OGH vom 30.06.2021, 7Ob45/21z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der außerstreitigen Rechtssache des Antragstellers Mag. (FH) M***** K*****, vertreten durch Dr. Thomas Trentinaglia, Rechtsanwalt in Kitzbühel, wegen Überprüfung der Zulässigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen nach dem Epidemiegesetz, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom , GZ 20 R 47/21h-6, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Klosterneuburg vom , GZ 5 Ub 1/21t-3, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
[1] Der Antragsteller fuhr am mit seiner Lebensgefährtin und seinen beiden Kindern nach Kroatien. Am kehrte er mit den beiden Kindern wieder nach Österreich zurück. Daraufhin begab er sich ohne behördliche Anordnung in Entsprechung der COVID-19-Einreiseverordnung an (einer) seiner Wohnadressen in „selbstüberwachte“ Quarantäne.
[2] Mit Antrag vom begehrt der Antragsteller beim Bezirksgericht die durch die Verordnung angeordnete Freiheitsbeschränkung mit sofortiger Wirkung aufzuheben.
[3] Das Erstgericht wies den Antrag mit der Begründung zurück, § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG sei nur auf die gerichtliche Überprüfung einer Anhaltung aufgrund eines individuellen Rechtsakts anzuwenden. Da sich hier die Quarantänepflicht unmittelbar aus einer Verordnung ergebe, sei der Antrag unzulässig.
[4] Das Rekursgericht bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und gab dem Rekurs keine Folge.
[5] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Antragstellers mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Rechtliche Beurteilung
[6] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehlt, ob § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG auch auf eine sich unmittelbar aus einer Verordnung ergebende Quarantänepflicht anzuwenden ist. Er ist aber nicht berechtigt.
[7] 1. Die Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz über die Einreise nach Österreich im Zusammenhang mit COVID-19 (COVID19EinreiseV; BGBl II 445/2020, idF BGBl II 563/2020) lautete im Zeitpunkt der Antragstellung auszugsweise wie folgt:
„Auf Grund der § 16 und 25 des Epidemiegesetzes 1950 (EpiG), BGBl. Nr. 186/1950, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 104/2020, wird verordnet:
1. Abschnitt [...]
Quarantäne
§ 3. (1) Personen, die nach dieser Verordnung zur Quarantäne verpflichtet sind, haben diese selbstüberwacht
1. an einem bestehenden Wohnsitz (Heimquarantäne) oder
2. in einer sonstigen geeigneten Unterkunft, über deren Verfügbarkeit bei der Einreise eine Bestätigung vorzulegen ist,
anzutreten. Die Kosten der Unterkunft sind selbst zu tragen. Der Wohnsitz oder die Unterkunft darf für den Quarantänezeitraum nicht verlassen werden. […]
2. Abschnitt
Einreise aus EU-/EWR-Staaten, aus der Schweiz, Andorra, Monaco, San Marino, dem Vatikan und dem Vereinigten Königreich
§ 4. (1) […]
(2) Personen, die bei der Einreise die Voraussetzungen des Abs. 1 Z 1 oder 2 nicht erfüllen, haben unverzüglich eine zehntägige Quarantäne gemäß § 3 anzutreten. Die Quarantäne gilt als beendet, wenn ein molekularbiologischer Test auf SARS-CoV-2 oder Antigen-Test auf SARS-CoV-2 frühestens am fünften Tag nach der Einreise durchgeführt wird und das Testergebnis negativ ist. […]“
[8] 2. Gemäß § 7 Abs 1a EpiG idF BGBl I 2016/63 können zur Verhütung der Weiterverbreitung einer anzeigepflichtigen Krankheit kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen angehalten oder im Verkehr mit der Außenwelt beschränkt werden, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann. Die angehaltene Person kann bei dem Bezirksgericht, in dessen Sprengel der Anhaltungsort liegt, die Überprüfung der Zulässigkeit und Aufhebung der Freiheitsbeschränkung nach Maßgabe des 2. Abschnitts des Tuberkulosegesetzes beantragen.
[9] 2.1. Über den unter anderem vom Obersten Gerichtshof (7 Ob 139/20x) eingebrachten Gesetzesprüfungsantrag hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom § 7 Abs 1a zweiter Satz des EpiG idF BGBl I 2016/63 wegen Verstoßes gegen Art 18 Abs 1 iVm Art 83 Abs 2 BVG als verfassungswidrig auf und beschloss in einem, von der ihm gemäß Art 140 Abs 7 zweiter Satz BVG eingeräumten Ermächtigung Gebrauch zu machen und die Anlassfallwirkung auch auf die beim Verfassungsgerichtshof zu K I 13/2020, E 2375/2020 anhängige Rechtssache auszudehnen (VfGH G 380/2020 ua).
[10] 2.2. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind grundsätzlich verpflichtet, das durch den Verfassungsgerichtshof aufgehobene Gesetz oder die aufgehobene Verordnung weiterhin auf Tatbestände anzuwenden, die sich vor dem Außerkrafttreten des aufgehobenen Gesetzes oder der aufgehobenen Verordnung konkretisiert haben, sofern der Verfassungsgerichtshof nichts anderes ausgesprochen hat (vgl Art 140 Abs 7 Satz 2 BVG; RS0054186; vgl auch RS0054005; VwGH 2004/12/0130). Soweit nach diesen Grundsätzen ein Gesetz (oder eine Verordnung) weiterhin anzuwenden ist, ist eine neuerliche Überprüfung dieses Gesetzes (der Verordnung) durch den Verfassungsgerichtshof ausgeschlossen (RS0053996 [T2]; 2 Ob 107/12t unter Hinweis auf VfGH V 127/11; VwGH 2004/12/0130).
