OGH vom 06.07.2010, 1Ob81/10h
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fichtenau, Dr. Grohmann, Dr. E. Solé und Dr. Brenn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Beate A*****, vertreten durch Dr. Stefan Gloß, Dr. Hans Pucher, Mag. Volker Leitner, Mag. Christian Schweinzer, Mag. Georg Burger und Dr. Peter Gloß, Rechtsanwälte in St. Pölten, wider die beklagte Partei Michael H*****, vertreten durch Dr. Anton Hintermeier, Mag. Michael Pfleger und Mag. Jürgen Brandstätter, Rechtsanwälte in St. Pölten, wegen Unterhalt, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom , GZ 23 R 37/10d-27, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts St. Pölten vom , GZ 3 C 13/10i 23, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die ansonsten als unbekämpft unberührt bleiben, werden im Umfang der Abweisung des Begehrens auf Zahlung laufenden Unterhalts ab wie folgt abgeändert:
„Der Beklagte ist schuldig, der Klägerin ab an Unterhalt monatlich 250 EUR zu zahlen, und zwar die bis zur Rechtskraft des Urteils fälligen Unterhaltsbeträge binnen 14 Tagen, die in Hinkunft fällig werdenden Unterhaltsbeträge am Ersten eines jeden Monats im Vorhinein.
Der Beklagte ist schuldig, der Klägerin 915,65 EUR (darin enthalten 152,65 EUR USt) an anteiligen Prozesskosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Text
Entscheidungsgründe:
Die Ehe der Streitteile wurde mit Urteil des Erstgerichts vom aus dem Alleinverschulden des Beklagten geschieden. Der Ehe entstammt ein 2005 geborener Sohn, für den die Klägerin allein obsorgeberechtigt ist.
Der Beklagte verdiente in den letzten Jahren als „chief baker“ auf einem Kreuzfahrtschiff einer amerikanischen Schifffahrtsgesellschaft monatlich 3.210 USD zuzüglich Entgelt für Mehrleistungen. Während des Schiffsaufenthalts verfügte er über freie Kost und Unterkunft. Er war immer wieder monatelang auf See, so etwa vom bis , vom bis und vom bis . Seit seinem beruflichen Aufstieg zum „chief baker“ erhielt er sein Monatsgehalt auch in der Zeit seiner Heimataufenthalte weiter ausbezahlt. Ende Juli 2009 beendete er freiwillig und von sich aus seine Tätigkeit für die amerikanische Schifffahrtsgesellschaft. Vom bis war er arbeitslos und bezog täglich 19,50 EUR Notstandshilfe. Seit ist er in Estland als Handelsangestellter tätig und verdient monatlich etwa 7.500 estnische Kronen. Dieser Betrag entspricht dem durchschnittlichen Einkommen eines Handelsangestellten in Estland. Das Durchschnittseinkommen eines Bäckers in Estland liegt unter diesem Betrag. Der Beklagte hat in Österreich kaum noch Anknüpfungspunkte. Seine Lebensgefährtin lebt und arbeitet in Estland, weshalb er sich ungeachtet des damit verbundenen eklatanten Gehaltsverlusts - dazu entschlossen hatte, seinen Lebensmittelpunkt nach Estland zu verlegen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass er den Wohnsitz gewechselt hätte, um sich seinen Unterhaltspflichten zu entziehen.
Die Klägerin ist Einzelhandelskauffrau und Mutter dreier Kinder. Im Laufe der Ehe mit dem Beklagten war sie immer wieder meist geringfügig beschäftigt. Vor der Geburt des gemeinsamen Sohns arbeitete sie 20 Wochenstunden und verdiente etwa 550 EUR monatlich. Nach dem Bezug von Kinderbetreuungsgeld bezog sie Arbeitslosengeld, von bis Krankengeld und seither Notstandshilfe im Betrag von 13,90 EUR täglich. Derzeit absolviert sie einen Kurs des Arbeitsmarktservices mit dem Ziel einer beruflichen Neuorientierung. Ab Juli 2009 wäre es der Klägerin aufgrund ihrer Ausbildung, ihres Gesundheitszustands und des Alters der Kinder möglich gewesen, zumindest wieder einer Halbtagsbeschäftigung nachzugehen, woraus sie ein Einkommen von zumindest 550 EUR monatlich erzielen könnte.
