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OGH vom 27.03.2013, 7Ob10/13s

OGH vom 27.03.2013, 7Ob10/13s

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen J***** E*****, geboren am *****, Mutter M***** E*****, Vater Ing. K***** D*****, über den Revisionsrekurs der Stadt Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie, Soziale Arbeit mit Familien für die Bezirke 1, 4, 5, 1040 Wien, Favoritenstraße 8) gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 43 R 421/12y 40, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom , GZ 3 Ps 284/11p 28, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob neben der Zustimmung des allein obsorgeberechtigten Elternteils im Sinn der §§ 34, 35 WrJWG 1990 zur vom Jugendwohlfahrtsträger veranlassten Maßnahme, nämlich der Unterbringung einer Minderjährigen in einer Wohngemeinschaft, noch eine schriftliche Vereinbarung mit dem Jugendwohlfahrtsträger darüber notwendig sei, dass er diesen mit der Pflege und Erziehung zur Gänze betraue.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts ist der Revisionsrekurs mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nach § 62 Abs 1 AußStrG unzulässig. Die Begründung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Im Verfahren über seinen Antrag hat der Jugendwohlfahrtsträger im Umfang seiner Befugnisse Parteistellung und Rechtsmittellegitimation (2 Ob 177/10h = RIS Justiz RS0126469). Der Revisionsrekurs wurde im Gegensatz zur Rechtsmeinung der Revisionsrekurs-beantwortung vom Jugendwohlfahrtsträger im eigenen Namen erhoben, wie sich unschwer aus dem Rechtsmittelantrag ergibt.

Gemäß § 32 WrJWG (§ 26 JWG) gehören zu den Hilfen zur Erziehung im Einzelfall die Unterstützung der Erziehung nach § 33 WrJWG (§ 27 JWG), die volle Erziehung nach § 34 WrJWG (§ 28 JWG), die freiwillige Erziehungshilfe nach § 35 WrJWG (§ 29 JWG) und die Erziehungshilfe gegen den Willen der Erziehungsberechtigten nach § 36 WrJWG (§ 30 JWG). Die volle Erziehung umfasst die (außerfamiliäre) Pflege und Erziehung der Minderjährigen, sofern der Jugendwohlfahrtsträger mit der Pflege und Erziehung zur Gänze betraut wurde (§ 34 Abs 1 WrJWG). Die Erziehungshilfen, mit denen die Erziehungsberechtigten einverstanden sind, bedürfen einer schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Erziehungsberechtigten und dem Magistrat (§ 35 Abs 1 WrJWG).

Der vorliegende Fall bezieht sich auf die Unterbringung einer Minderjährigen in einer Wohngemeinschaft im Sinn der vollen Erziehung nach § 34 WrJWG.

Dritte dürfen in die elterlichen Rechte nur insoweit eingreifen, als ihnen dies durch die Eltern selbst, unmittelbar auf Grund des Gesetzes oder durch eine behördliche Verfügung gestattet ist (§ 139 Abs 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013, in Kraft getreten am [§ 1503 Z 1 ABGB] = § 137a ABGB aF). Die Eltern können damit durch Vereinbarung die faktische Ausübung der Obsorge ganz oder teilweise übertragen (vgl auch OGH in EFSlg 48.383, 43.389 ua), nicht aber die Obsorgerechte und -pflichten ( Fischer/Czermak in Kletečka/Schauer , ABGB ON 1.00 § 137a [aF] Rz 2). Die Grundsätze, dass die Entziehung und Einschränkung der elterlichen Rechte und Pflichten nur als äußerste Maßnahme gerechtfertigt sind, gelten auch für die Interimskompetenz des Jugendwohlfahrtsträgers nach § 215 zweiter Satz ABGB aF (= § 211 Abs 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013), wenn im Bereich von Pflege und Erziehung Gefahr in Verzug ist (1 Ob 4/12p = RIS Justiz RS0048688 [T19]). Bei freiwilliger voller Erziehung nach § 34 WrJWG (§ 28 JWG) bleiben die Eltern Obsorgeträger (3 Ob 165/11b mwN = RIS Justiz RS0127384; Fischer/Czermak aaO; Kathrein in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang³ § 215 [aF] Rz 19).

