OGH vom 31.03.2020, 3Ob243/19k
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Präsidentin Hon.-Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Roch und Priv.-Doz. Dr. Rassi und die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen V*****, in Obsorge der Mutter W*****, vertreten durch Dr. Heinz-Peter Wachter, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterhalt (Sonderbedarf), über den Revisionsrekurs des Vaters R*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar, Dr. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 314/19p-227, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom , GZ 3 Pu 118/09h-219, teilweise bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Der Antrag auf Ersatz der Kosten der Revisionsrekursbeantwortung wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der 2005 geborene Minderjährige, dem ein Gesamtgrad der Behinderung von 60 % zuerkannt wurde, leidet an frühkindlichem Autismus (Kanner-Autismus), verbunden mit Einschränkungen im sozialen Bereich (wie kein Blickkontakt möglich, teilweise aggressive und hyperkinetische Verhaltensweisen). Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich ua deutlich durch das Auftreten der Augenerkrankung „Morbus Best“, die zur erheblichen Beeinträchtigung der Sehfähigkeit führt, wobei es bis zum Totalausfall der Sehfähigkeit beider Augen kommen kann.
Der Minderjährige besuchte vom Wintersemester 2011 bis zum Sommersemester 2015 eine öffentliche Volksschule in Wien. Er war dort Integrationsschüler und wurde nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet. Seit dem Abschluss der Volksschule erfüllt er die allgemeine Schulpflicht durch die Teilnahme an häuslichem Unterricht nach dem Sonderschullehrplan durch seine Mutter. Seit der ersten Klasse Volksschule benötigte er zusätzlich zum Sonderschulunterricht in den Fächern Deutsch und Mathematik weitere Unterrichtsstunden. Diese hielt stets eine diplomierte Legasthenietrainerin jedenfalls einmal in der Woche. Der Minderjährige war damit in der Lage, bislang die fünfte, sechste und siebente Schulstufe nach Sonderschullehrplan positiv abzuschließen. Ein anderer Lehrplan mit noch geringeren Anforderungen existiert nicht.
Die Kosten für diese Schul bzw Legasthenie-Nachhilfe fallen nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Vorinstanzen sprachen ua die Kosten der diplomierten Legasthenietrainerin für die „Nachhilfestunden“ (von 30 EUR pro Einheit) für die Zeit von Juni 2016 bis Mai 2018 von insgesamt 2.090 EUR als durch die Einschränkungen des Kindes bedingten Mehraufwand für entwicklungspsychologische Förderung als Sonderbedarf (bei Gewährung von Ratenzahlungen) zu. Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, da Rechtsprechung zur Frage der Ersatzfähigkeit von laufenden Nachhilfekosten bei Kindern mit Einschränkungen nicht vorliege.
Der Revisionsrekurs des Vaters, dessen Argumentation sich auf einen Verweis auf die Rechtsprechung beschränkt, wonach Kosten für Nachhilfeunterricht ua nur dann als Sonderbedarf in Betracht kommen, wenn er nur vorübergehend erforderlich ist, zeigt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf und ist deshalb – ungeachtet des nicht bindenden Zulässigkeitsausspruchs (§ 71 Abs 1 AußStrG) – als nicht zulässig zurückzuweisen. Das ist wie folgt kurz zu begründen (§ 71 Abs 3 AußStrG):
Rechtliche Beurteilung
1. Sonderbedarf ist jener – auch längerfristige (6 Ob 175/18f) – Mehrbedarf eines unterhaltsberechtigten Kindes, der sich aus der Berücksichtigung der beim Regelbedarf (allgemeiner Durchschnittsbedarf) bewusst außer Acht gelassenen Umstände des Einzelfalls ergibt (RS0117791; RS0047564). Generell kann gesagt werden, dass ein Sonderbedarf durch Momente der Außergewöhnlichkeit, Dringlichkeit und Individualität bestimmt wird (RS0047539), also nicht mit weitgehender Regelmäßigkeit für die Mehrzahl der unterhaltsberechtigten Kinder zusteht (RS0047539 [T3]). Darunter fallen hauptsächlich Aufwendungen für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit und die Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere Kosten der Ausbildung, Talentförderung und Erziehung (RS0107180).
Ob ein solcher Sonderbedarf vom Unterhaltspflichtigen zu decken ist, hängt davon ab, wodurch er verursacht wurde (RS0047560) und ob er dem Unterhaltspflichtigen angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern des Kindes zumutbar ist (RS0107179; vgl RS0047543); das zweite Kriterium ist hier in dritter Instanz nicht mehr strittig. Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein Sonderbedarf vom Unterhaltspflichtigen zu decken ist, sind immer die Umstände des Einzelfalls (RS0047560 [T12]; RS0107179 [T1]).
2. Nach den Feststellungen sind Kosten der zusätzlichen Förderung eines schwer behinderten Kindes zu beurteilen, die es bisher in die Lage versetzten, die einzelnen Schulstufen nach Sonderschullehrplan positiv abzuschließen, also einen Schulabschluss zu erzielen. Ein solcher Aufwand unterscheidet sich – ungeachtet der Bezeichnung als „Nachhilfekosten“ – ganz wesentlich von den Kosten, die für den Nachhilfeunterricht ausreichend begabter Kinder aufgewendet werden, die Schwierigkeiten haben, ein Schuljahr positiv abzuschließen. Deshalb ist die vom Revisionsrekurswerber zitierte Entscheidung 10 Ob 61/05a nicht einschlägig.
Der Oberste Gerichtshof hat jüngst bereits mehrfach Mehraufwendungen, die der Befriedigung der individuellen, aus einer Behinderung resultierenden, nicht nur vorübergehenden Bedürfnisse eines Minderjährigen entsprechen, als Sonderbedarf qualifiziert (8 Ob 3/18a [diätische Mehraufwendungen]; 6 Ob 175/18f [Betreuungsleistungen durch externe Pflegekräfte]; 10 Ob 51/19a [Kosten einer teilweisen häuslichen Drittbetreuung]). Daher liegt keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung vor, wenn die Vorinstanzen den strittigen, gegenüber gesunden Kindern der gleichen Altersgruppe zweifellos außergewöhnlichen Förderaufwand als Sonderbedarf qualifizierten, der in den besonderen individuellen Verhältnissen des Kindes begründet ist.
3. Gemäß § 101 Abs 2 AußStrG findet in Verfahren über Unterhaltsansprüche Minderjähriger kein Kostenersatz statt.
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:0030OB00243.19K.0331.000 |
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