Die Klägerin begehrte den Zuspruch von rückständigem und laufendem Unterhalt, ausgehend vom Einkommen des Beklagten, das dieser als Schiffsbäcker auf dem Kreuzfahrtschiff bezog.
Der Beklagte wendete ein, seine wirtschaftlichen Verhältnisse hätten sich wesentlich geändert, weil sein Arbeitsplatz auf dem Schiff aus wirtschaftlichen Gründen eingespart worden sei. Obwohl er sich für andere Beschäftigungen auf dem Schiff beworben habe, habe er keine Stelle erhalten. Er habe seinen Lebensmittelpunkt nunmehr zu seiner Lebensgefährtin nach Estland verlegt, wo er als Handelsangestellter tätig sei.
Die Klägerin bestritt die angebliche Einsparung des Arbeitsplatzes. Es sei keine Notwendigkeit dafür ersichtlich, dass der Beklagte seinen Wohnsitz in Estland begründet habe. Da allgemein bekannt sei, dass dort nur geringe Einkommensmöglichkeiten bestünden, habe er die nachteiligen Folgen seines niedrigen Verdiensts selbst zu tragen. Zudem sei die Lebensgefährtin des Beklagten jene Frau, die bereits im Scheidungsverfahren als Grund für die behaupteten Eheverfehlungen benannt worden sei.
In der Tagsatzung vom schränkte die Klägerin unter anderem das Unterhaltsbegehren bezüglich laufenden Unterhalts auf 250 EUR monatlich ab ein.
Das Erstgericht sprach der Klägerin rückständigen Unterhalt für den Zeitraum Dezember 2008 bis Juni 2009 im Betrag von 480 EUR sA zu und wies das auf Zuerkennung eines weiteren Unterhaltsrückstands gerichtete Mehrbegehren sowie das Begehren auf Zahlung „laufenden“ Unterhalts ab September 2009 ab. Zu Letzterem führte es aus, der Wohnsitz und Arbeitsplatzwechsel dürfe dem Beklagten nicht angelastet werden, sodass bei der Unterhaltsbemessung von seinem in Estland erzielten bzw erzielbaren Einkommen auszugehen sei.
Das Berufungsgericht änderte das Urteil des Erstgerichts insoweit ab, als es den Beklagten unangefochten verpflichtete, der Klägerin 560 EUR an Unterhaltsrückstand für den Zeitraum Dezember 2008 bis Juli 2009 zu zahlen. Hingegen bestätigte es die Abweisung des Mehrbegehrens auf Leistung von weiterem Unterhaltsrückstand (insoweit unbekämpft) und laufendem monatlichem Unterhalt von 250 EUR ab September 2009. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage bestehe, welches Gewicht die von der bisherigen Rechtsprechung geforderten „berücksichtigungswürdigen Gründe“ haben müssten, um eine Übersiedlung in ein Land mit deutlich geringerem Einkommensniveau ohne Verletzung der Anspannungsobliegenheit zu rechtfertigen. Insbesondere bestehe keine Rechtsprechung dazu, ob die Begründung einer Lebensgemeinschaft gerade mit jener Person, die zur Zerrüttung der Ehe beigetragen habe, einen „berücksichtigungswürdigen Grund“ darstelle.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Klägerin ist zulässig und berechtigt.
Nach der in der Revisionsschrift enthaltenen Anfechtungserklärung wird das Berufungsurteil insofern angefochten, als das Klagebegehren auf Zahlung laufenden Unterhalts in Höhe von 250 EUR monatlich ab abgewiesen wurde. Der Revisionsantrag richtet sich demgegenüber auf Abänderung des Berufungsurteils dahin, dass der Beklagte schuldig erkannt werden soll, der Klägerin an laufendem Unterhalt 250 EUR monatlich ab zu leisten. Im Hinblick auf die Zweifelsregel des § 84 Abs 3 ZPO gilt im Zweifel die gesamte Entscheidung als angefochten. Anderes gilt nur dann, wenn zweifelsfrei und nach objektiven Kriterien feststeht, dass lediglich eine Teilanfechtung gewollt ist. Dabei ist der gesamte Inhalt der Rechtsmittelschrift heranzuziehen (1 Ob 542/90; Kodek in Fasching/Konecny 3 §§ 84, 85 Rz 137). Da sich im vorliegenden Fall mangels Differenzierung die Divergenz aus den Rechtsmittelausführungen nicht aufklären lässt, kann nicht zweifelsfrei die Teilrechtskraft der Entscheidung für die Monate September und Oktober angenommen werden; ein derartiges Verständnis misst auch der Beklagte in seiner Revisionsbeantwortung den Erklärungen der Klägerin nicht bei. In dieser Situation gilt nach § 84 Abs 3 letzter Satz ZPO die Vermutung der vollen Anfechtung ( Fasching, Lehrbuch 2 , Rz 1495). Die Entscheidung gilt demnach auch im Umfang der Abweisung des Unterhaltsbegehrens für September und Oktober 2009 als angefochten.
