OGH vom 06.04.2016, 7Ob21/16p
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners F***** W*****, geboren am *****, vertreten durch den Verein VertretungsNetz Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreter M***** H*****), *****, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Vertrauensperson A***** W*****, Einrichtungsleiter AR W***** T*****, vertreten durch Mag. Alexander Razka, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 559/15m 23, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom , GZ 5 HA 1/15b 17, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
1. Der angefochtene Beschluss, der hinsichtlich des Ausspruchs der Unzulässigkeit des Vorziehens der Nachtmedikation am in Rechtskraft erwachsen ist und von dieser Entscheidung unberührt bleibt, wird in seinem Ausspruch über die Unzulässigkeit der Fixierung im Rollstuhl bestätigt.
2. Im Übrigen, sohin hinsichtlich des Ausspruchs über die Unzulässigkeit der Dauermedikation mit Seroquel und Temesta, der Zusatzmedikation mit Temesta expidet, Seroquel und Dominal am 14., 15., 21., 22. und und des Vorziehens der Nachtmedikation auf den Nachmittag bzw den frühen Abend am 16., 21., 26. und werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben. Die Heimaufenthaltssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Der Bewohner wohnte vom 12. 5. bis in einem Pflegeheim, einer Einrichtung iSd § 2 Abs 1 HeimAufG. Er leidet an einer Alkoholkrankheit, daraus resultierend an einer psychoorganischen Beeinträchtigung im Sinne eines „Korsakow Syndroms“ mit häufigen deliranten Zuständen und einer Demenzerkrankung. Es bestand eine erhebliche Selbstgefährdung im Sinne eines Selbstfürsorgedefizits. Während eines Delirs ist die Aufmerksamkeit meist eingeschränkt, die Motorik hingegen hyperaktiv, wobei auch Halluzinationen auftreten.
Am Tag seiner Ankunft wurde der Bewohner in einen Rollstuhl gesetzt, da eine Sturzgefährdung mitgeteilt worden war. Dem Bewohner wurde dazu eine Sitzhose angezogen und diese am Rollstuhl festgemacht, um zu verhindern, dass er selbständig aus dem Rollstuhl aufstehen kann. Dem Bewohner gelang es aber dennoch nach etwa fünf Minuten, die Fixierung zu lösen.
Der Bewohner erhielt als Dauermedikation neben Convulex 500 mg und Dominal forte die Medikamente Seroquel und Temesta. Am 14., 15., 21., 22. und erhielt er zusätzlich die Medikamente Temesta expidet, Seroquel und Dominal. Am 16., 17., 21., 26. und wurde die Nachtmedikation auf den Nachmittag bzw den frühen Abend vorgezogen. Weder die Medikamentenverabreichung noch die Fixierung im Rollstuhl wurden vom Einrichtungsleiter dem Bewohnerverteter gemeldet.
Auf Antrag des Bewohners erklärte das Erstgericht sämtliche Maßnahmen für unzulässig. Die Fixierung im Rollstuhl sei als Freiheitsbeschränkung iSd § 3 HeimAufG einzustufen, auch wenn die Fixierung nur wenige Minuten intakt gewesen sei, bis der Bewohner sie selbst gelöst habe. Weiters gewinne das Gericht im Gesamtzusammenhang den Eindruck, dass die Verabreichung der Medikamente an den Bewohner zumindest auch den Zweck gehabt hätten, dessen Unruhezuständen zu begegnen, das heißt ihn zu beruhigen und ihn etwa durch die schlaffördernde Wirkung der Medikamente in seinem Bewegungsdrang einzuschränken. Die Medikation sei als Freiheitsbeschränkung einzustufen. Da die Verabreichung nicht gemeldet worden sei, liege eine Verletzung des § 7 HeimAufG vor, die zur Unzulässigkeit der Maßnahmen führen würde.
Dieser Beschluss erwuchs im Umfang der Unzulässigkeit des Vorziehens der Nachtmedikation am unbekämpft in Rechtskraft. Im Übrigen bestätigte das Rekursgericht die vom Einrichtungsleiter bekämpfte Entscheidung. Die Feststellungen würden beim Bewohner aufgetretene Unruhezustände zeigen, denen durch die Verabreichung der im Spruch genannten Medikamente zur Abwehr einer Selbst und Fremdgefährdung entgegengewirkt werden sollte und die ärztlich angeordnet gewesen seien. Zutreffend seien die Ausführungen des Erstgerichts, dass die Unterbindung des Bewegungsbedürfnisses keine unvermeidliche Nebenwirkung eines anderen therapeutischen Zwecks dargestellt habe, sondern der unmittelbare Zweck ihrer Verabreichung in der Dämpfung des Bewegungsdrangs gelegen sei. Weshalb die Fixierung im Rollstuhl keine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 HeimAufG sein solle, lege der Rekurs nicht dar.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Nur der Bewohnervertreter erstattete eine freigestellte Revisionsrekursbeantwortung und beantragt dem Revisionsrekurs keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist auch teilweise berechtigt.
1. Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinne dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhungen unterbunden wird. In diesem Sinn liegt eine Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RIS Justiz RS0075871 [T6]).
2. Zur medikamentösen Freiheitsbeschränkung:
2.1 Es kann nicht entscheidend sein, ob eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch physische Zwangsmittel wie Einsperren oder Festbinden des Patienten oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckt. Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, dass der Patient nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern (RIS Justiz RS0106974). Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel nur dann zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar (1 Ob 21/09h, 7 Ob 77/14w), also primär (7 Ob 77/14w mwN) die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt; nicht hingegen im Fall von unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung therapeutischer Ziele ergeben können (RIS Justiz RS0121227). Anhand der Feststellung, der Einsatz der kombiniert verabreichten Medikamente sei „therapeutisch indiziert“ ist eine abschließende Beurteilung, ob eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, nicht möglich. Hiezu bedarf es Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck jedes einzelne der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob das Medikament, insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination („bunter Mix“) dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurde oder wird und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RIS Justiz RS0123875). Entgegen der Ansicht des Einrichtungsleiters kann keine generelle Beurteilung vorgenommen werden, ob eine allenfalls medizinisch indizierte Herbeiführung eines Schlafrhythmus durch den Einsatz von schlaffördernden oder schlaferzwingenden Medikamenten eine unzulässige Freiheitsbeschränkung darstellt. Vielmehr gelten auch hier die eben aufgezeigten Grundsätze.
2.2 Hinsichtlich der Dauermedikation mit Seroquel und Temesta steht zwar fest, welche Wirkung die Medikamente an sich haben und welchen therapeutischen Zweck die Anwendung grundsätzlich verfolgt. Darüber hinaus wurde aber lediglich festgestellt, dass die Dauermedikation auch im Hinblick auf ihre Dosierung dem Stand der Wissenschaft entsprach und medizinisch indiziert war. Offen ist aber, welchen therapeutischen Zweck die Verabreichung der Medikamente konkret verfolgte, und welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz verbunden war.
2.3 Im Zusammenhang mit dem Vorziehen der Nachtmedikation unterblieben die Feststellungen zum grundsätzlichen therapeutischen Zweck dieser Vorgangsweise. Lediglich zum Vorziehen am 26. 5. und wurde zwar der Grund des Einsatzes angeführt, offen blieb aber, ob dieser der Zweckbestimmung entsprach. Feststellungen zur Wirkung auf den Bewohner finden sich nur im Zusammenhang mit der Verabreichung am .
2.4 Hinsichtlich der Zusatzmedikation wurden keine Feststellungen über den beabsichtigten Zweck und dazu getroffen, ob diese entsprechend der Zweckbestimmung erfolgte und welche Wirkungen sie zeigte.
2.5 Abgesehen davon, dass die Feststellungen schon nicht zur abschließenden Beurteilung des (Nicht )Vorliegens einer medikamentösen Freiheitsbeschränkung durch Verabreichung der Dauermedikation einerseits und der sonstigen Medikationen (Vorziehen der Nachtmedikation, zusätzliche Verabreichung von Medikamenten) andererseits ausreichen, bleibt auch völlig offen, ob der Einsatz der Kombination entsprechend ihrer Zweckbestimmung erfolgte und welche Wirkungen sie entfaltete.
2.6 Da im Zusammenhang mit der Medikation die Verfahrensergebnisse ergänzungsbedürftig geblieben sind, kann eine abschließende Beurteilung, ob eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, nicht vorgenommen werden.
3. Zur Freiheitsbeschränkung durch Fixierung im Rollstuhl:
Mechanische Mittel der Freiheitsbeschränkung sind etwa unmittelbare körperliche Zugriffe mit dem Ziel, den Bewohner zurückzuhalten. Hiezu zählt der Gebrauch von speziellen Möbeln, von Kleidung oder Vorrichtungen, die verhindern, dass der Bewohner seinen Körper bewegt oder einen bestimmten Ort oder Raum verlässt (7 Ob 134/14b mwN). Die Fixierung durch eine am Rollstuhl festgemachte Sitzhose stellt ohne Frage ein mechanisches Mittel der Freiheitsbeschränkung dar.
