OGH vom 15.09.2020, 6Ob40/20f
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Hon.-Prof. Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ö*****, vertreten durch DSC Doralt Seist Csoklich Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. S***** reg. Gen. mbH in Liqu., 2. Sp***** registrierte Genossenschaft mbH in Liqu., beide *****, vertreten durch Freimüller/Obereder/Pilz Rechtsanwält_innen GmbH in Wien, wegen Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 58/19g-10, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).
Text
Begründung:
Die Klägerin gewährte auf Basis einer Fördervereinbarung (Betriebsvereinbarung über die Wohlfahrtseinrichtungen und Sozialaktionen der Ö***** vom ) den beklagten Sparvereinen, die als Genossenschaften konstruiert sind und sich nunmehr im Liquidationsstadium befinden, Zuwendungen, um ihren Mitarbeitern über diese Vergünstigungen zur Verfügung stellen zu können. Aufgabe und Zweck der Beklagten war es deshalb, Dienstnehmern der Klägerin Mitarbeiterkonditionen gewähren zu können, wozu sie selbst aus rechtlichen Gründen nicht in der Lage war. Die Beklagten hatten daher einerseits Einlagen entgegenzunehmen und andererseits Kredite zu günstigen Konditionen zu gewähren.
Weder die Betriebsvereinbarung noch deren Erläuternde Bemerkungen enthalten Regelungen, ob und in welchem Ausmaß solche Zuwendungen im Fall einer Liquidation der Beklagten an die Klägerin zurückgeführt werden sollen, wenn Liquidationsvermögen vorhanden sein sollte; tatsächlich ist solches in Millionenhöhe vorhanden, dieses steht konkret aber noch nicht fest. Es steht aber auch nicht fest, dass die Parteien zum Zeitpunkt des Abschlusses der Betriebsvereinbarung darüber willentlich, bewusst keine Regelung getroffen hätten; sie bedachten vielmehr beim Abfassen der Betriebsvereinbarung nicht, dass die von der Klägerin zur Verfügung gestellten jährlichen Mittel (insgesamt über 8 Mio EUR nur für den Zeitraum von 2006 bis 2017/2018) auch zu einer Vermögensbildung bei den Beklagten über das erforderliche Maß hinaus führen könnten. Auch aus dem Umstand, dass der Klägerin die Satzungen der Beklagten – nach deren § 47 Abs 2 wird das nach Befriedigung der Genossenschaftsgläubiger und Rückzahlung der Geschäftsguthaben verbleibende Vermögen der Genossenschaft von den Mitgliedern nach dem Verhältnis ihrer Geschäftsanteile verteilt – zum Zeitpunkt des Abschlusses der Betriebsvereinbarung bekannt waren, kann nicht geschlossen werden, dass die Parteien im Hinblick darauf bewusst keine Rückzahlungsverpflichtung vorgesehen hätten oder dass die Klägerin einer Auszahlung des durch ihre Zuwendungen geschaffenen Liquidationsvermögens an die Genossenschafter zustimmen hätte wollen.
Die Klägerin begehrt aufgrund einer ergänzenden Vertragsauslegung der Betriebsvereinbarung von der Beklagten, das bei den Beklagten vorhandene Reinvermögen, das auf die Zuwendungen der Klägerin zurückzuführen ist, während die Beklagten die Auffassung vertreten, (auch) dieses Reinvermögen sei aufgrund einer einschlägigen Regelung zugunsten der Klägerin in der Betriebsvereinbarung auf ihre verbliebenen Genossenschafter – weit überwiegend derzeitige und ehemalige Dienstnehmer der Klägerin – aufzuteilen.
