OGH vom 29.06.2020, 2Ob79/20m
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei (nunmehr) Österreichische Gesundheitskasse, Wien 3, Haidingergasse 1, vertreten durch Mag. Andreas Nösterer, Rechtsanwalt in Pregarten, gegen die beklagte Partei ÖBB-Personenverkehr Aktiengesellschaft, Wien 10, Am Hauptbahnhof 2, vertreten durch die Finanzprokuratur, und die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei ÖBB-Produktion GmbH, Wien 10, Am Hauptbahnhof 2, vertreten durch Dr. Martin Drahos, Rechtsanwalt in Wien, wegen 125.190,78 EUR sA und Feststellung (Streitwert 10.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 6 R 15/20y-32, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
1. Die Bezeichnung der klagenden Partei wird von „Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, Linz, Gruberstraße 77“ auf „Österreichische Gesundheitskasse, Wien 3, Haidingergasse 1“ richtiggestellt.
2. Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Zu 1.
Die Rechte und Verbindlichkeiten der klagenden Partei „Oberösterreichische Gebietskrankenkasse“ sind mit auf die durch Zusammenführung der Gebietskrankenkassen entstandene „Österreichische Gesundheitskasse“ übergegangen (§ 538t ASVG). Die Bezeichnung der klagenden Partei ist entsprechend richtigzustellen (§ 235 Abs 5 ZPO).
Zu 2.
Die Versicherungsnehmerin des klagenden Sozialversicherungsträgers (in der Folge: Geschädigte) war irrtümlich in den hintersten Waggon eines Zuges des beklagten Eisenbahnverkehrsunternehmens eingestiegen, der am Bahnhof Attnang-Puchheim für eine Leerfahrt bereitstand. Der sonst an dieser Stelle stehende Zug, den sie regelmäßig nutzte, befand sich weiter hinten am selben Bahnsteig; dessen Zugzielanzeige leuchtete aber erst auf, als sie schon in den falschen Zug eingestiegen war. Die Geschädigte hätte ihren Fehler nur daran erkennen können, dass für den von ihr bestiegenen Zug keine Zielangabe aufleuchtete. Der Hinweis „nicht einsteigen“ war bereits drei Minuten vor ihrem Einsteigen erloschen, die Innenbeleuchtung des Waggons war eingeschaltet. Der verantwortliche Zugbegleiter war etwa drei Minuten vor der Geschädigten in den hintersten Waggon eingestiegen und nach vorne durchgegangen, um zu prüfen, ob noch jemand im Zug war. Er gab etwa eine Minute nach dem Einsteigen der Geschädigten die Abfahrt frei.
Als die Geschädigte bemerkte, dass sie allein im Zug war, versuchte sie noch auszusteigen, was ihr aber aufgrund der inzwischen verschlossenen Türen nicht mehr gelang. In weiterer Folge erlosch die Innenbeleuchtung, und der Zug durchfuhr mehrere Haltestellen. Die Geschädigte geriet in Panik und betätigte zweimal das Notsignal, was zum Aufflackern der gelben Türkontrolllampen im Führerstand führte. Der Triebfahrzeugführer hielt das für eine technische Störung und deaktivierte die Türsteuerung. Unmittelbar vor dem Bahnhof Wels betätigte die Geschädigte die Notbremse, wodurch der Zug mit einer Verzögerung von 0,79 m/s2 von 122 km/h auf 25 km/h abgebremst wurde. In weiterer Folge öffnete sie mit der Notentriegelung die Waggontür, stieg auf das Trittbrett und hielt sich zumindest mit einer Hand an den Haltegriffen fest.
Der Triebfahrzeugführer führte auch die Notbremsung auf eine technische Störung zurück. Er verzichtete auf eine Überprüfung und „überbrückte“ die Notbremsung. Dadurch begann der Zug wieder zu beschleunigen. Trotzdem sprang die Geschädigte im Bahnhofsbereich vom Zug ab und verletzte sich dabei schwer.
Die erbrachte der Geschädigten Leistungen und begehrt nach § 332 ASVG Ersatz.
Die bejahten die Haftung der Beklagten für die Hälfte des Schadens.
Das führte aus, dass die Beklagte nicht alle nach den Umständen des Falles erforderliche Sorgfalt aufgewendet habe, um ein Einsteigen der Geschädigten in den Leerzug zu verhindern. Weiters treffe den Triebfahrzeugführer ein Verschulden, weil er die Notbremse überbrückt habe, statt anzuhalten und die Ursache von Warnsignal und Notbremsung zu ermitteln. Das Verhalten der Geschädigten begründe zwar ein gleichteiliges Mitverschulden, sei aber nicht als ganz außergewöhnliche Reaktion auf das Einsteigen in einen falschen Zug zu werten. Der Schaden sei daher adäquat verursacht.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen diese Entscheidung gerichtete zeigt keine erhebliche Rechtsfrage auf.