Soweit der Einrichtungsleiter argumentiert, es liege keine Freiheitsbeschränkung vor, weil der Bewohner die Sitzhose sofort selbst gelöst habe, entfernt er sich vom Boden der erstgerichtlichen Feststellungen, wonach dies dem Bewohner erst nach rund fünf Minuten gelang. Auch Maßnahmen, die nur wenige Minuten dauern, sind relevant (vgl Strickmann , Heimaufenthaltsrecht 2 127).
Im genannten Zeitraum lag damit jedenfalls eine Freiheitsbeschränkung vor, von deren materiellen Zulässigkeit auch im Revisionsrekurs nicht mehr ausgegangen wird.
4.1 Vom HeimAufG wird eine Aufklärungs und Verständigungspflicht als Voraussetzung der Zulässigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen gefordert.
Der zweite Abschnitt des HeimAufG regelt die „Voraussetzungen einer Freiheitsbeschränkung“. Neben den in § 4 HeimAufG beschriebenen materiellen Voraussetzungen sind in den §§ 5 bis 7 HeimAufG formelle Voraussetzungen normiert, wozu die in § 7 Abs 3 HeimAufG genannte Verständigungspflicht zählt. Diese ist im Zusammenhang mit Art 5 Abs 1 EMRK und dem (Art 1 Abs 2, Art 2 Abs 1) PersFrG zu sehen. Danach muss jeder Freiheitsentzug auf die „gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgen. Es wird nicht nur die Einhaltung der einfach gesetzlichen Vorschriften zu einer Bedingung der Verfassungsmäßigkeit des Freiheitsentzugs; die Formulierung „gesetzlich vorgeschriebene Weise“ enthält auch eine Verpflichtung des Gesetzgebers, entsprechende Verfahrensregelungen zu erlassen. Wesentlich ist auch, dass das Verfahren über jenes prozessuale Instrumentarium verfügt, welches eine hinreichende Abklärung des maßgeblichen Sachverhalts ermöglicht. Die Überprüfbarkeit formeller Zulässigkeitsvoraussetzungen leitet sich aus den verfahrensrechtlichen Anforderungen einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle freiheitsentziehender Maßnahmen ab (7 Ob 249/11k zur Dokumentationspflicht).
4.2 Nach § 7 Abs 2 HeimAufG ist der Leiter der Einrichtung verpflichtet, den Vertreter und die Vertrauensperson des Bewohners von einer Freiheitsbeschränkung zu verständigen und diesen Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen.
Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist die Unterlassung der Verständigung kein bloßer Verstoß gegen eine Ordnungsvorschrift. Sie bewirkt die Unzulässigkeit der Maßnahme (RIS Justiz RS0121228 [T8]). Die Unzulässigkeit dauert allerdings nur bis zu jenem Zeitpunkt, in welchem der Bewohnervertreter tatsächlich Kenntnis von der angeordneten Freiheitsbeschränkung erlangt hat (RIS Justiz RS0121228 [T1, T 11]).
Eine Auseinandersetzung mit der Judikatur zur „Einmalmedikation“ (vgl RIS Justiz RS0124558) ist hier nicht erforderlich:
4.3 Schon die Argumentation des Einrichtungsleiters, die Zusatzmedikation und das Vorziehen der Nachtmedikation dienten medizinisch indiziert dazu, den Schlaf des Bewohners im Sinn der Herbeiführung eines regelmäßigen Schlafrhythmus zu regulieren, lässt eine Beurteilung als bloß „kurzfristige“ Maßnahme nicht zu; soll doch offensichtlich eine dauerhafte Wirkung erzielt werden. Dazu kommt, dass die genannten Medikationen nahezu täglich, und damit nicht einmalig, sondern regelmäßig verabreicht wurden.
Sollte sich daher im fortgesetzten Verfahren ergeben, dass die Medikation als freiheitsbeschränkende Maßnahme zu qualifizieren ist, dann hätte der Einrichtungsleiter seiner Verständigungspflicht nachkommen müssen.
4.4 Da der Einrichtungsleiter im Zusammenhang mit der Fixierung im Rollstuhl das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen gar nicht mehr behauptet, ist die Maßnahme für unzulässig zu erklären, weil sie (abgesehen von der fehlenden Verständigung) schon inhaltlich ungerechtfertigt war. In diesem Umfang war der angefochtene Beschluss zu bestätigen.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2016:0070OB00021.16P.0406.000