Richtig ist zwar, dass zu den (typischen) Fällen des Arbeitsplatzverlustes eines Unterhaltspflichtigen judiziert wird, der damit verbundene Einkommensentfall löse auch bei verschuldetem Arbeitsplatzverlust in der Regel nur die Obliegenheit aus, alle nach den konkreten persönlichen und Arbeitsmarktverhältnissen sinnvollen Anstrengungen zu unternehmen, wieder einen Arbeitsplatz mit entsprechenden Verdienstmöglichkeiten zu finden (RIS-Justiz RS0047503). Zum (freiwilligen) Arbeitsplatzwechsel wird hingegen die Auffassung vertreten, ein mit einem „unerzwungenen“ und auch sachlich nicht gerechtfertigten Berufswechsel verbundener Einkommensverlust führe zur Anspannung des Unterhaltspflichtigen und bewirke keine Schmälerung des Unterhaltsanspruchs; er dürfe nicht zu Lasten des Unterhaltsberechtigten gehen (RIS-Justiz RS0047566). Jeden Unterhaltspflichtigen trifft die Obliegenheit, im Interesse der ihm gegenüber Unterhaltsberechtigten alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einzusetzen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (1 Ob 599/90 = SZ 63/74 uva). Der Anspannungsgrundsatz ist nicht auf die Fälle bloßer Arbeitsunwilligkeit beschränkt, sondern greift auch Platz, wenn dem Unterhaltspflichtigen die Erzielung eines höheren als des tatsächlichen Einkommens zugemutet werden kann (RIS-Justiz RS0047550). Das Recht auf freie Berufswahl darf jedenfalls das Recht des Unterhaltsberechtigten auf angemessenen Unterhalt nicht völlig in den Hintergrund drängen. Die Anforderungen an die Anspannung steigen dabei mit dem Umfang der Sorgepflichten (1 Ob 2/02d). Im Hinblick auf die Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern wurde als Maßstab für die Intensität der Einkommensbemühungen das Verhalten eines pflichtbewussten Familienvaters herangezogen. Ein Berufswechsel mag im Rahmen der Erwerbsfreiheit zwar unbenommen bleiben; ein Unterhaltspflichtiger darf aber Änderungen in seinen Lebensverhältnissen, die mit Einschränkungen seiner Unterhaltspflicht verbunden wären, nur insoweit vornehmen, als dies bei gleicher Sachlage ein pflichtbewusster Familienvater getan hätte (7 Ob 78/00x). Nur wenn der Verzicht auf ein höheres Einkommen durch berücksichtigungswürdige Gründe gerechtfertigt ist, kommt der Anspannungsgrundsatz nicht zur Anwendung.
Entsprechend diesen Grundsätzen durfte der Beklagte nicht ohne triftige Gründe seine gehobenen Einkommensverhältnisse aufgeben (2 Ob 591/95). Da die Tatsachen, die zur Anwendung des Anspannungsgrundsatzes und damit zur Annahme eines fiktiven Einkommens für die Unterhaltsbemessung führen, im Informationsbereich des Unterhaltsschuldners liegen, trifft diesen die Behauptungs- und Beweislast hinsichtlich der zu einer Verminderung seiner Unterhaltspflicht führenden Umstände (RIS-Justiz RS0006261; 4 Ob 96/08h). Dieser Beweislast ist der Beklagte nicht nachgekommen. Sein Vorbringen, nach Einsparung seines Arbeitsplatzes sei bei seinem bisherigen Dienstgeber keine andere Arbeitsstelle frei gewesen, fand im Beweisverfahren keine Stütze. Andere Gründe für die Aufgabe seiner Berufstätigkeit auf dem Kreuzfahrtschiff hat er weder in erster Instanz, noch in seiner Berufungsbeantwortung vorgebracht; insbesondere hat er nicht behauptet, aus gesundheitlichen oder anderen maßgeblichen Gründen nicht mehr in der Lage zu sein, diese Tätigkeit weiterhin auszuüben. Er hat auch nicht dargelegt, ob und allenfalls aus welchen Gründen er seine Berufstätigkeit auf dem Kreuzfahrtschiff nicht auch von seinem nunmehrigen Wohnort in Estland aus ausüben könnte. Sein Vorbringen, in Österreich arbeitslos gemeldet gewesen zu sein und anschließend eine seine mehrfachen Unterhaltspflichten bei weitem nicht deckende Beschäftigung als Handelsangestellter in Estland aufgenommen zu haben, ist nicht ausreichend, um seine Anspannung auf ein fiktives höheres Einkommen zu verhindern. Gestatten die persönlichen Fähigkeiten die Erzielung eines den Unterhaltsbedarf deckenden Einkommens, dann muss ein mit einem „unerzwungenem“ Berufswechsel verbundener Einkommensverlust zur Anspannung auf ein tatsächlich nicht (mehr) bezogenes Einkommen führen.
