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OGH vom 08.03.1995, 7Ob505/95

OGH vom 08.03.1995, 7Ob505/95

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Rita van L*****, vertreten durch Dr.Wolfgang Hochsteger und Dr.Dieter Perz, Rechtsanwälte in Hallein, wider die beklagte Partei Hertha D*****, vertreten durch Dr.Ernst Blanke sen und andere Rechtsanwälte in Hallein, wegen S 372.775,10 sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Zwischenurteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom , GZ 3 R 193/94-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Salzburg vom , GZ 12 Cg 331/93-8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin ist die eheliche Tochter des am verstorbenen Friedrich R*****, der zur Hälfte Eigentümer eines Hauses in G***** war. Mit notariellem Testament vom setzte er die Beklagte als Universalerbin ein, beschränkte allfällige Noterben auf den Pflichtteil und enterbte die Klägerin mit folgenden Worten:

"Meine Tochter Rita R*****, von der ich seit 1946 keine Nachricht erhalten habe und deren Aufenthalt in Amerika mir nicht bekannt ist, enterbe ich hiemit, da sie sich niemals um mich gekümmert und im Notstand hilflos gelassen hat."

Die Mutter der in G***** geborenen Klägerin zog nach ihrer Scheidung von Friedrich R***** im Jahr 1946 mit der Klägerin in die USA. Seither bestand kein Kontakt mehr zwischen der Klägerin und Friedrich R*****.

Mit Schreiben vom ersuchte die Klägerin das Gemeindeamt G***** um Ausstellung eines Duplikates ihres Geburtsscheines. Dieses Schreiben gelangte der Aloisia R*****, einer Nichte des Friedrich R*****, die damals im Gemeindeamt in G***** arbeitete, zur Kenntnis. Aloisia R***** erfuhr hiedurch von der Adresse der Klägerin und sandte ihr im Jahr 1986 oder 1987 zwei Schreiben, die aber unbeantwortet blieben. Es steht nicht fest, ob die Klägerin diese Briefe bekommen hat oder nicht. Ebenfalls ungeklärt blieb, ob Aloisia R***** ihrem Onkel Friedrich R***** die Adresse der Tochter mitteilte oder nicht.

Die Beklagte lernte Friedrich R***** 1978 kennen und lebte mit ihm bis zu seinem Tod fallweise zusammen. Sie behielt ihren Wohnsitz in Deutschland bei. Wenn sie sich nicht bei Friedrich R***** aufhielt, fühlte sich dieser sehr einsam. Er litt auch darunter, keinerlei Kontakt zu seiner Tochter zu haben, über deren Schicksal er nicht informiert war. Im Mai 1989 zog sich Friedrich R***** in München einen Oberschenkelhalsbruch zu. Er war daraufhin bis August 1989 in München in stationärer Behandlung. Nach einem Rehabilitationsaufenthalt kam er in das Altersheim in G*****. Er war nach seiner Verletzung nicht mehr in der Lage, sich selbst zu Hause zu versorgen. Die Beklagte fuhr nun etwa alle 14 Tage nach G*****, um sich um Friedrich R***** zu kümmern. Sie konnte aus gesundheitlichen Gründen nur zeitweise die Pflege des Friedrich R***** übernehmen. In der übrigen Zeit wurde er im Altersheim in G***** versorgt. Neben seinem körperlichen Gebrechen litt Friedrich R***** in der letzten Zeit vor seinem Tod an einem senilen Intelligenzabbau, verbunden mit einer hochgradigen Gedächtnisschwäche und Verwirrtheit. Aus diesem Grund wurde ihm mit Beschluß des Bezirksgerichtes H***** vom die Beklagte gemäß § 273 ABGB zum Sachwalter für die Vermögens- und Einkommensverwaltung sowie zur Vertretung bei Ämtern und Behörden und bei Gericht bestellt. Anläßlich der Befundaufnahme in diesem Verfahren erklärte Friedrich R***** dem Sachverständigen gegenüber, daß er eine Tochter habe, aber nicht sagen könne, wo sie lebe.

Die Klägerin meldete im Verlassenschaftsverfahren nach Friedrich R***** ihren Pflichtteilsanspruch an. Der Nachlaß wurde einschließlich der Massekosten von S 36.185,40 mit S 781,635,60 inventarisiert. Der Nachlaß wurde der Beklagten, die eine bedingte Erbserklärung abgegeben hatte, zur Gänze eingeantwortet.

