OGH vom 19.12.1994, 4Ob576/94
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Gamerith als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kodek, Dr.Niederreiter, Dr.Redl und Dr.Griß als weitere Richter in der Unterbringungssache des Franz V*****, infolge Revisionsrekurses des ärztlichen Abteilungsleiters der N***** gegen den Beschluß des Landesgerichtes St.Pölten als Rekursgericht vom , GZ R 751/94-15, womit der Rekurs des genannten Abteilungsleiters gegen den Beschluß des Bezirksgerichtes Amstetten vom , GZ Ub 448/94v-7, zurückgewiesen wurde, den
Beschluß
gefaßt:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Der 32-jährige Betroffene wurde am mit der Diagnose "alkoholpsychot. Zstb (Delir) Selbstgefährdung, Zust n. Commotio" in die N***** verlegt, nachdem er sich im Krankenhaus Z*****, in welches er nach einem Verkehrsunfall eingeliefert worden war, nicht hatte behandeln lassen. In der N***** wurde eine weitere Bewegung des Betroffenen durch Anlegen eines Bauchgurts für die Zeit von 17.30 Uhr bis 8.00 Uhr (des ) "bei Bedarf" verhindert, weil bei einem Sturz die Gefahr einer letalen Hirnblutung bestanden hätte. Dies wurde dem Patientenanwalt im Tagesbericht vom mitgeteilt. Am wurde der Betroffene aus der Klinik entlassen.
Bei der Erstanhörung vom - bei welcher die Unterbringung als vorläufig zulässig erklärt wurde - sprach der Erstrichter auf Antrag des Patientenanwaltes aus, daß die von Primarius Dr.L***** am "offensichtlich im Zeitraum von 17.30 Uhr" verfügte Beschränkung nicht dem Gesetz entspreche. Aus der vom Arzt selbst angeführten Begründung "bei Bedarf" sei zu entnehmen, daß die Beschränkung nicht gesetzmäßig sein könne. Sie sei zwar an und für sich um 17.30 Uhr zulässig gewesen, in weiterer Folge könne sie aber, da jede anzuordnende Beschränkung im Einzelfall von einem Arzt erst nach vorheriger Begutachtung des Patienten durchgeführt werden dürfe, nicht zulässig gewesen sei.
Das Gericht zweiter Instanz wies den dagegen vom ärztlichen Abteilungsleiter erhobenen Rekurs zurück und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Da dem Abteilungsleiter nach der Entlassung des Untergebrachten nach ständiger Rechtsprechung das Rechtschutzinteresse an der Bekämpfung eines Beschlusses, mit dem die Unterbringung für unzulässig erklärt wurde, fehle, müsse das auch für das Rechtsmittel gegen einen Beschluß gelten, mit dem während der Unterbringung eines Kranken einzelne Beschränkungen für unzulässig oder nicht dem Gesetz entsprechend erklärt wurden. Auch in diesem Fall hätte die Entscheidung über das Rechtsmittel nach der Entlassung des Untergebrachten nur noch theoretischen Charakter.
Der gegen diesen Beschluß erhobene Revisionsrekurs des ärztlichen Abteilungsleiters ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Der Rechtsmittelwerber meint, daß die vom Rekursgericht herangezogene ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes - die ihm durchaus bekannt ist - unberechtigt sei. Es entspreche einfach nicht der Realität des täglichen Lebens, daß das Rechtschutzinteresse des Abteilungsleiters mit der Entlassung des Patientens endet, müsse doch der Abteilungsleiter vielleicht noch am selben Tag, mit großer Wahrscheinlichkeit aber innerhalb derselben Woche, eine neuerliche Unterbringungsentscheidung treffen. Die mangelnde Überprüfbarkeit seiner Entscheidungen (im Falle der Entlassung) verhindere die Vereinheitlichung der derzeit von Bezirksgericht zu Bezirksgericht unterschiedlichen Lösung der im Unterbringungsverfahren laufend auftretenden Rechtsfragen. Das führe zu rechtlicher Unklarheit und Unsicherheit der beteiligten Ärzte. Dazu war zu erwägen:
Nach ständiger Rechtsprechung setzt jedes Rechtsmittel eine Beschwer, also ein Anfechtungsinteresse, voraus (SZ 49/22; SZ 53/86; SZ 61/6; Kodek in Rechberger, ZPO Rz 9 vor § 461 mwN aus dem Schrifttum). Dabei unterscheidet man die formelle Beschwer, welche dann vorliegt, wenn die Entscheidung von dem ihr zugrundeliegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers zu dessen Nachteil abweicht, und die materielle Beschwer. Diese liegt vor, wenn die (materielle oder prozessuale) Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig ausfällt. Die formelle Beschwer reicht nicht immer aus. Widerspricht die angefochtene Entscheidung dem vom Rechtsmittelwerber in der Vorinstanz gestellten Antrag, dann ist, wenn die Rechtstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung nicht beeinträchtigt wird, sein Rechtsmittel dennoch zurückzuweisen (Kodek aaO Rz 10). Das bloße Interesse des Rechtsmittelwerbers an der Klärung einer Rechtsfrage begründet aber keine Beschwer. Aufgabe der (Rechtsmittel-)Gerichte ist die Entscheidung über konkrete, an sie herangetragene Fälle, nicht aber die Lösung rein theoretischer Fragen (SZ 61/6 mwN; Kodek aaO Rz 9).