1. Die Auffassung des Berufungsgerichts, das Zurechnungskriterium der Adäquanz sei erfüllt, ist nicht zu beanstanden:
1.1. Ein Schaden ist adäquat herbeigeführt, wenn seine Ursache ihrer allgemeinen Natur nach für die Herbeiführung eines derartigen Erfolgs nicht als völlig ungeeignet erscheinen muss und nicht nur infolge einer ganz außergewöhnlichen Verkettung von Umständen zu einer Bedingung des Schadens wurde. Der Schädiger haftet für alle, auch für zufällige Folgen, mit deren Möglichkeit abstrakt zu rechnen gewesen ist, nur nicht für einen atypischen Erfolg (RS0022906; RS0022944; RS0022914). Auch wenn eine weitere Ursache für den entstandenen Schaden dazu tritt, ist die Adäquanz zu bejahen, wenn nach den allgemeinen Erkenntnissen und Erfahrungen das Hinzutreten der weiteren Ursache, wenn auch nicht gerade normal, so doch wenigstens nicht gerade außergewöhnlich ist (RS0022546; RS0022918). Besteht die weitere Ursache in einer Handlung des Verletzten selbst, ist die Adäquanz nur dann zu verneinen, wenn mit dem dadurch bedingten Geschehensablauf nach der Lebenserfahrung nicht zu rechnen war (2 Ob 117/16v mwN). Da die Adäquanz aufgrund einer wertenden Betrachtung zu beurteilen ist (1 Ob 625/94 SZ 68/145; RS0081105), sind in Grenzfällen insbesondere die Gefährlichkeit des Verhaltens, das Gewicht des beeinträchtigten Rechtsguts und der Grad des Verschuldens zu berücksichtigen (4 Ob 204/13y).
1.2. Wegen der Einzelfallbezogenheit kann die Beurteilung der Adäquanz nur dann die Zulässigkeit der Revision begründen, wenn das Berufungsgericht seinen Beurteilungsspielraum, der sich in dieser Wertungsfrage aus den Leitlinien der genannten Rechtsprechung ergibt, überschritten hat (RS0110361; allgemein Lovrek in Fasching/Konecny3§ 502 ZPO Rz 51 mwN). Das trifft hier nicht zu:
Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass bei einem gerade anfahrenden Zug weder das Aufspringen noch das Abspringen außerhalb jeder Lebenserfahrung liegt (8 Ob 58/85; 2 Ob 240/81 ZVR 1983/39). Dass dies auch für das hier zu beurteilende Abspringen gilt, ist durch die Leitlinien der dargestellten Rechtsprechung gedeckt. Denn es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein irrtümlich in einen „Leerzug“ eingestiegener Fahrgast in Panik gerät, wenn weder die Betätigung des Notsignals noch das Ziehen der Notbremse zum Anhalten des Zuges führt, und dass er in diesem Zustand ein objektiv verfehltes Verhalten setzt.
Zwar hat der Senat in 2 Ob 107/10i die Adäquanz in einem Fall verneint, in dem der Lenker eines auf dem Pannenstreifen liegen gebliebenen Fahrzeugs aus (mangels Beweises des Gegenteils) unbegründeter Angst vor einem herannahenden Lkw über die Begrenzungsmauer einer Autobahnbrücke gesprungen und in die Tiefe gestürzt war. Auch in anderen Entscheidungen wurden Reaktionen, die auf einem unbegründeten Erschrecken eines Fußgängers (2 Ob 336/99x) oder Radfahrers (2 Ob 17/94; 2 Ob 3/09v) beruhten, als nicht adäquat angesehen. Der Unterschied zum vorliegenden Fall liegt aber einerseits darin, dass die Geschädigte hier objektiv von einer Fehlfunktion von Notsignal und Notbremse ausgehen musste, was ihre Reaktion zwar nicht rechtfertigte, aber doch als objektiv nicht ganz unvorhersehbar erscheinen lässt. Andererseits lagen den genannten Entscheidungen Sachverhalte zugrunde, in denen die Gegenseite kein Verschulden traf, sodass die Haftung von vornherein nur auf das EKHG gestützt werden konnte. Haftungsbegründendes Element wäre daher ausschließlich die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs gewesen.
2. Das Herausspringen aus einem fahrenden Zug ist zwar ein Verhalten des Geschädigten iSv § 9 Abs 2 EKHG, das die Ersatzpflicht nach diesem Gesetz ausschließen kann (2 Ob 178/99m). Dies setzte jedoch (insbesondere) voraus, dass die mit dem Willen der Beklagten beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles erforderliche Sorgfalt beachtet hätten (2 Ob 240/81). Das war hier nicht der Fall.
Aus demselben Grund geht auch der Hinweis der Revision auf die Materialien zum EKHG fehl: Als Beispiel für ein unabwendbares Ereignis wird dort das Abspringen eines Selbstmörders oder das Hinauswerfen einer Person durch einen Mörder genannt (470 BlgNR 8. GP 11). In solchen Fällen wäre mangels Sorgfaltsverletzung einer beim Betrieb tätigen Person zweifellos ein unabwendbares Ereignis anzunehmen. Mit dem hier zu beurteilenden Fall ist das aber nicht vergleichbar. Zudem liegt ohnehin ein Verschulden des Triebfahrzeugführers vor, sodass es auf die – in der Revision nicht thematisierte – Anwendbarkeit des EKHG nicht ankommt.
3. Zweifellos trifft die Geschädigte ein gravierendes Eigenverschulden. Dem steht jedoch das ebenfalls grob sorgfaltswidrige Verhalten des Triebfahrzeugführers und die mangelhafte Organisation des Bahnhofbetriebs (Erlöschen des Hinweises „nicht einsteigen“ mehrere Minuten vor der Abfahrt) gegenüber. Auf dieser Grundlage hat das Berufungsgericht mit der Annahme eines gleichteiligen Verschuldens seinen auch insofern bestehenden Beurteilungsspielraum (RS0087606) nicht überschritten.
4. Andere erhebliche Rechtsfragen macht die Revision nicht geltend. Sie ist daher zurückzuweisen.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00079.20M.0629.000 |
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