Die Klägerin begehrte ihren mit S 372.775,10 bezifferten Pflichtteil, weil keine Enterbungsgründe vorlägen.

Die Beklagte wendete ein, die Klägerin sei erbunwürdig im Sinn des § 540 ABGB und habe auch den Enterbungsgrund des § 768 Z 2 ABGB gesetzt, weil sie sich um ihren Vater nicht gekümmert und nicht einmal ihren Aufenthaltsort bekanntgegeben habe. Der Verstorbene habe vor allem in den letzten Jahren vor seinem Tod dringend Beistand und menschliche Anteilnahme seitens der Klägerin benötigt. Er habe Zeit seines Lebens darunter gelitten, daß sich die Klägerin nicht um ihn gekümmert habe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren nach Einschränkung des Verfahrens auf den Grund des Anspruches ab. Es bejahte das Vorliegen des Enterbungsgrundes des § 768 Z 2 ABGB. Friedrich R***** habe sich in den letzten Jahren vor seinem Tod aufgrund seiner schweren Verletzung und des starken geistigen Verfalles zu einem Pflegefall entwickelt und wäre ohne öffentliche Hilfe durch die Aufnahme in das Altersheim vollkommen verloren gewesen. Er habe sich zumindest in dieser Zeit in einer Notstandssituation im Sinn des § 768 Z 2 ABGB befunden. Der Klägerin sei die mangelnde Kenntnis hievon vorzuwerfen, weil es ihr ohne Schwierigkeiten möglich gewesen wäre, sich über den Verbleib ihres Vaters zu informieren.

Das Gericht zweiter Instanz änderte diese Entscheidung dahin ab, daß es mit Zwischenurteil aussprach, daß das Klagebegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe. Es erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Der Enterbungsgrund müsse zwar im Zeitpunkt der Testamentserrichtung noch nicht vorliegen. Es genüge, wenn der Erblasser auf ein Verhalten des Noterben abstelle, das mit Wahrscheinlichkeit den Enterbungstatbestand verwirklichen werde. Friedrich R***** habe sich jedoch auch nach Testamentserrrichtung nicht in einem existenzbedrohenden Notstand befunden, den die Klägerin auf ihr zumutbare Weise hätte beheben können. Briefe und Telefonate wären nur ein unzureichendes Mittel gegen die Einsamkeit gewesen. Die notwendige körperliche Pflege sei im Krankenhaus, im Rehabilitationszentrum und im Altersheim gewährleistet gewesen. Von der Beklagten hätte nicht verlangt werden können, daß sie sich für einige Jahre in G***** niederläßt. Der Beklagten sei der ihr obliegende Beweis eines Enterbungstatbestandes nicht gelungen. Es lägen auch die Voraussetzungen für die Pflichtteilsminderung gemäß § 773a ABGB nicht vor, weil die Klägerin bereits mehr als drei Jahre alt gewesen sei, als das familiäre Naheverhältnis beendet worden sei. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zu § 768 Z 2 ABGB nur wenig und zu § 773a ABGB überhaupt keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Vorweg ist festzuhalten, daß die Untergerichte gemäß § 28 (1) IPRG zutreffend österreichisches Recht angewendet haben (vgl. Schwimann in Rummel2 II, Rz 1 zu § 28 IPRG mwN).

Ob der Enterbungsgrund bereits bei Errichtung des letzten Willens vorliegen muß, wird in der Lehre nicht einheitlich beantwortet.