Ganz abgesehen davon, daß das Interesse an der Klärung einer Rechtsfrage nicht das Anfechtungsinteresse im dargestellten Sinn begründet, ist hier noch zu beachten, daß - wie der Oberste Gerichtshof schon mehrfach ausgesprochen hat (6 Ob 568/92; 1 Ob 518/93; 8 Ob 537/93 unter ausdrücklicher Ablehnung der in EvBl 1992/144 = RZ 1993/89 gebrauchten Wendung, daß das Rekursrecht des Abteilungsleiters der Abwehr des durch eine gerichtliche Sachentscheidung gegen die Anstalt gerichteten Vorwurfs gesetzwidriger Vorgangsweise gegenüber einem Kranken diene; 6 Ob 543/94) - der Anstaltsleiter nach richtigem Verständnis seiner Stellung und seiner Aufgaben im Verfahren nach dem Unterbringungsgesetz ebenso wie der Patientenanwalt ausschließlich die Interessen des Kranken zu verfolgen hat, die einerseits auf die wirksame ärztliche Behandlung und andererseits auf die bestmögliche Wahrung der persönlichen Freiheit gerichtet sind. Da diese Ziele in ihrer Richtung nicht selten auseinanderklaffen, hat der Gesetzgeber die Wahrnehmung des Interesses an der wirksamen ärztlichen Behandlung dem Anstaltsleiter und die Wahrnehmung des Interesses an der persönlichen Freiheit dem Patientenanwalt anvertraut. Das ändert aber nichts daran, daß auch der Anstaltsleiter nur Interessen des Kranken und nicht etwa solche des Krankenhausträgers oder der behandelnden Ärzte zu verfolgen hat.
Da die vom Erstgericht als unzulässig angesehene Art der Beschränkung des Betroffenen der Vergangenheit angehört, hätte das Rekursgericht in Erledigung des Rekurses des Abteilungsleiters nur noch aussprechen können, daß die angeordnete Einschränkung der Bewegungsfreiheit (§ 33 UbG) - da ja offenbar nur im Interesse des Kranken die Beschränkung auf den Bedarfsfall verfügt worden war - sehr wohl zulässig gewesen sei. Eine solche Feststellung erfordert aber das rechtlich geschützte Interesse des Kranken an der ärztlichen Behandlung nicht, weil das Gericht im Verfahren nach dem Unterbringungsgesetz stets nur über die Zulässigkeit der weiteren (künftigen) Unterbringung zu befinden hat (Kopetzki, Unterbringungesetz Rz 443; 1 Ob 518/93) und die Entscheidung über die Zulässigkeit einer früheren Maßnahme nur rein theoretischen Charakter hätte. (Nicht im Gegensatz dazu steht die Rechtsprechung, wonach in Fällen, in denen der gerichtliche Beschluß das Grundrecht des Menschen auf persönliche Freiheit [Art 5 Abs 1 lit e MRK, Art 2 Abs 2 Z 5 des Bundesverfassungsgesetzes vom über den Schutz der persönlichen Freiheit BGBl 684] berührt, dem in diesem Recht Beeinträchtigten auch noch nach Aufhebung freiheitsbeschränkender Maßnahmen - also auch nach Aufhebung der Unterbringung - ein rechtliches Interesse an der Feststellung zukommt, daß die freiheitsbeschränkende Vorkehrung zu Unrecht erfolgt sei [SZ 60/12 ua; 1 Ob 549/91 teilweise veröffentlicht in NRsp 1991/163], weil mit einem solchen Ausspruch die Rechtstellung der Partei verbessert wird; die Wahrung dieses Interesses ist aber nicht Aufgabe des ärztlichen Abteilungsleiters).
Mit Recht hat daher das Rekursgericht das Rechtsmittelrecht des Abteilungsleiters verneint, so daß dem Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen war.