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OGH vom 28.03.2012, 7Ob19/12p

OGH vom 28.03.2012, 7Ob19/12p

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K***** D*****, vertreten durch Mag. Helmut Gruber, Rechtsanwalt in St. Jakob in Haus, gegen die beklagte Partei S*****Versicherung AG, *****, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 15.747,85 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 202/11w 12, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom , GZ 5 Cg 122/11d 8, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache dahin zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.633,90 EUR (darin enthalten 389,65 EUR USt und 1.296 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungs und Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die bei der Beklagten unfallversicherte Klägerin stürzte am beim Skifahren und verletzte sich. Dem Versicherungsvertrag liegen die ***** Bedingungen für die Unfallversicherung [U 500; Fassung 1/2005] zu Grunde, die unter anderem folgende Bestimmungen enthalten:

„ Wann sind unsere Leistungen fällig und wann verjähren sie ? Artikel 17

1. Wir sind verpflichtet, innerhalb eines Monats, bei Ansprüchen auf Leistung für dauernde Invalidität innerhalb von drei Monaten, zu erklären, ob und in welcher Höhe wir eine Leistungspflicht anerkennen. ...

...

In welchen Fällen und nach welchen Regeln entscheidet die Ärztekommission? Artikel 18

1. Im Fall von Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallfolgen oder darüber, in welchem Umfang die eingetretene Beeinträchtigung auf den Versicherungsfall zurückzuführen ist, entscheidet die Ärztekommission. Auch über die Beeinflussung der Unfallfolgen durch Krankheiten oder Gebrechen sowie im Falle des unter 'Dauernde Invalidität' angeführten Artikel 7 Pkt. 8 entscheidet die Ärztekommission.

2. In den nach Pkt. 1 der Ärztekommission zur Entscheidung vorbehaltenen Meinungsverschiedenheiten kann der Anspruchsberechtigte innerhalb von sechs Monaten nach Zugang unserer Erklärung Widerspruch erheben und mit Vorlage eines medizinischen Gutachtens unter Bekanntgabe seiner Forderung (gemäß Art. 17 Pkt. 1 Fälligkeit unserer Leistungen) die Entscheidung der Ärztekommission beantragen.

3. Das Recht, die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen, steht auch uns zu.

...“

In der kurz nach dem Unfall der Beklagten übermittelten Schadensmeldung gab die Klägerin an, beim Skifahren gestürzt zu sein und sich dabei einen Seitenbandriss rechts zugezogen zu haben. Der von der Beklagten beauftragte unfallchirurgische Sachverständige schätzte die Unfallfolgen mit 5 % des Beinwerts ein. Auf Basis dieses Beinwerts errechnete die Beklagte im August 2010 eine Entschädigung von 7.874 EUR und zahlte diesen Betrag an die Klägerin aus.

Die Beklagte erfuhr erstmals bei Zustellung des Zahlungsbefehls (am ), dass die Klägerin mit der im August 2010 vorgenommenen Abrechnung nicht einverstanden ist und hinsichtlich des Ausmaßes der Unfallfolgen eine Meinungsverschiedenheit vorliegt. Sie rief mit Schreiben vom die Ärztekommission an. Mit Schreiben des Klagevertreters vom erklärte die Klägerin gegenüber der Beklagten, keinen Vertrauensarzt namhaft zu machen, weil die Sechsmonatsfrist längst abgelaufen sei.

Die Klägerin begehrte 15.747,85 EUR sA und brachte vor, am einen Skiunfall mit diversen Verletzungen des rechten Beins und Dauerfolgen erlitten zu haben. Der Beinwert sei bedingungsgemäß mit 70 % der Versicherungssumme bewertet, sodass die Beklagte ausgehend von einer Beinwertminderung von 5 % 7.874 EUR geleistet habe. Richtigerweise liege aber eine Beinwertminderung von 15 % vor, sodass ihr noch der Klagsbetrag zustehe.