Welser in Rummel2 I, Rz 3 zu § 768 ABGB, vertritt mit Hinweis auf Unger, Erbrecht, 350, und Ehrenzweig, Familien- und Erbrecht, 584 f, die Ansicht, daß der Enterbungsgrund zur Zeit der Enterbung bereits bestanden haben müsse, daß es jedoch genüge, wenn der Erblasser auf ein Verhalten des Noterben abstelle, das mit Wahrscheinlichkeit den Enterbungstatbestand verwirklichen werde. Weiß in Klang2 II, 841, befürwortet eine bedingte Enterbung für den Fall der späteren Verwirklichung der Enterbungsursache. Dieser Ansicht schließt sich auch Eccher in Schwimann 3, 155 an. Kralik vertritt hingegen in Erbrecht, 285, die Auffassung, daß es gleichgültig sein müsse, ob die Enterbungsursache zur Zeit der Enterbung bereits bestanden habe, da es auf die Kausalität zwischen Grund und Verfügung nicht ankomme. Ob der Wille des Erblassers, den Pflichtteil zu entziehen, rechtmäßig gewesen sei, sei rückwirkend vom Zeitpunkt seines Todes aus zu betrachten. Da stillschweigend und ohne Angabe von Gründen enterbt werden könne, müsse wohl auch keine Bedingung genannt werden, zumal sie ohnehin Rechtsbedingung sei.

Im vorliegenden Fall trifft es zu, daß die Enterbung zu einem Zeitpunkt ausgesprochen wurde, als der zur Begründung ausdrücklich angeführte Tatbestand des § 768 Z 2 ABGB schon deshalb nicht verwirklicht war, weil keine Notstandssituation des Erblassers im Sinn dieser Bestimmung vorlag. Als Friedrich R***** das Testament errichtete, ging es ihm körperlich und geistig gut, und er erfreute sich an seiner Beziehung zur Beklagten, der er testamentarisch alles zukommen lassen wollte. Aus der Tatsache allein, daß ihn der fehlende Kontakt zu seiner Tochter seelisch belastet haben mag, kann auf einen Notstand im Sinn des § 768 Z 2 ABGB nicht geschlossen werden. Es liegt allerdings die Vermutung nahe, daß Friedrich R***** davon ausging, daß es auch mit seinem zunehmenden Alter und selbst bei einer allfälligen künftigen Gebrechlichkeit und Vereinsamung keinen Kontakt mit der Klägerin geben werde. Ob die Enterbung unter diesen Umständen wirksam würde, wenn die Klägerin zwischen der Testamentserrichtung und dem Tod des Friedrich R***** tatsächlich den im Testament genannten Enterbungsgrund verwirklicht hätte, muß hier aber nicht abschließend beantwortet werden, weil der Ansicht des Gerichtes zweiter Instanz beizupflichten ist, daß die Klägerin auch nachträglich keinen Enterbungsgrund gesetzt hat.

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist unter Notstand jeder Zustand der Bedrängnis - die nicht nur wirtschaftlich gemeint ist - zu verstehen, der nach den Grundsätzen der Menschlichkeit (natürliche Rechtsgrundsätze, § 7 ABGB) gerechterweise zu der Erwartung berechtigt, daß der Pflichttteilsberechtigte dem Erblasser helfen werde (EvBl 1965/198; EvBl 1969/176 je mit

Literaturnachweisen; EvBl 1972/220; 4 Ob 555/79 = EFSlg 36.275; 5 Ob

756/81 = EFSlg 40.988; 8 Ob 549/84). Es ist auch richtig, daß nur die

schuldlose Unkenntnis von der Hilfsbedürftigkeit des Erblassers den Pflichtteilsberechtigten vom Vorwurf, den Enterbungsgrund gesetzt zu haben, befreien kann (vgl Welser in Rummel2 I, Rz 2 zu § 768 ABGB).