[11] 2.3. Welche konkreten Auswirkungen das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs, G 380/2020 ua, auf die hier anzuwendende Rechtslage hat, kann jedoch aus folgenden Erwägungen dahingestellt bleiben:
[12] 3. Der Antragsteller begab sich nämlich im vorliegenden Fall ohne behördliche Anordnung in Entsprechung der § 3 Abs 1 iVm § 4 Abs 2 COVID-19-EinreiseV an (einer) seiner Wohnadressen in „selbstüberwachte“ Quarantäne. Diese sich unmittelbar aus einer Verordnung ergebende „selbstüberwachte Heimquarantäne“ unterliegt schon grundsätzlich nicht der bezirksgerichtlichen Überprüfung nach § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG idF BGBl I 2016/63:
[13] 3.1. Die zitierte Bestimmung gewährt der „angehaltenen Person“ ein gerichtliches Überprüfungsrecht. Schon diese Begriffswahl macht deutlich, dass es sich dabei um eine ad personam verfügte Anhaltung handeln muss. Bestätigt wird diese Auslegung durch systematische Erwägungen, verweist § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG idF BGBl I 2016/63 doch zur näheren Ausgestaltung des Überprüfungsverfahrens des Bezirksgerichts auf den 2. Abschnitt des Tuberkulosegesetzes, der ausschließlich auf die Überprüfung einer ad personam verfügten Freiheitsbeschränkung zugeschnitten ist. Berücksichtigt man schließlich noch den Willen des (historischen) Gesetzgebers, so bestehen keinerlei Zweifel mehr: In den Materialien zu § 7 Abs 1a EpiG wird nämlich ausgeführt, dass den kranken, krankheitsverdächtigen oder ansteckungsverdächtigen Personen, denen gegenüber eine freiheitsbeschränkende Maßnahme (Absonderung in der Wohnung oder einer entsprechenden Krankenanstalt) verfügt wurde, die Möglichkeit einer Überprüfung dieser Maßnahme durch das Gericht zustehe. Die freiheitsbeschränkende Maßnahme könne je nach Sachlage, insbesondere der Dringlichkeit der Maßnahme, entweder durch die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder durch Bescheid erfolgen (ErlRV 1187 BlgNR 25. GP 16). Damit kommt zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung ausschließlich die Überprüfung individueller Rechtsakte vor Augen hatte (idS auch Mokrejs-Weinhappel, Die gerichtliche Überprüfung von Anhaltungen wegen COVID19 nach dem Epidemiegesetz – Ein Überblick, iFamZ 2020, 84 [86]; aM ohne Begründung Klaushofer/Kneihs/Palmstorfer/Winner, Ausgewählte unions- und verfassungsrechtliche Fragen der österreichischen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des COVID19Virus, ZÖR 2020, 649 [688, 692 FN 207]).
[14] 3.2. Der Revisionsrekurswerber argumentiert nun, zur Wahrung einer verfassungskonformen Rechtslage (Art 6 PersFrG, Art 5 Abs 4 EMRK) müsse § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG dahin ausgelegt werden, dass das gerichtliche Überprüfungsverfahren auch dann zur Anwendung komme, wenn sich die Quarantänepflicht unmittelbar aus der COVID-19-EinreiseV ergebe. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch eine verfassungskonforme Auslegung eines Gesetzes ihre Grundlage im Gesetz selbst haben muss (RS0008798). Das verfassungskonforme Ergebnis muss somit im Rahmen des mit Hilfe der Auslegungsgrundsätze der § 6 und 7 ABGB erschließbaren Normsinns liegen (vgl 1 Ob 236, 237/66 = EvBl 1967, 292 [294]; 5 Ob 69/93 = MietSlg 45.001). Die vom Antragsteller angestrebte verfassungskonforme Interpretation scheitert allerdings – wie in Punkt 3.1. dargelegt – daran, dass die gerichtliche Zuständigkeit gemäß § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG idF BGBl I 2016/63 in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise auf ad personam verfügte Anhaltungen beschränkt ist und daher nicht auf die „selbstüberwachte Heimquarantäne“ aufgrund der COVID19EinreiseV angewendet werden kann.
[15] 3.3. Die vom Antragsteller zitierte Entscheidung 13 Os 135/06m, in welcher der Oberste Gerichtshof eine Ausweitung der Rechtsschutzmöglichkeit nach § 363a StPO (unter Würdigung verfassungs- und grundrechtlicher Gesichtspunkte) bejahte, ist nicht einschlägig. In der zitierten Entscheidung ging er nämlich von einer (nachträglichen) Lückenhaftigkeit des Gesetzes aus, welche die Rechtsfortbildung erst möglich machte. Eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes liegt hier aber gar nicht vor (vgl Punkt 3.1.).
[16] 4. Der Revisionsrekurs ist daher nicht berechtigt.
[17] 5. Der Revisionsrekurswerber hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen (§ 78 AußStrG).
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00045.21Z.0630.000 |
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