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OGH vom 29.04.2003, 4Ob63/03y

OGH vom 29.04.2003, 4Ob63/03y

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Graf, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Griß und Dr. Schenk und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Anna-Lena P*****, geboren am *****, und des mj Jan-Lukas P*****, geboren am *****, über den Revisionsrekurs (richtig: Rekurs) der Mutter Nicole G*****, vertreten durch Held Berdnik Astner & Partner, Rechtsanwälte in Graz, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom , GZ 2 R 406/02v-23, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom , GZ 13 P 186/02f-16, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die Minderjährigen sind die außerehelichen Kinder der deutschen Staatsangehörigen Nicole G***** und des österreichischen Staatsbürgers Rüdiger Wolfgang P*****. Die Eltern der Kinder lebten von August 1996 bis Ende Dezember 2001 in Lebensgemeinschaft, zuerst in Hamburg, ab Oktober 1998 in W***** in der Steiermark. Noch vor der Geburt jedes der Kinder haben die Eltern vor dem Jugendamt P***** in Deutschland eine Sorgeerklärung nach deutschem Recht abgegeben. Darin erklärten die Eltern, die elterliche Sorge für das jeweils zu erwartende Kind gemeinsam ausüben zu wollen.

Beide Kinder wurden in D***** geboren. Sie haben die Zeit ab ihrer Geburt bis Ende 2001 in W***** verbracht; seither werden sie von ihrer Mutter in G*****, ebenfalls in der Steiermark, versorgt. Die Lebensgemeinschaft der Eltern endete am . An diesem Tag errichteten die Eltern eine Vereinbarung, wonach das gemeinsame Sorgerecht für beide Kinder bis zu deren Volljährigkeit von ihnen gemeinsam in der Form ausgeübt werde, dass die Kinder während der ersten 12 Monate ab dem sich abwechselnd im 14-Tage-Rhythmus beim Vater bzw bei der Mutter befinden. Eine pflegschaftsbehördliche Genehmigung der Vereinbarung liegt nicht vor.

Die Mutter beantragt festzustellen, dass sie für beide Kinder allein obsorgeberechtigt sei; in eventu, ihr die alleinige Obsorge zu übertragen. Die rechtliche Situation sei unklar. Die Mutter gehe davon aus, dass ihr die alleinige Obsorge zukomme. Die gemeinsame Obsorge entspreche nicht dem Kindeswohl. Die Eltern seien sich über die Dauer der Besuche uneinig.

Der Vater beantragt, ihm die alleinige Obsorge zu übertragen. Die Mutter habe die Obsorgeregelung einseitig gebrochen. Sie sei ohne ersichtlichen Grund gegen den Vater negativ eingestellt und wolle seine Kontakte zu den Kindern unterbinden. Schon während der Lebensgemeinschaft habe sich gezeigt, dass die Mutter in einer Scheinwelt lebe. Ihre persönlichen Beziehungen seien durch Konflikte geprägt. Der Vater hingegen lebe in geordneten Verhältnissen und sei gut situiert.

Das Erstgericht stellte fest, dass der Mutter die alleinige Obsorge für die beiden Kinder zukommt. Nach Art 3 MSA sei ein Gewaltverhältnis, das nach dem innerstaatlichen Recht, dem der Minderjährige angehöre, nur dann in allen Vertragsstaaten anzuerkennen, wenn dieses nach dem innerstaatlichen Recht des Staates, dem der Minderjährige angehöre, kraft Gesetzes bestehe. Nach § 1626a BGB sei die Mutter kraft Gesetzes allein sorgeberechtigt. Die aufgrund von Sorgeerklärungen beiden Eltern zukommende Obsorge bestehe nicht kraft Gesetzes. Das Haager Minderjährigenschutzabkommen sei daher nicht anwendbar. Nach § 25 Abs 2 IPRG seien die Wirkungen der Unehelichkeit eines Kindes nach dessen Personalstatut zu beurteilen. Das wäre im vorliegenden Fall deutsches Recht, doch bestimme Art 20 Abs 2 BGB, dass das Recht des gewöhnlichen Aufenthaltsortes maßgebend sei. Damit sei österreichisches Recht anzuwenden; nach österreichischem Recht sei die Vereinbarung über die gemeinsame Obsorge unwirksam, weil sie nicht pflegschaftsbehördlich genehmigt sei. Damit komme die alleinige Obsorge der Mutter zu.

Das Rekursgericht hob diesen Beschluss auf, trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf und sprach aus, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei. Ob ein Gewaltverhältnis im Sinne von Art 3 MSA bestehe, sei nach den Sachnormen des Heimatrechts zu beurteilen. Die in § 1626a BGB vorgesehenen Sorgeerklärungen bewirkten unmittelbar, dass den Eltern die elterliche Sorge gemeinsam zustehe. Die Rechtswirkungen träten damit ex lege ein. Im vorliegenden Fall stehe das Sorgerecht daher kraft Gesetzes beiden Eltern zu. Die Auflösung der gemeinsamen Sorge sei in § 1671 BGB geregelt. Die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Bestimmung lägen nunmehr vor. Das Erstgericht werde daher im fortzusetzenden Verfahren Erhebungen über das Kindeswohl und Feststellungen darüber zu treffen haben, wobei über die widerstreitenden Anträge nach § 167 und § 177a Abs 2 ABGB eine Entscheidung zu fällen sein werde.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluss gerichtete Rekurs der Mutter ist zulässig, weil Rechtsprechung zu einem gleichartigen Sachverhalt fehlt; der Rekurs ist aber nicht berechtigt.