Nun können zwar Eltern von ihren Kindern grundsätzlich erwarten, daß sie den Kontakt niemals gänzlich abreißen lassen und insbesondere im hohen Alter, wenn sich zudem eine schwere körperliche Gebrechlichkeit und (oder) ein geistiger Verfall einstellen, zumindest seelischen Beistand leisten, auch wenn die Pflege durch dritte Personen oder durch die öffentliche Hand gewährleistet ist. Im Regelfall wird einem Kind diese Erwartungshaltung der Eltern und deren seelisches Leid im Fall der Enttäuschung der Hoffnung auf Zuwendung durchaus erkennbar und einsehbar sein. Im vorliegenden Fall bestand aber zwischen dem Elternteil und dem Kind schon seit dessen Kleinkindalter über Jahrzehnte hindurch überhaupt kein Kontakt. Die Klägerin hatte auf die Trennung von ihrem Vater keinerlei Einfluß. Sie wuchs zudem in einem anderen Erdteil und unter dem Einfluß ihrer Mutter auf, so daß die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Vater nahezu unvermeidlich war. Da der Wille zur Trennung nicht von der damals etwa dreijährigen Klägerin ausgehen konnte, und da es ihr unter den gegebenen Umständen wohl kaum möglich war, im Kindheitsalter aus eigenem den Kontakt mit dem Vater wieder herzustellen, wäre es an diesem gelegen gewesen, sich seinerseits zu bemühen, daß der Kontakt zur Tochter nicht gänzlich abreißt. Da der Vater aber offenbar seinerseits von sich nichts hören ließ, mußte für die Klägerin auch in ihrem späteren Leben der Eindruck entstehen, daß der Vater an ihr keinerlei Interesse hat und keinen Kontakt zu ihr wünscht. Sie konnte nicht davon ausgehen, daß der Vater darunter litt, nichts von ihr zu hören, weil sein Verhalten, sich seinerseits sein Lebtag lang nicht bei ihr zu melden, geradezu auf das Gegenteil hindeutete. Friedrich R***** hätte daher nur dann mit der Anteilnahme seiner Tochter an seinem Schicksal rechnen dürfen, wenn er von sich aus versucht hätte, den Kontakt mit ihr wieder aufzunehmen und diesen Wunsch bei ihr deponiert hätte. Auch wenn sich die Tochter trotz ernst zu nehmender Bemühungen des Vaters nach Kontakt dennoch nicht weiter um sein Schicksal gekümmert und sich nicht darüber informiert hätte, ob der Vater allenfalls ihrer Hilfe bedürfe, könnte ihr Verhalten, den in seinen letzten Lebensjahren körperlich und geistig behinderten alten Mann seinem Schicksal zu überlassen und ihn nicht einmal telefonisch oder brieflich zu kontaktieren, allenfalls als Verfehlung gegen die moralische Verpflichtung, alte und kranke Eltern in ihrer Vereinsamung und Hilflosigkeit nicht völlig im Stich zu lassen, gewertet werden (vgl 4 Ob 555/79 = EFSlg 36.275). Daß es Friedrich R***** unmöglich gewesen wäre, seine Tochter in den USA ausfindig zu machen und mit ihr in Kontakt zu treten, wurde nicht erwiesen. Es steht sogar fest, daß seiner ebenfalls in G***** wohnenden Nichte seit 1984 die genaue Adresse seiner Tochter bekannt war. Die Negativfeststellung, daß nicht festgestellt werden könne, ob ihm die Nichte dieses Wissen mitteilte, geht gemäß § 771 ABGB zu Lasten der Beklagten als Pflichtteilsschuldnerin. Abgeshen davon ist nicht anzunehmen, daß Friedrich R***** nicht bei entsprechendem Interesse den weiteren Lebensweg seiner Tochter verfolgen hätte können.

Wie das Gericht zweiter Instanz zutreffend ausgeführt hat, liegt hier aber auch kein Anwendungsfall des § 773a ABGB vor, weil die Worte "zu keiner Zeit" selbst bei großzügiger Auslegung nicht dahin verstanden werden können, daß dieser Tatbestand bei einem über drei Jahre andauernden Familienleben, auch wenn es schon im Kleinkindalter geendet hat, erfüllt sei. Das in einer Familie übliche Naheverhältnis bestand hier nicht nur punktuell, sondern hat doch eine gewisse Zeit gedauert (vgl 2 Ob 581/94; Welser in NZ 1990, 137 ff, insbesondere 140).

Der durch das Erbrechtsänderungsgesetz 1989 neu eingeführte Enterbungstatbestand des § 540 zweiter Fall ABGB ("...oder wer seine aus dem Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern sich ergebenden Pflichten dem Erblasser gegenüber gröblich vernachlässigt hat") liegt ebenfalls nicht vor, wenn schon der Enterbungstatbestand des § 768 Z 2 ABGB zu verneinen ist. Soweit nicht ohnehin von einer weitgehenden Identität dieser Tatbestände auszugehen ist (vgl Welser aaO, 141), wäre der Erbunwürdigkeitstatbestand jedenfalls noch enger (gröbliche Vernachlässigung), keinesfalls aber weiter als jener des § 768 Z 2 ABGB zu sehen.

Der Vorbehalt der Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.