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OGH vom 27.04.2017, 2Ob36/17h

OGH vom 27.04.2017, 2Ob36/17h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei ***** Gebietskrankenkasse, *****, vertreten durch Rechtsanwälte Dr. Amhof & Dr. Damian GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei G***** F***** A*****, vertreten durch Mag. Josef Hofinger und Dr. Roland Menschick, LL.M., Rechtsanwälte in Grieskirchen, wegen 35.000 EUR sA, über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom , GZ 3 R 156/16f-14, mit dem infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Landesgerichts Wels vom , GZ 5 Cg 110/16z-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 4.029,48 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin 671,58 EUR Umsatzsteuer) zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die klagende Gebietskrankenkasse begehrt vom Beklagten 35.000 EUR samt Zinsen. Der Beklagte sei als Geschäftsführer einer insolventen GmbH rechtskräftig wegen des Verbrechens des betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen nach § 153d Abs 1, Abs 3 zweiter Fall StGB verurteilt worden, wobei infolge seines Verhaltens in der Zeit von 2007 bis 2009 Sozialversicherungsbeiträge von 623.742,23 EUR nicht geleistet worden seien. Für diesen Schaden hafte der Beklagte der Klägerin nach allgemeinem Schadenersatzrecht, wobei § 153d StGB als Schutzgesetz anzusehen sei. Die Klägerin mache vorerst nur einen Teil ihres Schadens geltend.

Der wendete örtliche Unzuständigkeit sowie in der Sache ein, er habe zu keinem Zeitpunkt Anmeldungen zur Sozialversicherung vorgenommen oder in Auftrag gegeben, bei denen es zu einer Schädigung der Klägerin gekommen sei. Eine allfällige Forderung sei verjährt. Der Verweis auf ein strafgerichtliches Urteil sei keine ausreichende zivilrechtliche Haftungsgrundlage.

Das nach Überweisung gemäß § 261 Abs 6 ZPO nunmehrige wies die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurück. Nach § 67 Abs 10 ASVG hafteten die zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern insoweit für die von diesen zu entrichtenden Beiträge, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden könnten. Darüber sei nach § 410 Abs 1 Z 4 ASVG mit Bescheid abzusprechen, was den Rechtsweg ausschließe. Davon seien auch die hier geltend gemachten Beiträge erfasst. § 153d StGB stehe dieser Auffassung nicht entgegen, weil diese Bestimmung eine spezifisch sozialversicherungsrechtliche und keine allgemein dem Gläubigerschutz dienende Verpflichtung begründe.

Das behob den Zurückweisungsbeschluss und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom Zurückweisungsgrund auf. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es zu.

Jedenfalls bis zur (hier noch nicht anwendbaren) Änderung von § 58 Abs 5 ASVG mit dem BG BGBl I 2010/62 (SRÄG 2010) sei der Anwendungsbereich von § 67 Abs 10 ASVG nach der Rechtsprechung des VwGH auf Beitragsausfälle beschränkt gewesen, die auf schuldhaften Meldepflichtverletzungen oder dem Nichtabführen von einbehaltenen Dienstgeberbeiträgen durch Vertreter des Dienstgebers beruhten. Das werde in der Klage nicht behauptet. Vielmehr mache die Klägerin einen Verstoß gegen den als Schutzgesetz zu qualifizierenden § 153d geltend. Dafür stehe der Rechtsweg offen. Eine erhebliche Rechtsfrage liege vor, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob für das Einfordern von Beiträgen, die Vertreter des Dienstgebers vor der Änderung von § 58 Abs 5 ASVG mit dem BG BGBl I 2010/62 betrügerisch nicht abgeführt hätten, der Rechtsweg zulässig sei.

Im macht der geltend, dass der 2005 eingeführte § 153d StGB weitere sozialversicherungsrechtliche Pflichten der Vertreter von juristischen Personen begründet habe, die bei der Anwendung von § 67 Abs 10 ASVG zu berücksichtigen seien. Damit sei der auf § 153d StGB beruhende Ersatzanspruch auf den Verwaltungsweg verwiesen.

Die führt in der Revisionsrekursbeantwortung aus, dass es sich bei § 153d StGB ebenso wie bei § 153c StGB um ein Schutzgesetz handle. Daher könnten bei Verstoß gegen diese Bestimmung Schadenersatzansprüche im Rechtsweg geltend gemacht werden.