Die von den Eltern beantragten Obsorgeregelungen sind Schutzmaßnahmen im Sinne des Abkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom , BGBl 1975/446 (Haager Minderjährigenschutzabkommen - MSA; s Kropholler, Das Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger², 31f). Das Haager Minderjährigenschutzabkommen geht in seinem Anwendungsbereich dem österreichischen Kollisionsrecht vor (4 Ob 535/87 = SZ 60/212). Nach Art 13 Abs 1 MSA ist das Abkommen auf alle Minderjährigen anzuwenden, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem der Vertragsstaaten haben.

Im vorliegenden Fall haben die beiden Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich und damit in einem Vertragsstaat. Auch die persönliche Voraussetzung für die Anwendung des Abkommens ist erfüllt; die Kinder sind sowohl nach österreichischem Recht als dem Recht des Aufenthaltsortes als auch nach ihrem Heimatrecht, dem deutschen Recht, minderjährig (zu den Voraussetzungen für die Anwendung des Abkommens s Mayr in Rechberger, ZPO² § 110 JN Rz 9 mwN).

Nach Art 1 MSA sind die Behörden des Staates, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und 5 Abs 3 MSA dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Sie haben nach Art 2 Abs 1 das Recht des Aufenthaltsortes anzuwenden, dabei aber ein Gewaltverhältnis, das nach dem Heimatrecht des Minderjährigen kraft Gesetzes besteht, anzuerkennen (Art 3 MSA). Daraus folgt, dass der Aufenthaltsstaat eine Schutzmaßnahme nur ergreifen kann, wenn der Heimatstaat dieselbe Angelegenheit nicht durch ein gesetzliches Gewaltverhältnis geregelt hat (Oberloskamp, Haager Minderjährigenschutzabkommen Art 3 Rz 7; zu den Problemen bei der Auslegung des Art 3 MSA s auch Allinger, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen 69 ff).

Der Begriff "gesetzliches Gewaltverhältnis" wird vom Haager Minderjährigenschutzabkommen nicht definiert; er ist auch keiner autonomen Rechtsordnung entnommen. Einigkeit besteht darüber, dass darunter Obsorgeregelungen fallen und dass ein gesetzliches Gewaltverhältnis zum Unterschied von einer Schutzmaßnahme dann vorliegt, wenn das Gesetz an einen bestimmten Sachverhalt eine Rechtsfolge knüpft, ohne dass ein Gericht oder eine Behörde einzugreifen hat (Oberloskamp aaO Art 3 Rz 1, 5; Palandt, BGB62 Anhang zu EGBGB 24 Rz 18 mwN). Dieser Sachverhalt kann auch in einer rechtsgeschäftlichen Erklärung bestehen (s Kropholler aaO 40: Entstehen eines gesetzlichen Gewaltverhältnisses durch ein Vaterschaftsanerkenntnis).

Im vorliegenden Fall sind die Kinder deutsche Staatsangehörige. Die Eltern haben noch vor der Geburt jedes der Kinder eine Sorgeerklärung nach § 1626a Abs 1 BGB abgegeben. Danach können Eltern, die bei der Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet sind, erklären, dass sie die Sorge gemeinsam übernehmen wollen; in diesem Fall steht ihnen die elterliche Sorge gemeinsam zu. Diese Rechtsfolge tritt ex lege ein, ohne dass es einer Entscheidung des Familiengerichts bedürfte (Palandt aaO § 1626a Rz 4; Finger in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch4 3 1626a Rz 12, 16).

Die gemeinsame Obsorge der Eltern ist demnach, wie das Rekursgericht richtig erkannt hat, ein gesetzliches Gewaltverhältnis im Sinne des Art 3 MSA. Damit ist für das vorliegende Verfahren davon auszugehen, dass die Obsorge über die Kinder beiden Eltern gemeinsam zusteht.

Nach § 1671 BGB kann jeder Elternteil beantragen, dass ihm die elterliche Sorge oder ein Teil davon allein übertragen wird, wenn Eltern, denen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht, nicht nur vorübergehend getrennt leben. Das Heimatrecht der Kinder lässt es damit zu, dass das Gericht eine Obsorgeregelung trifft, wenn die häusliche Gemeinschaft der gemeinsam obsorgeberechtigten Eltern aufgehoben wird. Damit steht einer Obsorgeregelung nach österreichischem Recht, das gemäß Art 2 Abs 1 MSA als Recht des Aufenthaltsortes anzuwenden ist, nichts im Wege.

Nach österreichischem Recht kann ein Elternteil beantragen, ihm die beiden Eltern zustehende gemeinsame Obsorge allein zu übertragen, wenn ein Elternteil die häusliche Gemeinschaft nicht bloß vorübergehend aufhebt (§§ 167, 177a ABGB). Dabei ist - wie im Übrigen auch nach § 1671 Abs 2 Z 2 BGB - jene Regelung zu treffen, die dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 177a Abs 2 ABGB).

Welche Regelung dem Wohl der Kinder im vorliegenden Fall am besten entspricht, kann derzeit noch nicht beurteilt werden. Dazu bedarf es der vom Rekursgericht aufgetragenen Verfahrensergänzung.

Der Rekurs musste erfolglos bleiben.