Die Vorinstanzen stellten fest, die Beklagten seien schuldig, der Klägerin jeweils jenen Betrag zu zahlen, der ihrem Reinvermögen nach Befriedigung aller jeweiligen Drittgläubiger (ausgenommen die Klägerin) und unter Berücksichtigung eines Abzugs des für die Rückzahlung des Nominalwerts der jeweiligen Geschäftsanteile an die Genossenschafter erforderlichen Beträge von 112.444,40 EUR bei der Erstbeklagten und von 91.385,60 EUR bei der Zweitbeklagten entspricht. Es sei von einer planwidrigen Lücke der Betriebsvereinbarung auszugehen und diese dahin zu ergänzen, dass „für den Fall der Liquidation der einzelnen Wohlfahrtseinrichtungen und Sozialaktionen die [Klägerin] als Genossenschaftsgläubigerin – nach Befriedigung aller sonstige[n] Gläubiger und des erforderlichen Abzugs des für die Rückzahlung des Nominalwerts der Geschäftsanteile an die Genossenschafter erforderlichen Betrags – Anspruch auf das allenfalls vorhandene Liquidationsvermögen bis zur Höhe bisher geleisteter Subventionierungen [habe]“.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision, die das Vorliegen einer planwidrigen Lücke verneint, jedenfalls aber eine Vertragsauslegung bzw Lückenfüllung contra legem für unzulässig hält, ist nicht zulässig.
1. Zunächst hat die wörtliche (grammatikalische) Auslegung eines schriftlichen Vertrags zu erfolgen, sofern dessen Inhalt klar und deutlich ist (RS0017791 [T1]). Nur bei Vorliegen einer „Vertragslücke“ hat eine ergänzende Vertragsauslegung Platz zu greifen (RS0017829). Eine Vertragslücke setzt voraus, dass der Vertrag planwidrig unvollständig geblieben ist (RS0017829 [T2]); sie besteht darin, dass im Vertrag für bestimmte Problemfälle keine Regelung getroffen wurde (RS0017829 [T4]). Dabei ist Voraussetzung, dass beide Parteien den später eingetretenen Fall nicht bedacht haben (RS0017899 [T2]). In der Entscheidung 4 Ob 60/17b (ÖBA 2017, 422/2348 [Koch] = Zak 2017/306 [Kronthaler, 224; Vonkilch, 227] = VbR 2017/88 [Ramharter, 144] = JBl 2017, 737 [Eliskases] = ZFR 2017/172 [Graf, 367] = RdW 2017/339 [Schmid, 671]) wurde ausgeführt, dass eine ergänzende Vertragsauslegung dann in Betracht kommt, wenn nach Vertragsabschluss Probleme auftreten, die die Parteien nicht bedacht und daher nicht geregelt haben.
2. Treten nach Abschluss des Geschäfts Konfliktsfälle auf, die von den Parteien nicht bedacht und daher auch nicht ausdrücklich geregelt wurden, dann ist unter Berücksichtigung der übrigen Vertragsbestimmungen und des von den Parteien verfolgten Zwecks zu fragen, welche Lösung redliche und vernünftige Parteien vereinbart hätten (RS0017758; vgl auch RS0113932). Haben die Vertragschließenden den eingetretenen Problemfall nicht geregelt, so ist der Vertrag ergänzend auszulegen. Dafür kommen vor allem der hypothetische Parteiwille, die Übung des redlichen Verkehrs (Verkehrssitte) sowie Treu und Glauben in Frage (RS0017758 [T3, T 9]; RS0113932).
Selbst wenn man von der Notwendigkeit einer Regelung ausgeht, greift in einem solchen Fall zwar primär das dispositive Recht ein, dessen Zweck es gerade ist, für im Vertrag nicht geregelte Fragen Regeln zur Verfügung zu stellen (RS0017829 [T1]; RS0017899 [T16]); eine ergänzende Vertragsauslegung hat aber vor allem dann einzutreten, wenn die Parteien die Anwendung vorhandenen Dispositivrechts jedenfalls nicht wollten, dennoch aber selbst keine Regelung trafen oder wenn sich die vorhandene gesetzliche Regelung für den konkreten Fall als unangemessen, nicht sachgerecht, unbillig und dergleichen erweist (RS0017890).
3. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist die Vertragsauslegung grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls (RS0042936, RS0044358, RS0112106), was auch für die ergänzende Vertragsauslegung zu gelten hat, die sich am hypothetischen Willen der konkreten Vertragsparteien zu orientieren hat (7 Ob 75/09v). Eine erhebliche Rechtsfrage läge zwar vor, wenn von den Vorinstanzen infolge einer wesentlichen Verkennung der Rechtslage ein unvertretbares Auslegungsergebnis erzielt worden sein sollte (RS0042936); ein solches kann hier jedoch nicht erkannt werden:
3.1. Für den Fall der Auflösung der beklagten Sparvereine haben die Parteien keine Regelung getroffen, insbesondere nicht darüber, an wen zu diesem Zeitpunkt noch vorhandene Gelder fallen sollen. Die Parteien haben diesen Fall auch nicht bedacht, weil sie beim Verfassen der Betriebsvereinbarung (offensichtlich) nicht daran gedacht hatten, dass die von der Klägerin zur Verfügung gestellten jährlichen Mittel auch zu einer Vermögensbildung bei den Beklagten über das erforderliche Maß hinausführen könnten. Vor dem Hintergrund der dargelegten Rechtslage liegen somit die Voraussetzungen für eine Vertragslücke, die mittels ergänzender Vertragsauslegung zu füllen ist, vor.
Auf die von den Beklagten in ihrer außerordentlichen Revision aufgeworfenen Fragen zur Beweislastverteilung braucht nicht näher eingegangen zu werden, liegt diesen Ausführungen doch die Überlegung zugrunde, das Erstgericht habe lediglich eine non-liquet-Feststellung zur Frage getroffen, ob die Parteien willentlich, bewusst keine Regelung bei Abschluss der Betriebsvereinbarung getroffen haben. Wie das Berufungsgericht auf Sachverhaltsebene jedoch ausdrücklich – und völlig zutreffend – ausgeführt hat, könne es keinem Zweifel unterliegen, dass das Erstgericht vom Vorhandensein einer planwidrigen Lücke betreffend das Schicksal der freigewordenen Vermögenswerte im Fall der Auflösung der Beklagten ausging und nicht von einer non-liquet-Situation.
3.2. Eine ergänzende Vertragsauslegung führt – unter Zugrundelegung der Grundsätze der dargestellten Rechtsprechung (2.) – dazu, dass bei Prüfung des von den Parteien verfolgten Zwecks vor allem Punkt D § 1 der Erläuternden Bemerkungen zur Betriebsvereinbarung in die Überlegungen einzubeziehen ist. Daraus ergibt sich als Grund für den Betrieb der beklagten Sparvereine deren Aufgabe, zu möglichst günstigen Konditionen einerseits Einlagen ihrer Mitglieder entgegen zu nehmen und andererseits diesen Kredite zu gewähren, um den Dienstnehmern der Klägerin auch „Mitarbeiterkonditionen“ gewähren zu können, weil die Klägerin nicht die rechtliche Möglichkeit hat(te), verzinste Guthaben für ihre Dienstnehmer zu halten bzw diesen Kredite zu gewähren, wie dies bei Kommerzbanken im Rahmen von Mitarbeiterkonditionen ihren Mitarbeitern gegenüber sonst der Fall ist. In Punkt A § 3 der Betriebsvereinbarung ist außerdem geregelt, dass die Klägerin jährlich Mittel zur Subventionierung der Wohlfahrtseinrichtungen und Sozialaktionen zur Verfügung stellt, wobei zu den Wohlfahrtseinrichtungen gemäß Punkt A § 7 der Betriebsvereinbarung auch die beklagten Sparvereine zählen.
Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass die Klägerin mit der in Rede stehenden Fördervereinbarung über die beklagten Sparvereine insbesondere ihren Dienstnehmern Subventionen in Form von Spareinlagen und Krediten zu besonderen Konditionen zukommen lassen wollte. Unter Berücksichtigung dieses Zwecks der Betriebsvereinbarung ist zu fragen, welche Lösung redliche und vernünftige Parteien für den Fall vereinbart hätten, dass nach Auflösung der Sparvereine noch finanzielle Mittel vorhanden sind, die auf die Zuwendungen der Klägerin zurückzuführen sind, die also von den den Beklagten gewährten Fördermitteln noch „übrig sind“. Dabei ist die Auffassung der Vorinstanzen, redliche und vernünftige Parteien hätten vorgesehen, dass nicht verbrauchte Fördermittel an die Klägerin wieder herauszugeben sind, jedenfalls vertretbar. Sie entspricht einer Lösung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben, das Geld wieder dem zukommen zu lassen, der es gegeben hat, wenn der damit angestrebte Zweck nicht (mehr) erreicht wird; die von den Beklagten angestrebte Lösung wäre dem gegenüber nicht sachgerecht und unbillig.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:0060OB00040.20F.0915.000 |
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