Rechtliche Beurteilung

Der ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund ; er ist auch .

1. Entscheidend für die Zulässigkeit des Rechtswegs ist, ob ein privatrechtlicher Anspruch geltend gemacht wird, der nicht durch Gesetz ausdrücklich vor eine Verwaltungsbehörde verwiesen wurde (1 Ob 221/14b, SZ 2015/15 = EvBl 2015/148 [Ballon] mwN). Dafür ist auf den Wortlaut des Klagebegehrens und den in der Klage behaupteten Sachverhalt abzustellen (RIS-Justiz RS0005896; RS0045584; Ballon in Fasching/Konecny3§ 1 JN Rz 72 mwN). Ohne Einfluss ist hingegen, was der Beklagte einwendet oder ob der behauptete Anspruch begründet ist; es kommt nur darauf an, ob nach dem Inhalt der Klage ein privat-rechtlicher Anspruch erhoben wird, über den die ordentlichen Gerichte zu entscheiden haben (RIS-Justiz RS0045584; RS0045718).

2. Die Klägerin stützt ihren Schadenersatzanspruch auf einen Verstoß des Beklagten gegen § 153d StGB. Diese Bestimmung dient dem Schutz von Sozialversicherungsträgern (vgl Kirchbacher/Presslauer in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 153d Rz 1 und 2). Ein so begründeter Schadenersatzanspruch hat an sich zivilrechtlichen Charakter, weshalb er nach allgemeinen Grundsätzen vor die Zivilgerichte gehörte.

3. Im konkreten Fall verweist § 67 Abs 10 iVm § 410 Abs 1 Z 4 ASVG diesen Anspruch aber vor eine Verwaltungsbehörde.

3.1. Nach § 67 Abs 10 ASVG haften die zur Vertretung juristischer Personen oder Personenhandelsgesellschaften berufenen Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern insoweit für die von diesen zu entrichtenden Beiträge, als die Beiträge infolge nicht eingebracht werden können. Die Haftung ist nach § 410 Abs 1 Z 4 ASVG mit auszusprechen. Diese Bestimmungen verweisen Ansprüche wegen schuldhafter Pflichtverletzung an die Verwaltungsbehörden.

3.2. Die Pflichten des Vertreters decken sich nach nunmehr geltendem Recht (§ 58 Abs 5 ASVG idF BG BGBl I 2010/102) mit jenen des Beitragsschuldners, was eine umfassende Vorschreibung mit Bescheid ermöglicht (Müller in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Kommentar § 67 ASVG Rz 109). Für die – im konkreten Fall relevante – Zeit Einführung dieser Bestimmung war demgegenüber strittig, ob eine solche (umfassende) Verpflichtung auch aus einer Analogie zu § 80 BAO abgeleitet werden konnte. Der VwGH lehnte dies in ständiger Rechtsprechung ab (98/08/0191 [verst Senat] VwSlg 15528 A/2000; zuletzt 2013/08/0173; 2013/08/0038; vgl dazu B. Karl, Beitragshaftung in der Sozialversicherung, ZAS 2009, 4 [10]). § 67 Abs 10 ASVG war daher auf Fälle beschränkt, in denen das Gesetz vorsah. Der VwGH nannte dabei einerseits Melde- und Auskunftspflichten, soweit diese in § 111 ASVG iVm § 9 VStG auch gegenüber Vertretern sanktioniert waren, und die Verpflichtung zur Abfuhr einbehaltener Dienstnehmerbeiträge, deren Verletzung nach § 114 Abs 2 ASVG strafbar war (nunmehr § 153c Abs 2 StGB). Die Haftung wegen Verletzung anderer Verpflichtungen, die Vertreter gegenüber allen Gläubigern träfen (etwa Verbot der Konkursverschleppung), sei demgegenüber im Zivilrechtsweg geltend zu machen.

3.3. Damit übereinstimmend bejahte der Oberste Gerichtshof die Zulässigkeit des Rechtswegs bei Ansprüchen aufgrund einer vom Vertreter übernommenen Bürgschaft (2 Ob 222/04t, ZIK 2007, 35) oder wegen Verletzung allgemeiner Gläubigerschutzbestimmungen (5 Ob 522/94, 1 Ob 50/99f, SZ 72/76; 10 ObS 43/12i, DRdA 2013/38 [Kietaibl]). In diesen Fällen verstoße das zivilrechtliche Geltendmachen gegen eine zwingend vorgeschriebene hoheitliche Gestaltungsform (2 Ob 222/04t). Hingegen steht der Zivilrechtsweg nicht offen, wenn der Sozialversicherungsträger den konkret geltend gemachten Anspruch mit Bescheid durchsetzen kann (5 Ob 522/94). Denn es besteht keine Wahlfreiheit zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Handlungsformen, wenn der Gesetzgeber zu erkennen gegeben hat, dass die hoheitliche Gestaltung zwingend ist (1 Ob 30/91, SZ 64/92; RIS-Justiz RS0038475 [T1]).

