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OGH vom 10.06.1992, 3Ob514/92

OGH vom 10.06.1992, 3Ob514/92

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Klinger, Dr.Angst, Dr.Redl und Dr.Graf als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am geborenen Julia H*****, infolge Revisionsrekurses des Vaters Dr.Reinald H*****, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgerichtes vom , GZ 47 R 964/91-24, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Liesing vom , GZ 1 P 236/90-12, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die Ehe der Eltern der Pflegebefohlenen wurde am über ihr einvernehmliches Begehren geschieden. Gemäß der anläßlich der Scheidung getroffenen, pflegschaftsbehördlich genehmigten Vereinbarung kommt die Obsorge für das Kind der Mutter allein zu.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters vom , die Obsorge für das Kind den Eltern gemeinsam zuzuteilen, ab. Die Eltern hätten den Antrag nicht gemeinsam gestellt und lebten mit dem Kind auch nicht in dauernder häuslicher Gemeinschaft, weshalb die Voraussetzungen des § 167 und § 177 Abs 3 ABGB nicht erfüllt seien.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters des Kindes nicht Folge und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Die Rechtsansicht des Erstgerichtes treffe zu. Da die Mutter durch ihren Vertreter am erklärt habe, nicht damit einverstanden zu sein, daß die Obsorge für das Kind den Eltern gemeinsam zugewiesen werde, und da die Eltern überdies mit dem Kind nicht in dauernder häuslicher Gemeinschaft lebten, müsse nicht geprüft werden, ob die Zuteilung der Obsorge an beide Elternteile dem Kindeswohl entspreche. In der in EvBl 1991/99 veröffentlichten Entscheidung habe der Oberste Gerichtshof allerdings ausgesprochen, es könne nicht vornherein gesagt werden, daß die zwar nicht den Buchstaben des § 177 Abs 1 ABGB, wohl aber dessen Intentionen (Förderung des Kindeswohls) gerecht werdende Vereinbarung der im Sinn des § 55a EheG scheidungswilligen Eltern, auch weiterhin die Obsorge für ihr minderjähriges Kind zu übernehmen, auf keinen Fall pflegschaftsgerichtlich genehmigt werden könne. Hier gehe es aber nicht um die Genehmigung des Scheidungsvergleichs der Eltern, sondern um die Frage, ob geschiedenen Eltern mit getrenntem Wohnsitz die gemeinsame Obsorge für ein minderjähriges Kind zugewiesen werden könne. Dies sei zu verneinen, weil die im § 167 ABGB hiefür vorgelegenen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Der vom Vater des Kindes gegen diesen Beschluß des Rekursgerichtes erhobene Revisionsrekurs ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Den Schwerpunkt der Rekursausführungen bildet die Ansicht, daß schon § 177 Abs 1 und 2 ABGB die Zuteilung der Obsorge für ein Kind an beide Eltern gemeinsam zulasse und erfordere, wenn sie dem Wohl des Kindes entspreche. Der Oberste Gerichtshof hat aber schon in seiner Entscheidung vom , 5 Ob 536/91 (= JUS-EXTRA 1991/888) und somit nach dem Vorliegen der Entscheidung vom , 8 Ob 719/89 (= EvBl 1991/99 = ÖA 1991, 54) und abweichend von der darin angedeuteten Möglichkeit ausgesprochen, daß die Obsorge über die gemeinsamen Kinder beiden geschiedenen Elternteilen gemeinsam nur für den Fall des Bestehens der dauernden häuslichen Gemeinschaft zugeteilt werden dürfe. Eine Auslegung des § 177 Abs 3 ABGB idF des KindRÄG BGBl 1989/162 dahin, daß auch im Fall des Nichtbestehens einer dauernden häuslichen Gemeinschaft zwischen den geschiedenen Ehegatten die Zuteilung der Obsorge an beide Elternteile gemeinsam erfolgen könnte, verbiete sich aus dem Gesetzeswortlaut selbst und sei auch generell vom Wohl der Kinder her gesehen nicht erforderlich.

Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung auch für § 177 Abs 1 und 2 ABGB an. Jede Auslegung eines Gesetzes findet am äußersten Wortsinn der anzuwendenden Bestimmung ihre Grenze (SZ 57/181). Im § 177 Abs 1 und 2 ABGB deuten aber schon die Worte "wem von ihnen" (Abs 1) und "welchem Elternteil" (Abs 2) eindeutig darauf hin, daß immer nur ein Elternteil gemeint ist. Wenn aber der Gesetzgeber außerdem noch das Wort "allein" verwendet hat, verbietet der Wortlaut der angeführten Bestimmung, daß die Obsorge für ein Kind auch dann beiden Elternteilen gemeinsam zugeteilt wird, wenn § 177 Abs 3 iVm § 167 ABGB nicht angewendet werden kann, weil die Eltern mit dem Kind nicht in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben.

Diese Ansicht wird auch von Pichler (ÖA 1991, 55 f) vertreten, der die Entscheidung 8 Ob 719/89 ablehnt und zutreffend darauf hinweist, daß dem - in der Entscheidung allerdings gar nicht ausdrücklich verwendeten - Argument, § 177 Abs 1 und 2 ABGB könne nur für nach Eintritt der Rechtskraft der Scheidung geschlossene Vereinbarungen gelten, die im § 55a Abs 2 EheG enthaltene Wortfolge "für den Fall der Scheidung" entgegensteht. Überdies könnte für eine unterschiedliche Behandlung von vor und nach Eintritt der Rechtskraft der Scheidung geschlossenen Vereinbarungen kein Grund gefunden werden.

Auch die Gesetzesmaterialien bieten einen Anhaltspunkt dafür, daß nur die dargelegte Auslegung der Absicht des Gesetzgebers entspricht. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage betreffend das Bundesgesetz über die Neuordnung der Rechtsstellung des ehelichen Kindes (Gesetz geworden als Bundesgesetz über die Neuordnung des Kindschaftsrechts BGBl 1977/403), mit dem § 177 Abs 1 und 2 ABGB im wesentlichen die geltende Fassung erhielt, heißt es nämlich, daß bei Vorliegen der im § 177 Abs 1 ABGB angeführten Entscheidungsvoraussetzungen "nur" ein Elternteil die Pflege und Erziehung, die Vermögensverwaltung und die gesetzliche Vertretung des minderjährigen ehelichen Kindes ausüben darf und daß das Kind rechtlich nur noch eine Hauptbezugsperson haben solle (60 BlgNR 14.GP 35). Im Bericht des Justizausschusses über die angeführte Regierungsvorlage wird mit der Regelung "eines der wichtigsten Anliegen des Gesetzesvorhabens erfüllt: demjenigen Elternteil, dem nach der Scheidung die Kinder zugesprochen werden, stehen nicht nur die Pflege und Erziehung, sondern auch die gesetzliche Vertretung und die Vermögensverwaltung allein zu" (587 BlgNR 14.GP 2). Wenngleich die Regelung mit dem Ziel geschaffen wurde, das Auseinanderklaffen zwischen Pflege und Erziehung einerseits und Vermögensverwaltung und Vertretung andererseits zu vermeiden (vgl EBzRV aaO), kann doch davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber unabhängig davon die Übertragung der Obsorge nur an einen Elternteil im Auge hatte.

Schließlich deutet auch § 177 Abs 3 ABGB darauf hin, daß die dargestellte Auslegung auch der Absicht des Gesetzgebers entspricht, weil diese Bestimmung überflüssig wäre, wenn die Obsorge unabhängig vom Bestehen einer dauernden häuslichen Gemeinschaft beiden Elternteilen zugeteilt werden könnte.

Der Versuch des Rekurswerbers, eine andere Auslegung daraus abzuleiten, daß im § 177 Abs 1 und 2 ABGB auch das Wohl des Kindes angeführt wird, überzeugt nicht. Die betreffenden Satzteile können in ihrem Zusammenhang nur so verstanden werden, daß es dem Wohl des Kindes entsprechen muß, daß die Obsorge gerade jenem Elternteil zukommt, dem sie nach der Vereinbarung der Eltern zukommen soll; sie ermöglicht es aber nicht, die Obsorge beiden Elternteilen auch dann zuzuteilen, wenn sie nicht in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben.

