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OGH vom 14.02.2006, 4Ob7/06t

OGH vom 14.02.2006, 4Ob7/06t

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Griß als Vorsitzende, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel, Dr. Jensik und Dr. Musger als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Seyed Qassem M*****, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen, vertreten durch Mag. Lukas Leszkovics, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 48 R 133/05x-S9, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom , GZ 1 P 9/05-S4, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung wie folgt zu lauten hat:

Die Obsorge für den mj. Seyed Qassem M*****, geboren , wird dem Jugendwohlfahrtsträger Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend um Familie - Soziale Arbeit mit Familien, Bezirk 23, übertragen.

Text

Begründung:

Das D***** Flüchtlingswerk ***** teilte dem Erstgericht am mit, der am geborene Minderjährige Seyed Qassem M***** halte sich ohne Begleitung als Asylwerber in Österreich auf. Er stamme aus Afghanistan und sei seit im Rahmen der Grundversorgung im Jugendwohnheim ***** des Flüchtlingswerks im 23. Wiener Gemeindebezirk untergebracht. Eine obsorgeberechtigte Person sei nicht vorhanden. Dies bringe in manchen Lebensbereichen Nachteile und Gefährdungen mit sich. Das Bezirksgericht Liesing möge einen Obsorgeberechtigten ermitteln und bis zum Abschluss des Obsorgeverfahrens dem Jugendamt für den 23. Bezirk die Obsorge übertragen.

Das Amt für Jugend um Familie für den 23. Bezirk vertrat in seiner Stellungnahme die Auffassung, eine Gefährdung sei nicht zu befürchten. Die Grundversorgung sei gesichert, in Angelegenheiten des Aufenthaltsrechts übernehme der Jugendwohlfahrtsträger die gesetzliche Vertretung.

Das Erstgericht nahm von einer Obsorgeregelung Abstand. Eine Gefährdung liege angesichts der durch die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern gesicherten Grundversorgung und der gesetzlich vorgesehenen Vertretungspflicht des Jugendwohlfahrtsträgers im Asylverfahren nicht vor.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob eine Gefährdung im Sinne des Art 8 Haager Minderjährigenschutzabkommens (MSA) auch dann bestehe, wenn ein mündiger Minderjähriger im bereits anhängigen Verfahren entsprechend vertreten sei und für seine Grundbedürfnisse Sorge getragen werde. Für die Bestellung eines Obsorgeberechtigten bestehe im vorliegenden Fall kein Anlass. Nach Art 8 MSA seien in die bestehende gesetzliche Obsorge eingreifende Maßnahmen zum Schutz eines Minderjährigen nur dann zu treffen, wenn dieser in seiner Person oder in seinem Vermögen ernstlich gefährdet sei. Dies sei hier nicht der Fall. Der Minderjährige erhalte Grundversorgung durch Unterbringung, Verpflegung, Krankenversicherung und Taschengeld; er werde im Asylverfahren vom Jugendwohlfahrtsträger vertreten. Dass eine weitere Regelung seiner Angelegenheiten erforderlich wäre oder eine konkrete Gefährdung vorläge, sei weder dem Akt noch seinem Vorbringen zu entnehmen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Minderjährigen ist berechtigt. Der Minderjährige macht geltend, nach der Systematik des Haager Minderjährigenschutzabkommens seien für den Schutz seiner Person und seines Vermögens primär die Behörden jenes Staates zuständig, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt genommen habe. Die Behörden des Herkunftsstaates seien nämlich nur berechtigt, zu seinem Wohl erforderliche Maßnahmen zu treffen, nachdem sie die Behörden des Aufenthaltsstaates verständigt hätten. Grundregel sei daher, dass zunächst die Behörden des Aufenthaltsstaates - hier Österreich - einschreiten sollten und erst subsidiär jene des Herkunftsstaates. Art 8 MSA sei eine Ausnahme von Art 4 und ändere nichts an der Vorrangstellung des Art 1. Eine ernstliche Gefährdung sei daher nicht Voraussetzung der angestrebten Obsorgeregelung. Der Minderjährige lebe allein in Österreich, sein Vater sei verstorben, die Mutter unbekannten Aufenthalts, eine Person, die seine Obsorge ausüben könne, sei in Österreich nicht vorhanden. Er bedürfe einer gesetzlichen Vertretung in rechtsgeschäftlichen Angelegenheiten, wie auch im Bereich der Pflege und Erziehung. Im Übrigen sei sein Fortkommen auch im Sinn des Art 8 ernstlich gefährdet. Es bestehe die konkrete Gefahr, dass er seinen Halt in der Gesellschaft verlieren und eine kriminelle Laufbahn einschlagen könnte. Diese Gefahr habe sich bereits realisiert. Er sei einer gerichtlichen Verfolgung wegen Besitzes von Suchtmitteln ausgesetzt gewesen.

1. Zur Anwendung des Haager Minderjährigenschutzabkommens:

Das Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen, BGBl 1975/446 (MSA) erfasst alle Maßnahmen zum Schutz Minderjähriger. Im Interesse eines möglichst umfassenden und effizienten Schutzes enthält das Abkommen Regelungen über die (konkurrierende) Zuständigkeit des Heimatstaates und des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts (Näheres bei Anzinger in Burgstaller, Internationales Zivilverfahrensrecht Rn 5.52 f). Seine Anwendung setzt die Minderjährigkeit des Schutzbedürftigen und dessen gewöhnlichen Aufenthalt im jeweiligen Vertragsstaat voraus (Art 12 und 13 MSA). Nach den Sachverhaltsannahmen der Vorinstanzen ist Seyed Qassem M***** am geboren und demnach minderjährig. Diese Annahme wird durch den Akteninhalt nicht widerlegt.

