OGH vom 16.02.2012, 6Ob26/12k

OGH vom 16.02.2012, 6Ob26/12k

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache der Antragstellerin C***** H*****, vertreten durch Mag. Dr. Michael Mayer, Rechtsanwalt in Graz, als Verfahrenshelfer, gegen den Antragsgegner Land Steiermark als Jugendwohlfahrtsträger (Bezirkshauptmannschaft Graz Umgebung, 8021 Graz, Bahnhofgürtel 85), wegen Rückführung nach HKÜ, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom , GZ 2 R 333/11x 52, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs samt Ergänzungen wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Text

Begründung:

Der am geborene Arthur ist das außereheliche Kind von C***** H***** und S***** F***** R*****. Eltern und Kind sind deutsche Staatsbürger. Am verließ die nach der Aktenlage gemäß § 1626a Abs 2 BGB allein sorgeberechtigte Mutter mit ihrem Sohn Deutschland. Beide ließen sich in Österreich nieder.

Am beantragte der Jugendwohlfahrtsträger Land Steiermark beim Erstgericht, der Mutter gemäß § 176 ABGB die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung sowie die gesetzliche Vertretung in diesem Bereich zu entziehen und dem Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen, weil die Mutter nicht erziehungsfähig sei. Eine Entscheidung in diesem Verfahren ist noch nicht ergangen. Aufgrund einer Gefährdungsmeldung des Landesklinikums M***** vom , wo das Kind in der Abteilung Psychosomatik behandelt wurde, sprach der Jugendwohlfahrtsträger am ein Ausfolgeverbot aus und änderte den am beim Erstgericht eingelangten Antrag dahin ab, dass dieser gemäß § 176 iVm § 215 Abs 1 ABGB gestellt werde.

Mit Antrag vom begehrte die Mutter die Rückführung ihres Sohnes gemäß HKÜ nach Deutschland. Sie begründete dies damit, dass ihr das alleinige Sorgerecht zustehe, sie mit ihrem Sohn im September 2009 nach Österreich geflüchtet sei, ihr das Kind am im Auftrag des Jugendamts Graz Umgebung abgenommen worden sei und sie seitdem keinen Kontakt mehr zum Kind habe.

Das Erstgericht wies den Antrag „zurück bzw ab“.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss mit der Maßgabe, dass der Rückführungsantrag der Mutter abgewiesen wird.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Antragstellerin samt Ergänzungen ist unzulässig (§ 62 Abs 1 AußStrG).

Ziel des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) ist es, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einem Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen (Art 1 lit a HKÜ; 4 Ob 150/05w mwN). Der Oberste Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass sich aus der Präambel des Übereinkommens (... um eine sofortige Rückgabe in „den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen“ ...) ergibt, dass sicherzustellen ist, dass das Kind in den Staat seines (bisherigen) gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehrt (1 Ob 51/02k; 2 Ob 80/03h; 4 Ob 150/05w). Das Kind, dass sich an seinem gewöhnlichen Aufenthalt befindet, kann daher dorthin weder verbracht noch dort iSd Art 3 HKÜ zurückgehalten werden (2 Ob 80/03h).

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Art 3 HKÜ gleich auszulegen wie in den diesen Begriff enthaltenden Bestimmungen der JN und des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens (1 Ob 220/02p; 2 Ob 80/03h; 2 Ob 78/09y). Demgemäß kommt es für die Ermittlung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ nicht auf die Absicht, dauernd an einem Ort verbleiben zu wollen, an, aber doch darauf, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehungen macht. Maßgeblich sind dauerhafte Beziehungen einer Person zu einem Aufenthaltsort. Der Aufenthalt einer Person bestimmt sich ausschließlich nach tatsächlichen Umständen. Die Dauer des Aufenthalts ist für sich allein kein ausschlaggebendes Moment, wesentlich ist stets, ob Umstände vorliegen, die dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen. Ein „gewöhnlicher Aufenthalt“ ist im Allgemeinen nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten anzunehmen, doch ist die genaue Prüfung der jeweiligen Umstände erforderlich, insbesondere wenn der Aufenthalt des Kindes mehr oder weniger zwangsweise begründet wurde. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch gegen den Willen eines Sorgeberechtigten begründet werden, weil es auf den tatsächlichen Daseinsmittelpunkt des Minderjährigen ankommt. Das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts darf nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt über einen längeren Zeitraum gewährt wurde und das Kind sozial integriert ist (2 Ob 78/09y mwN). Ob ein „gewöhnlicher Aufenthalt“ vorliegt, kann aber nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, weshalb insoweit die Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht gegeben sind. Eine krasse Fehlbeurteilung, die aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit wahrzunehmen wäre, kann in der Annahme des Rekursgerichts, das Kind habe schon vor dem Ausfolgeverbot seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich begründet, im Hinblick auf die vom Rekursgericht angeführten Umstände nicht erblickt werden. Eine andere Beurteilung ist auch nicht vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom , Rs C 523/07, Korkein (Slg 2009 I 02805), zur Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ in Art 8 Abs 1 Brüssel IIa VO geboten. Diesem Urteil zufolge ist der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinn der genannten Verordnungsbestimmung dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familien in diesem Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in den betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen. Die Mutter hat mit ihrem Sohn in Österreich mehr als ein Jahr in einer angemieteten Wohnung gewohnt. Sie hat ihre Wohnung in Deutschland aufgelöst. Sie ist in Österreich ein rund sechs Monate währendes Dienstverhältnis eingegangen. Ihr Sohn hat in Österreich den Kindergarten besucht. Sie hatte im Zeitraum vom bis mehr als 70 sozialarbeiterische Kontakte mit dem Jugendamt. Die Beurteilung, dass diese Umstände die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich rechtfertigen, bedarf keiner Korrektur.