Nach Ansicht des erkennenden Senates bestehen gegen § 177 Abs 1 und 2 ABGB entgegen der im Revisionsrekurs vertretenen Meinung keine verfassungsrechtliche Bedenken. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfSlg 12.103 = ZfRV 1990, 215 § 177 Abs 1 ABGB bereits auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft und diese bejaht. Er hat hiezu unter anderem ausgeführt, daß es bei Übertragung aller aus den familienrechtlichen Beziehung zwischen Eltern und minderjährigen Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten allein an einen Elternteil den Eltern ohnehin nicht verwehrt sei, in einer Vereinbarung über das Besuchsrecht oder über Anhörungsrechte die im § 178 ABGB vorgesehenen Mindestrechte auszubauen. Auch hindere sie nichts daran, trotz Übertragung der Rechte und Pflichten an bloß einen Elternteil in der faktischen Ausübung dieser Rechte und Pflichten einvernehmlich vorzugehen und auch - solange dieses Einvernehmen besteht - die gesetzliche Vertretung gegenüber Dritten nach ihrem Gutdünken (etwa durch Erteilung einer Vollmacht des gesetzlichen Vertreters an den anderen Elternteil) untereinander aufzuteilen, sofern ein Bedürfnis hiefür besteht. Der Überlassung der persönlichen Rechte und Pflichten an bloß einen Elternteil allein komme somit ohnehin solange keine praktische Bedeutung zu, solange die Eltern tatsächlich einvernehmlich handeln. Einem Gesetzgeber, der auf das Wohl des Kindes aus einer geschiedenen Ehe bedacht ist, könne nicht entgegengetreten werden, wenn er einvernehmliches Vorgehen geschiedener Eltern ermögliche, aber dennoch sofort bei der Scheidung eine klarere Regelung darüber anstrebe, wer Entscheidungen über das Kind zu treffen hat, falls ein Einvernehmen zwischen den Eltern nicht (mehr) besteht. Er müsse nicht vorsehen, daß zunächst eine Vereinbarung der Eltern über ein gleichberechtigtes Mitspracherecht pflegschaftsbehördlich genehmigt und im Falle des Streites erst zu einem späteren Zeitpunkt und in einem weiteren Verfahren eine einseitige Überlassung der Rechte und Pflichten an einen Elternteil vorgesehen wird. Es sei im Ergebnis gleichwertig, wenn der Gesetzgeber von Anfang an eine klare Regelung für den Streitfall treffe und es bis dahin letztlich den Eltern überlasse, trotz pflegschaftsbehördlicher Genehmigung der Überlassung der Rechte und Pflichten an nur einen Elternteil faktisch einvernehmlich vorzugehen. Damit werde bloß ein zweites Verfahren vor dem Pflegschaftsgericht vermieden. § 177 Abs 1 ABGB müsse auch im Zusammenhang mit § 55a Abs 2 EheG gesehen werden. Der Gesetzgeber könne zulässigerweise davon ausgehen, daß zum Zeitpunkt der (einvernehmlichen) Ehescheidung Überlegungen in bezug auf das Wohl des Kindes gegenüber den sonstigen anläßlich einer Ehescheidung zu treffenden Entscheidungen, ja überhaupt gegenüber dem Wunsch, rasch geschieden zu werden, oft in den Hintergrund treten. Die (selbst ehrlich gemeinte) Absicht der Scheidungswilligen zur gemeinsamen Ausübung der Rechte und Pflichten gegenüber ihren Kindern werde daher auch oft unrealistisch sein. Ein Gesetzgeber, der unter diesen Umständen eine Regelung treffe, nach der Entscheidungen über ein Kind aus geschiedener Ehe sehr rasch von einem Elternteil getroffen werden können, hiebei aber das Einvernehmen mit dem anderen Elternteil nicht ausschließe oder erschwere, wähle ein geeignetes Mittel, um das Wohl des Kindes sicherzustellen. Der dadurch bewirkte Eingriff in das Grundrecht des anderen Elternteils sei auch nicht unverhältnismäßig, zumal die Herstellung des Einvernehmens nicht ausgeschlossen werde und - selbst im Streitfall - der Ausschluß eines Elternteiles von den elterlichen Rechten durch eine Reihe von Bestimmungen, die ihm eine Mitwirkung ermöglichen, stark gemildert sei.