3.4. Nur bei einer Konkurrenz der Anspruchsgrundlagen – also bei einem Verstoß gegen spezifisch sozialversicherungsrechtliche Pflichten einerseits und gegen allgemeine Gläubigerschutzbestimmungen andererseits – kann der Sozialversicherungsträger daher im Ergebnis den Weg zur Durchsetzung wählen: Die Möglichkeit der Bescheiderlassung wegen Verletzung spezifisch sozialversicherungsrechtlicher Pflichten steht dem Geltendmachen des mit einem Verstoß gegen allgemeine Gläubigerschutzbestimmungen begründeten Ersatzanspruchs vor den ordentlichen Gerichten nicht entgegen (1 Ob 50/99f; RIS-Justiz RS0111939).

3.5. Als „Verpflichtung“ im Sinn von § 67 Abs 10 ASVG qualifizierte der VwGH insbesondere das früher nach § 114 ASVG und nun nach § 153c StGB sanktionierte Nichtabführen von einbehaltenen Dienstgeberbeiträgen (zuletzt etwa 2013/08/0038). Ob das auch für § 153d StGB in seiner im hier relevanten Zeitraum geltenden Fassung (BGBl I 2004/152 bzw BGBl I 2007/109) zutraf, hatte er– soweit überschaubar – noch nicht zu beurteilen. Das ist jedoch zu bejahen: § 153d StGB idF BGBl I 152/2004 bzw BGBl I 2007/109 sanktionierte das betrügerische Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen durch den Dienstgeber (Abs 1) oder dessen „leitenden Angestellten“ (Abs 3), wobei diese Bestimmung – anders als § 153c StGB (früher § 114 ASVG) – nicht auf Dienstgeberbeiträge beschränkt war (Kirchbacher/Presslauer in WK2 StGB § 153d Rz 3). Im Ergebnis erweiterte sie daher jene spezifisch sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen des Vertreters, die sich zuvor (nur) aus § 114 ASVG (§ 153c StGB) ergeben hatten. Daraus folgt aber zwingend, dass auch § 153d StGB in den hier maßgebenden Fassungen die Haftung des Vertreters nach § 67 Abs 10 ASVG begründete, die nach § 410 Abs 1 Z 4 ASVG mit Bescheid festzusetzen war. Dies wiederum schließt, wie in den vom Verwaltungsgerichtshof ausdrücklich genannten Fällen, eine Durchsetzung im Zivilrechtsweg aus. Auf die Verletzung allgemeiner Gläubigerschutzvorschriften– also auf eine konkurrierende Anspruchsgrundlage – hat sich die Klägerin nicht berufen.

3.6. Aufgrund dieser Erwägungen kann die Klägerin ihren ausschließlich (Klage ON 1) mit einem Verstoß gegen § 153d StGB idF BGBl I 2004/152 bzw BGBl I 2007/109 begründeten Anspruch nicht vor den ordentlichen Gerichten geltend machen (§ 1 JN). Eine Rechtsschutzlücke entsteht dadurch nicht, weil sie ohnehin einen Bescheid erlassen konnte. Soweit das nicht zutrifft– also etwa bei den in der Rechtsmittelbeantwortung genannten Ansprüchen gegen Anstifter oder Beitragstäter – wäre der Zivilrechtsweg auch nicht ausgeschlossen. Wie die Frage nach nunmehr geltendem Recht zu beurteilen wäre (§ 58 Abs 5 ASVG bzw § 153d StGB idF BGBl I 2015/112), ist nicht zu prüfen.

4. Aus diesen Gründen hat der Revisionsrekurs Erfolg. Die vom Erstgericht vorgenommene Zurückweisung der Klage ist daher wiederherzustellen.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:0020OB00036.17H.0427.000
Schlagworte:
1 Generalabonnement,14 (Zivil-)Verfahrensrechtliche Entscheidungen

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