Die Beklagte wendete ein, dass sie mit Schreiben vom die Ärztekommission einberufen habe. Da sie erst durch die Zustellung des bedingten Zahlungsbefehls von einer Meinungsverschiedenheit im Sinn des Art 18 U 500 erfahren habe, sei die Frist zu deren Einberufung noch nicht verstrichen. Diese beginne erst nach Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit zu laufen. Auf Grund des fristgerecht eingeleiteten und noch nicht abgeschlossenen Ärztekommissionsverfahrens sei die Leistung noch nicht fällig.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Sechsmonatsfrist des Art 18.2. U 500 könne begrifflich erst ab Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit zu laufen beginnen. Die Meinungsverschiedenheit sei gemäß Art 18.1. U 500 Grundvoraussetzung für die Anrufung der Ärztekommission. Das Recht der Beklagten, gemäß Art 18.3. U 500 die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen, könne erst nach Einlangen eines „Widerspruchs“ des Versicherungsnehmers gegen die Leistungsabrechnung erstmals ausgeübt werden. Da die Beklagte erst durch die Zustellung des Zahlungsbefehls von einer Meinungsverschiedenheit Kenntnis erlangt habe, sei das Ärztekommissionsverfahren fristgerecht eingeleitet worden, der Entschädigungsanspruch noch nicht fällig und das Klagebegehren abzuweisen. Dass die Klägerin die Benennung eines Arztes in die Ärztekommission verweigere, führe nicht dazu, dass das Ärztekommissionsverfahren beendet sei. Art 18 U 500 regle für diesen Fall Bestellungsmodalitäten durch die Österreichische Ärztekammer.

Das Berufungsgericht hob die erstinstanzliche Entscheidung auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Urteilsfällung an das Erstgericht zurück, wobei es aussprach, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei. Rechtlich führte es aus, die für die Anrufung der Ärztekommission vorgesehene Frist betrage gemäß Art 18.2. U 500 sechs Monate und beginne mit Zugang „unserer Erklärung“, womit unmissverständlich die Erklärung des Versicherers nach Art 17.1. U 500, ob und in welcher Höhe er eine Leistungspflicht anerkenne, gemeint sei. Die Kenntnis des Versicherers von einer Meinungsverschiedenheit habe auf den Beginn dieser Frist keinen Einfluss. Ein solcher sei dem eindeutigen Wortlaut des Art 18.2. U 500 nicht zu entnehmen. Auch stehe der Zweck der Ärztekommission, nämlich die Herbeiführung einer raschen und kostengünstigen Entscheidung über die Höhe des Anspruchs, einer Hinausschiebung des Fristbeginns entgegen. Vor allem sei nicht ersichtlich, wieso der Fristenlauf für den Versicherungsnehmer und den Versicherer unterschiedlich beginnen solle. Da Feststellungen „zum Zugang der Leistungserklärung des Versicherers“ und zur Höhe der begehrten Leistung fehlten, sei die Aufhebung des erstgerichtlichen Urteils zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Urteilsfällung erforderlich.

Der Rekurs sei gemäß § 519 Abs 2 iVm § 502 (Abs 1) ZPO zur Klärung der Rechtsfrage zulässig, ob die sechsmonatige Frist zur Anrufung der Ärztekommission auch für den Versicherer ab Zugang seiner Leistungserklärung an den Versicherten (Versicherungsnehmer) zu laufen beginne.

Rechtliche Beurteilung

Der von der Klägerin beantwortete Rekurs der Beklagten ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Er ist auch berechtigt.

1. Die im Unfallversicherungsvertrag zu Gunsten beider Parteien (Art 18.2. und Art 18.3. U 500) zum Zweck der Herbeiführung einer raschen und kostengünstigen Entscheidung über die Höhe des Invaliditätsgrades vorgesehene Einrichtung einer Ärztekommission stellt einen Schiedsgutachtervertrag im Sinn des § 184 Abs 1 VersVG (vgl auch § 64 Abs 1 VersVG) dar, dem zwar keine prozesshindernde Wirkung zukommt, der aber bewirkt, dass der Anspruch des Versicherungsnehmers in materiell rechtlicher Hinsicht grundsätzlich nicht fällig ist, solange das Ärztekommissionsverfahren nicht durchgeführt wurde (RIS Justiz RS0081371, RS0082250; 7 Ob 51/09i; 7 Ob 214/09k).

2. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach Vertragsauslegungsgrundsätzen (§§ 914 f ABGB) auszulegen. Die Auslegung hat sich daher am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren. Die einzelnen Klauseln der Versicherungsbedingungen sind, wenn sie wie hier nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf ihren Wortlaut auszulegen. In allen Fällen ist der einem objektiven Beobachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu berücksichtigen. Unklarheiten gehen im Sinn des § 915 ABGB in aller Regel zu Lasten des Versicherers (RIS Justiz RS0008901 [T5, T 11]; RS0017960; RS0050063 [T3, T 6]; RS0112256 [T10]).

3.1. Voraussetzung für die Anrufung der Ärztekommission ist das Vorliegen einer Meinungsverschiedenheit im Sinn des Art 18.1. U 500. Die Ärztekommission ist fakultativ zu Gunsten beider Parteien des Unfallversicherungsvertrags eingerichtet (7 Ob 56/02i zur inhaltsgleichen Bedingungslage des Art 15 AUVB 1989/SS 300).