Der Verfassungsgerichtshof hat im angeführten Erkenntnis zwar nur geprüft, ob § 177 Abs 1 ABGB wegen des vom Obersten Gerichtshof damals geltend gemachten Widerspruchs zu Art 8 MRK verfassungswidrig ist, und damit nicht, ob die Verfassungswidrigkeit wegen der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (Art 7 B-VG) gegeben ist. Der erkennende Senat ist aber der Meinung, daß die wiedergegebenen Ausführungen aus den Entscheidungsgründen des Erkenntnisses die sachliche Rechtfertigung dafür aufzeigen, daß der Gesetzgeber im § 177 Abs 1 und 2 ABGB nach der Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe einen Elternteil in bezug auf die Ausübung der Obsorge gegenüber dem anderen ungleich behandelt, und daß dasselbe auch für die ungleiche Behandlung des betroffenen Kindes im Verhältnis zu einem Kind, deren Eltern in aufrechter Ehe leben, gilt. Er kommt daher zu dem Ergebnis, daß gegen die angeführte Bestimmung auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, weshalb er sich nicht veranlaßt sieht, den Verfassungsgerichtshof neuerlich zu befassen.

Die im Revisionsrekurs enthaltenen umfangreichen Ausführungen des Inhalts, daß es allgemein besser dem Wohl des Kindes entspreche, wenn nach der Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe die Obsorge für ein Kind beiden Eltern gemeinsam zugeteilt wird, und daß dies auch für den hier zu entscheidenden Fall gelte, sind nicht zielführend. Dem ersten Argument kann nur vom Gesetzgeber Rechnung getragen, das zweite Argument kann wegen der eindeutigen Gesetzeslage nicht beachtet werden. Es kann daher auch den im Revisionsrekurs zur Frage des Kindeswohls gestellten Beweisanträgen ein Erfolg nicht beschieden sein, ganz abgesehen davon, daß der Oberste Gerichtshof zur Aufnahme von Beweisen nicht berufen ist (vgl JUS-EXTRA 1991/855).

Das Rekursgericht hat in seiner Begründung ebenfalls darauf hingewiesen, daß die Frage des Kindeswohls nicht geprüft werden müsse, weil die sonst für die Zuteilung der Obsorge an beide Elternteile erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Es hat damit auch zum Ausdruck gebracht, warum es das vom Rekurswerber zur Frage des Kindeswohls beantragte Sachverständigengutachten nicht eingeholt hat. Die im Revisionsrekurs in diesem Zusammenhang geltend gemachte Nichtigkeit liegt daher schon aus diesem Grund nicht vor.

Die vom Rekurswerber beantragte Zuteilung der Obsorge an beide Elternteile käme daher nur auf Grund des § 177 Abs 3 iVm § 167 ABGB in Betracht. Dies würde aber nicht nur voraussetzen, daß die Verfügung für das Wohl des Kindes nicht nachteilig ist, sondern auch, daß die Eltern die Verfügung gemeinsam beantragen und mit dem Kind in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben. Beide Voraussetzungen sind aber, wie schon die Vorinstanzen richtig erkannten, hier nicht erfüllt. Daß die verhältnismäßig geringe Entfernung zwischen dem Wohn- oder Aufenthaltsort der getrennt lebenden Eltern einer dauernden häuslichen Gemeinschaft nicht gleichgehalten werden kann, bedarf keiner näheren Begründung, zumal, wie Pichler (ÖA 1991, 56) zutreffend bemerkt, die gegenteilige Annahme dann, wenn die Ehe der Eltern im Einvernehmen geschieden wurde, oft damit in Widerspruch stünde, daß die Scheidung gemäß § 55a Abs 1 EheG die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft voraussetzte.

Einem Erfolg des Antrags des Rekurswerbers steht schließlich auch entgegen, daß die Obsorge für das Kind auf Grund der zwischen den Eltern geschlossenen, pflegschaftsbehördlich genehmigten Vereinbarung der Mutter allein zukommt. Der Inhalt dieser Vereinbarung könnte nur bei einer Änderung der Verhältnisse geändert werden, die vom Rekurswerber aber nicht dargetan wurde. Der Umstand, daß nach Abschluß der Vereinbarung die Entscheidung EvBl 1991/99 erging, bedeutet eine solche Änderung nicht.