als rechtswidrig erkannten (wiederholten) Verlängerung der über ihn durch den Disziplinarrat der Beklagten verhängten einstweiligen Maßnahme der vorläufigen Untersagung der Rechtsanwaltschaft ab, soweit diese nicht durch Anrechnung auf die verhängte Disziplinarstrafe konsumiert wurde, also mit Beschluss vom über die Dauer der Disziplinarstrafe hinaus und nochmals mit Beschluss vom für jeweils 6 Monate verlängert wurde.

3.2 Nach dem hier noch relevanten § 19 Abs 1a DSt kann der Disziplinarrat bei Verdacht eines Disziplinarvergehens gegen einen Rechtsanwalt die einstweilige Maßnahme der vorläufigen Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft beschließen, wenn die dringende Besorgnis besteht, dass die weitere Berufsausübung zu einer erheblichen Beeinträchtigung anvertrauten fremden Vermögens führen könnte. Dabei handelt es sich um eine sichernde Maßnahme im öffentlichen Interesse (VfGH B 2598/97; B 997/98; Hiesel , Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zum Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter, AnwBl 2002, 130), die spätestens nach 6 Monaten außer Kraft tritt. Eine Verlängerung ist möglich, wenn dies zur Vermeidung von schweren Nachteilen für die Interessen der rechtsuchenden Bevölkerung unbedingt erforderlich ist (§ 19 Abs 4 DSt). Damit stellt das Gesetz an die Verlängerung dieser vorläufigen Maßnahme noch strengere Anforderungen als für deren erstmalige Verhängung (OBDK , 14 Bkd 16/97 = AnwBl 1998/7514 [ Strigl ]).

3.3 Ausgehend davon erachteten die Vorinstanzen die Verlängerungen der einstweiligen Maßnahme über die vom Disziplinarrat in erster Instanz verhängte Disziplinarstrafe der Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft für die Dauer eines Jahres hinaus wegen der bloß theoretischen Möglichkeit, dass es über Berufung des Kammeranwalts zur Verhängung der Höchststrafe einer Streichung von der Liste der Rechtsanwälte kommen könnte, als nicht mehr vertretbar, weil die gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe bereits längere Zeit zurückgelegen wären und die zur Begründung für die (wiederholten) Verlängerungen herangezogene finanzielle Situation des Klägers gleichsam als Folge der Maßnahme angesehen werden müsse.

4.1 Besondere Umstände, aus denen sich ergeben würde, dass bei gegebener Sachlage ex ante mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen gewesen wäre, dass es über Berufung des Kammeranwalts zur Verhängung der Höchststrafe einer Streichung des Klägers von der Liste der Rechtsanwälte kommen werde und deshalb eine Verlängerung der Maßnahme über die Dauer der in erster Instanz verhängten Disziplinarstrafe hinaus gerechtfertigt gewesen wäre (vgl RIS Justiz RS0120449 [T1]; Graff , Neues im Anwaltsrecht, AnwBl 1990, 335), macht die Beklagte in ihrer Revision gar nicht geltend, sondern stößt sich primär daran, dass die Vorinstanzen § 466 Abs 5 StPO als Maßstab für die angenommene Unverhältnismäßigkeit der über die Dauer der verhängten Disziplinarstrafe hinausgehenden einstweiligen Maßnahme heranzogen. Damit zeigt die Revision aber schon deshalb keine erhebliche Rechtsfrage auf, weil § 77 Abs 3 DSt ausdrücklich die sinngemäße Anwendung der Bestimmungen der Strafprozessordnung im Disziplinarverfahren anordnet, soweit dies mit den Grundsätzen und Eigenheiten des Disziplinarverfahrens vereinbar ist. Damit finden auch die der Strafprozessordnung zugrunde liegenden Wertungen in das Disziplinarverfahren Eingang.

4.2 Es trifft zwar zu, dass § 466 StPO auf Strafverfahren abstellt, die in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte fallen. Dessen Abs 5 entspricht aber dem § 284 Abs 3 zweiter und dritter Satz StPO ( Ratz in WK StPO § 466 Rz 3), sodass die darin zum Ausdruck gebrachte Wertung gleichermaßen für das bezirksgerichtliche wie das schöffen und geschworenengerichtliche Verfahren Geltung hat. Der Hinweis auf die im Verhältnis zu letzteren geringere Strafdrohung im bezirksgerichtlichen Verfahren durch die Revisionswerberin geht damit ins Leere und zeigt keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung der Vorinstanzen auf. Darüber hinaus folgt schon aus § 5 Abs 1 zweiter Satz StPO, dass jede Rechtsgutbeeinträchtigung in einem angemessenen Verhältnis zum Gewicht der Straftat, zum Grad des Verdachts und zum angestrebten Erfolg stehen muss. Unter mehreren zielführenden Zwangsmaßnahmen sind jene zu ergreifen, welche die Rechte der Betroffenen am Geringsten beeinträchtigen (§ 5 Abs 2 StPO). Darin kommt die in grundrechtsdogmatischer Sicht entwickelte, allgemeine verfassungsrechtliche Vorgabe zum Ausdruck, wonach Eingriffe in eine verfassungsgesetzlich geschützte Rechtsposition neben anderen Voraussetzungen nur zulässig sind, wenn sie das gelindeste zum Ziel führende Mittel darstellen (für das hier relevante Grundrecht der Erwerbsfreiheit gemäß Art 6 StGG vgl etwa VfGH G 69/99, G 70/99). Das Disziplinarstatut stellt in § 19 DSt solche gelinderen Mittel zur Verfügung, um den Zweck der Verhinderung einer erheblichen Beeinträchtigung anvertrauten fremden Vermögens bzw die Vermeidung von schweren Nachteilen für die Interessen der rechtsuchenden Bevölkerung zu erreichen.

5. Einstweilige Maßnahmen sind nach § 19 Abs 4 erster Satz DSt aufzuheben, zu ändern oder durch eine andere zu ersetzen, wenn sich ergibt, dass die Voraussetzungen für die Anordnung nicht oder nicht mehr vorliegen oder sich die Umstände wesentlich geändert haben. Dadurch soll die regelmäßige Überprüfung der Suspendierung durch den Disziplinarrat sichergestellt werden ( Graff aaO). Das hat auch ohne darauf zielenden Antrag, also von Amts wegen, zu geschehen, um die durch die Suspendierung entstehenden uU schweren Nachteile möglichst unverzüglich zu reduzieren bzw zu beenden ( Strigl [Glosse] in AnwBl 2006/8030). Dass die Vorinstanzen dem Kläger keine Sorglosigkeit im Umgang mit den eigenen Rechtsgütern (vgl RIS Justiz RS0027565) und damit auch keine Rettungspflichtverletzung im Sinne des § 2 Abs 2 AHG anlasteten, weil er, wie die Revisionswerberin geltend macht, in seiner Beschwerde gegen die Verlängerung der einstweiligen Maßnahme mit Beschluss des Disziplinarrats vom lediglich die Verletzung des Parteiengehörs geltend machte, begründet damit ebenfalls keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung. Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.