Ob und gegebenenfalls an welchem Ort ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinn des § 13 Abs 1 MSA begründet wurde, richtet sich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz (Anzinger aaO Rz 5.63 mwN). Nach dem Akteninhalt ist nicht zweifelhaft, dass der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt zunächst im 23. Wiener Gemeindebezirk begründet und sich im Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz dort auch aufgehalten hat. Dass sein Aufenthaltsort seit unbekannt ist, hindert die Anwendung des Haager Minderjährigenschutzabkommens nicht. Es bestehen auch keinerlei Anhaltspunkte, dass er seinen Aufenthalt an einen Ort außerhalb Österreichs verlegt haben könnte. Von der Anwendbarkeit des Haager Minderjährigenschutzabkommens ist daher auszugehen. Seine Anwendbarkeit wird vom Jugendwohlfahrtsträger im Übrigen auch nicht bestritten.

2. Zum Verhältnis der Art 1, 3, 4, 5 und 8 MSA:

Der Revisionsrekurs macht geltend, nach Art 1 MSA seien primär die Behörden des Aufenthaltsstaates für den Schutz des Minderjährigen zuständig. Sie müssten auch ohne Vorliegen einer besonderen Gefährdung die geeigneten Maßnahmen treffen. Art 8 schaffe nur eine Ausnahmeregelung zur (subsidiären) Zuständigkeit der Behörden des Heimatstaates und ändere nichts an der Vorrangstellung des Art 1. Diese Auffassung wird auch von einem Teil des Schrifttums vertreten (siehe dazu Anzinger aaO Rz 5.85 f mwN).

Ob dieser Auffassung zufolge die Behörden des Aufenthaltsstaates Maßnahmen zum Schutz eines Minderjährigen auch ohne Vorliegen einer ernstlichen Gefährdung im Sinn des Art 8 MSA zu treffen haben, ist im vorliegenden Fall nicht entscheidend, weil eine derartige Gefährdung jedenfalls gegeben ist.

Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom , 7 Ob 209/05v, unter Bezugnahme auf das Schrifttum (Anzinger aaO und Hacker, Gerichtliche Obsorgeregelung für unbegleitete minderjährige Fremde, ÖA 2002, 108) bereits ausgeführt, dass an den Begriff „ernstlich" keine überzogenen Anforderungen zu stellen sind. Die Prüfung habe sich - wie bei allen pflegschaftsgerichtlichen Entscheidungen - am Kindeswohl zu orientieren und dürfe nicht nur darauf abstellen, ob die Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnung, Kleidung, Schulbesuch und medizinische Behandlung im Krankheitsfall gedeckt sind. Vielmehr seien auch die weiteren, von der Pflege des Minderjährigen umfassten Aspekte (§ 146 ABGB), wie insbesondere die Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte und die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten, zu berücksichtigen. Würden diese vernachlässigt, erscheine das Kindeswohl auch dann gefährdet, wenn für Essen, Wohnung, Kleidung des Minderjährigen gesorgt sei. Ein unbegleitet nach Österreich gekommener minderjähriger Asylwerber bedürfe daher über die Deckung seiner Grundbedürfnisse und die Vertretung im Asylverfahren hinaus einer entsprechenden Unterstützung, die ihm nur im Rahmen der vollen Obsorge zuteil werden könne. Diese umfasse nach der Legaldefinition des § 144 ABGB neben der Pflege, der Erziehung und der Vermögensverwaltung auch die Vertretung des Minderjährigen in allen anderen Angelegenheiten. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an. Die die Obsorge regelnden Bestimmungen des ABGB im Zusammenhang mit den Fragen der Notwendigkeit der Obsorgeregelung und des Inhalts und Umfangs der mit der Betrauung der Obsorge verbundenen Rechte und Pflichten unterscheiden nicht zwischen österreichischen Staatsbürgern und Fremden. Die Versagung pflegschaftsbehördlichen Schutzes in Fällen, in denen (bloß) die Grundversorgung und die Vertretung im Asylverfahren gesichert ist, führte zu einer Ungleichbehandlung in- und ausländischer Minderjähriger.

Im Übrigen besteht - worauf der Rechtsmittelwerber zutreffend hinweist - gerade für minderjährige Flüchtlinge, die auf sich allein gestellt sind, eine besondere Gefahr, ins kriminelle Milieu abzudriften. Die Deckung der Grundbedürfnisse und die Vertretung im Asylverfahren allein reichen nicht aus, um die Gefährdung für Wohlergehen und Fortkommen hintanzuhalten. Diese Gefährdung hat sich im vorliegenden Fall (zeitlich nach der Entscheidung der Vorinstanzen) bereits realisiert. Der Minderjährige war nämlich wegen Suchtmittelbesitzes einer gerichtlichen Verfolgung ausgesetzt. Die Voraussetzungen für die Bestellung einer obsorgeberechtigten Person im Sinn des § 213 ABGB sind gegeben. Dass andere, dem Minderjährigen nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen vorhanden wären und als Obsorgeberechtigte in Frage kämen, ist dem Akt nicht zu entnehmen und wird vom Jugendwohlfahrtsträger auch nicht behauptet.

In Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen wird die Obsorge jenem Jugendwohlfahrtsträger übertragen, in dessen Sprengel sich der Minderjährige im Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz aufgehalten hat.