Gemäß Art 18.2. U 500 kann der „Anspruchsberechtigte“ (Versicherungsnehmer/Versicherte) innerhalb von sechs Monaten nach Zugang der Erklärung der Beklagten nach Art 17.1. U 500 unter bestimmten Voraussetzungen die Entscheidung der Ärztekommission beantragen. Für den Versicherungsnehmer/Versicherten beginnt zu diesem Zeitpunkt die Sechsmonatsfrist für die Anrufung der Ärztekommission.

Art 18.3. U 500 („Das Recht, die Entscheidung der Ärztekommission zu beantragen, steht auch uns [der Beklagten] zu“) enthält nach seinem Wortlaut weder einen Hinweis auf den Beginn noch auf die Dauer einer Frist für den Unfallversicherer. Diese Bestimmung steht aber systematisch im Konnex mit Art 18.1. U 500. Bevor der Versicherer keine Kenntnis von der dort angeführten Meinungsverschiedenheit mit dem Versicherungsnehmer/Versicherten hat, kann er die Entscheidung der Ärztekommission (sinnvollerweise) nicht beantragen. Zweck der Einrichtung der Ärztekommission ist es, Meinungsverschiedenheiten über die Höhe des Invaliditätsgrades rasch beizulegen (vgl 7 Ob 56/02i; 7 Ob 222/09m). Für die Anrufung der Ärztekommission ist aber erforderlich, dass derjenige, der diese beantragen will, Kenntnis vom Vorliegen einer in Art 18.1. U 500 genannten Meinungsverschiedenheit hat.

3.2. Nach der Rechtsprechung ist eine Klage des Versicherungsnehmers vor Ablauf der (hier in Art 18.2. U 500) vorgesehenen Sechsmonatsfrist möglich, es sei denn, der Versicherer würde innerhalb der Frist auf seinem Recht der Anrufung der Ärztekommission bestehen. Mit Rücksicht auf den Zweck der Einrichtung der Ärztekommission, Meinungsverschiedenheiten rasch beizulegen, ist von einem Versicherer, der noch vor Ablauf der vorgesehenen Sechsmonatsfrist vom Versicherungsnehmer klagsweise in Anspruch genommen wird, zur Vermeidung von Verzögerungen zu verlangen, dass er den Einwand, seinerseits die Ärztekommission anrufen zu wollen, ungesäumt erhebt. Widrigenfalls ist ein Verzicht der Beklagten, ihrerseits die Ärztekommission zu beantragen, anzunehmen (7 Ob 56/02i; 7 Ob 222/09m). In diesen Entscheidungen war beiden Parteien vor Klagseinbringung klar, dass ein Streit über die Anspruchshöhe besteht. Ab wann die Frist für den Versicherer zu laufen beginnt, blieb ungeklärt. Diese Frage war auch nicht entscheidend, weil die Versicherer gar nicht erklärten, einen Antrag auf Entscheidung durch die Ärztekommission stellen zu wollen.

3.3. In der Schadensmeldung zeigte die Klägerin der Beklagten nur den Unfall und ihre dadurch erlittene Verletzung an. Die Beklagte errechnete daraufhin unter Zugrundelegung eines Beinwerts von 5 % eine Entschädigung von 7.874 EUR, teilte dies der Klägerin im August 2010 mit und leistete diesen Betrag an sie. Kenntnis von einer Meinungsverschiedenheit konnte die Beklagte im Zeitpunkt des Zugangs ihrer Leistungserklärung an die Klägerin im August 2010 nicht haben.

Die Klägerin erhob in weiterer Folge die Leistungsklage, weil sie mit der eingeschätzten Beinwertminderung (15 % anstatt des von der Beklagten zu Grunde gelegten Beinwerts von 5 %) nicht zufrieden ist. Dabei handelt es sich um eine Meinungsverschiedenheit im Sinn des Art 18.1. U 500. Die Beklagte erhielt erstmals mit Zustellung des Zahlungsbefehls (am ) Kenntnis von der Meinungsverschiedenheit. Daraufhin beantragte sie noch innerhalb tolerierbarer Frist mit Schreiben vom vor Erhebung des Einspruchs gegen den Zahlungsbefehl die Entscheidung der Ärztekommission. Für einen schlüssigen Verzicht auf diese Anrufungsmöglichkeit finden sich hier keine Anhaltspunkte. Infolge des anhängigen Ärztekommissionsverfahrens ist daher das Klagebegehren wie das Erstgericht zutreffend erkannte mangels Fälligkeit abzuweisen.

4. Die Entscheidung über die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens gründet sich auf § 41 ZPO, jene über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens auf § 41 und § 50 ZPO.