Zu prüfen ist noch, ob die Voraussetzungen für die Anspannung auf das zuletzt bei der Kreuzfahrtlinie bezogene Einkommen oder auf ein nunmehr am Arbeitsmarkt durchschnittlich erzielbares Einkommen gegeben sind. Aufgrund der Umstände des vorliegenden Falls kann aber die ohne zwingenden Grund erfolgte Aufgabe des gut honorierten Arbeitsplatzes nicht anders als ein Indiz dafür gewertet werden, dass der Beklagte sich nicht bemüht, seine Kräfte anzuspannen. Hat er seinen überdurchschnittlich gut entlohnten Arbeitsplatz ohne triftigen Grund aufgegeben und nicht dargelegt, alle zumutbaren Anstrengungen unternommen zu haben, um ein ähnlich hohes Erwerbseinkommen zu erlangen, bleibt seine Übersiedlung nach Estland unmaßgeblich. Deshalb kann auch die Feststellung, er sei nicht zu dem Zweck nach Estland übersiedelt, um seinen Unterhaltspflichten zu entgehen, seinem Rechtsstandpunkt nicht nützen. Vielmehr hat die Anspannung auf das zuletzt erzielte Einkommen als „chief baker“ auf dem Kreuzfahrtschiff zu erfolgen, ohne dass es einer weiteren Prüfung der Unterhaltsbemessungsgrundlage bedarf. Der Beklagte hat sich nach Eigenkündigung ohne sachliche Rechtfertigung so behandeln zu lassen, als hätte er seinen Arbeitsplatz auf dem Kreuzfahrtschiff behalten (vgl RIS Justiz RS0047360; 1 Ob 2/02d; 1 Ob 82/07a; Gitschthaler, Unterhaltsrecht 2 Rz 160).
Liegt die Verletzung der Anspannungsobliegenheit bereits in der ohne sachliche Rechtfertigung erfolgten Aufgabe der gut honorierten Tätigkeit, stellt sich die vom Berufungsgericht als erheblich iSd § 502 Abs 1 ZPO erachtete Frage nicht, ob auch die nachfolgende Übersiedlung in ein Land mit deutlich niedrigerem Einkommensniveau zur Verletzung der Anspannungsobliegenheit führt.
Unter Berücksichtigung des Einkommens des Beklagten von zuletzt 3.163,30 EUR monatlich und dessen weiterer Sorgepflichten sowie des Eigeneinkommens der Klägerin von 417 EUR monatlich findet der ab begehrte monatliche Unterhaltsbetrag in der (fiktiven) Bemessungsgrundlage jedenfalls Deckung.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind daher dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren auf monatlichen Unterhalt in Höhe von 250 EUR ab September 2009 stattzugeben ist.
Zur Kostenentscheidung:
Die Klägerin begehrte von Dezember 2007 bis August 2009 monatlich 196,61 EUR an rückständigem Unterhalt, somit 4.128,80 EUR, wovon sie mit 560 EUR durchgedrungen ist. Hinsichtlich des laufenden Unterhalts ab September 2009 (Bemessungsgrundlage 3.000 EUR) gilt sie als obsiegend. Im Verfahren erster Instanz hat somit Kostenaufhebung einzutreten. Die Kosten der Berufungs- und Revisionsschrift hat der Beklagte zu ersetzen.