Die Fragen, ob für eine freiwillige Unterbringung in einer Wohngemeinschaft die Mutter neben ihrer Zustimmung dazu auch die geforderte schriftliche Vereinbarung im Sinn des § 35 Abs 1 WrJWG abschließen und damit die Pflege und Erziehung der Minderjährigen zur Gänze an den Jugendwohlfahrtsträger übertragen muss; ob, falls die Vereinbarung nicht vorliegt, der Jugendwohlfahrtsträger die Übertragung der Pflege und Erziehung zur Gänze an ihn als eine Erziehungshilfe gegen den Willen des Erziehungsberechtigten nach § 36 WrJWG beantragen kann; ob dies im vorliegenden Einzelfall zum Wohl der Minderjährigen zulässig wäre, stellen sich im vorliegenden Fall nicht.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Gefährdung des Kindeswohls ist nämlich der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung, sodass alle während des Verfahrens eintretenden Änderungen zu berücksichtigen sind (RIS Justiz RS0106313, RS0048056).

Aus dem Akteninhalt ergibt sich Folgendes:

Der Jugendwohlfahrtsträger teilte mit Schreiben vom mit, dass die Minderjährige seit die Wohngemeinschaft verlassen habe und wieder mit ihrer Mutter zusammenlebe. Der Auftrag des Erstgerichts, der Jugendlichen, auch wenn die Mutter die vorformulierte Vereinbarung nicht unterfertige, einen weiteren Verbleib in der Wohngemeinschaft zu ermöglichen, könne deshalb nicht erfüllt werden. Der Platz in der Wohngemeinschaft werde für die Minderjährige während der nächsten zwei Wochen freigehalten. Sollte diese das Angebot nicht annehmen, sei der Verbleib bei der Mutter nicht zu verhindern. Am gab der Jugendwohlfahrtsträger bekannt, dass die Mutter und die Minderjährige zum Termin nicht erschienen seien und der Platz in der Wohngemeinschaft nicht mehr freigehalten werde; der Fall sei „außer Evidenz genommen“ worden.

Eine vorläufige Maßnahme nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB aF kann nicht nur durch eine Verfügung des Pflegschaftsgerichts, sondern auch durch den Jugendwohlfahrtsträger selbst außer Kraft gesetzt werden. Legt der Jugendwohlfahrtsträger nach einer von ihm im Rahmen seiner Interimskompetenz getroffenen vorläufigen Maßnahme der vollen Erziehung vor der gerichtlichen Entscheidung Pflege und Erziehung des Minderjährigen wieder in die Hände des eigentlich Obsorgeberechtigten, gibt er zu erkennen, dass er die getroffene Maßnahme nicht aufrecht hält. Damit besteht kein Anlass für die Ausübung der vorläufigen Obsorge im Umfang der nicht mehr wirksamen Maßnahme durch ihn (2 Ob 217/10h = RIS Justiz RS0126472). Dies gilt auch für den vorliegenden Antrag, wenn er nach dem diesbezüglich wortgleichen § 211 Abs 1 ABGB idF KindNamRÄG 2013 zu beurteilen ist:

Der Jugendwohlfahrtsträger erklärte, dass die Maßnahme beendet, die Minderjährige wieder in die Pflege und Obsorge der Mutter entlassen und der Fall „außer Evidenz genommen“ worden sei. Damit besteht kein Anlass, ihm die Pflege und Erziehung im vollen Umfang zu übertragen. Eine Kindeswohlgefährdung durch Verbleib der Obsorge bei der Mutter (ohne Unterbringung in einer Wohngemeinschaft, die von der nun fast Volljährigen zunächst gewollt war) haben die Vorinstanzen verneint.