OGH vom 05.08.2021, 2Ob19/21i
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei B***** K*****, vertreten durch Specht & Partner Rechtsanwalt GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei A***** AG, *****, vertreten durch Mag. Alain Danner, Rechtsanwalt in Wien, wegen 10.196 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 10.000 EUR), im Verfahren über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 1 R 121/20a-14, womit das Urteil des Handelsgerichts Wien vom , GZ 20 Cg 30/19v-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die an einen Unfall im Sinn von Art 17 Abs 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom in ihrem Namen genehmigt wurde, anschließende medizinische Erstversorgung an Bord des Luftfahrzeugs, die zu einer von den eigentlichen Unfallfolgen abgrenzbaren weiteren Körperverletzung des Reisenden führt, gemeinsam mit dem auslösenden Ereignis als einheitliches Unfallgeschehen anzusehen?
2. Wenn Frage 1 verneint wird:
Steht Art 29 des genannten Übereinkommens einem Anspruch auf Ersatz des durch die medizinische Erstversorgung verursachten Schadens entgegen, wenn dieser zwar innerhalb der Verjährungsfrist des nationalen Rechts, aber bereits außerhalb der Ausschlussfrist des Art 35 des Übereinkommens geltend gemacht wird?
II. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Text
Begründung:
[1] 1. Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde zu legen ist:
[2] Auf einem am von der Beklagten durchgeführten Flug von Tel Aviv nach Wien fiel eine Kanne von einem Servierwagen, der durch die Sitzreihen manövriert worden war. Dadurch wurde der Kläger mit heißem Kaffee verbrüht.
[3]
[4] Der begehrt mit seiner am eingebrachten Klage Zahlung von 10.196 EUR sA und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen Schäden aus dem Unfallereignis. Er habe schwere Verbrennungen erlitten. Die Beklagte hafte für das fahrlässige Verhalten ihres Personals und zwar nicht nur für die den Unfall auslösende Unachtsamkeit, sondern auch für die unzureichende Erstversorgung seiner Verletzungen. Insoweit sei österreichisches Schadenersatzrecht anzuwenden, danach seien die Ansprüche nicht verjährt.
[5] Die bestritt und brachte vor, dass die Verletzungen des Klägers ordnungsgemäß versorgt worden seien. Im Übrigen sei das Klagebegehren angesichts der anzuwendenden zweijährigen Ausschlussfrist abzuweisen.
[6] 3. Bisheriges Verfahren:
[7] Das wies das Klagebegehren ab. Es hielt das Warschauer Abkommen für maßgeblich, weil Israel das Montrealer Übereinkommen (in der Folge: „MÜ“) nicht ratifiziert habe. Da Schadenersatzansprüche nur innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Jahren erhoben werden könnten, sei das Klagebegehren abzuweisen.
[8] Das bestätigte diese Entscheidung im Ergebnis unter Hinweis darauf, dass Israel das MÜ am ratifiziert habe und dieses Übereinkommen daher anzuwenden sei. Der Begriff „Unfall“ nach Art 17 Abs 1 MÜ erfasse laut Europäischem Gerichtshof auch Vorfälle ohne luftfahrtspezifisches Risiko. Die Haftung nach dieser Bestimmung erstrecke sich grundsätzlich auf alle durch den Unfall hervorgerufenen Personenschäden, wenn das Unfallereignis eine conditio sine qua non für den Schaden sei. Nur – hier nicht vorliegende – völlig außergewöhnliche Geschehensabläufe seien nicht mehr erfasst. Die Verletzungen des Klägers seien – auch wenn die damit verbundenen körperlichen Beeinträchtigungen durch eine fachgerechte Erstversorgung möglicherweise vermindert oder vermieden worden wären – durch einen Unfall an Bord des Luftfahrzeugs entstanden. Sein Ersatzanspruch werde daher vom Anwendungsbereich des MÜ erfasst und sei infolge der zweijährigen Ausschlussfrist des Art 35 MÜ verfristet.
[9] Der Oberste Gerichtshof hat über die Revision de Kläger gegen dieses Urteil zu entscheiden. Der Kläger vertritt weiterhin die Auffassung, dass die Erstversorgung eine getrennt zu beurteilende Schadensursache sei und verweist dazu auf US-amerikanische Entscheidungen, in denen die Erstversorgung an Bord eines Flugzeugs nicht als Unfall iSd Art 17 MÜ qualifiziert worden sei. Insoweit sei daher österreichisches Recht anzuwenden und der Ersatzanspruch nicht verjährt.
Rechtliche Beurteilung
[10] 4. Rechtsgrundlagen:
[11] 4.1. Die Haftung der Beklagten ist nach dem Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen, MÜ) zu beurteilen. Die Anwendbarkeit dieses Übereinkommens ergibt sich daraus, dass der Abgangs- und der Bestimmungsort des Fluges in verschiedenen Vertragsstaaten lagen (Israel, Österreich), sodass eine internationale Beförderung iSv Art 1 MÜ vorliegt.
[12] 4.2. Das Montrealer Übereinkommen wurde am von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom in ihrem Namen genehmigt. Es ist (daher) integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung, weswegen der Europäische Gerichtshof berufen ist, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden (EuGH Rs C-6/14, Wucher Helicopter GmbH).
[13] 4.3. Dem steht nicht entgegen, dass der Abgangsort des Fluges nicht auf dem Gebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union lag. Gemäß Artikel 3 Abs 1 der Verordnung (EG) Nr 2027/97 des Rates vom idF der Verordnung (EG) Nr 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr gelten für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal. Beim vorliegend belangten Luftfahrtunternehmen handelt es sich um ein solches der Gemeinschaft, also um ein Luftfahrtunternehmen, das über die gültige Betriebsgenehmigung eines Mitgliedstaats verfügt (Art 2 Abs 1 lit b VO).
[14] 4.4. Strittig ist die Auslegung der folgenden Bestimmungen des Montrealer Übereinkommens:
Art 17 Abs 1 MÜ:
Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.
Art 29 MÜ:
Bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind; die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte ihnen zustehen, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadenersatz ausgeschlossen.
[15] 4.5. Eine der in Art 29 MÜ angesprochenen Beschränkungen ergibt sich aus Art 35 MÜ:
(1) Die Klage auf Schadenersatz kann nur binnen einer Ausschlussfrist von zwei Jahren erhoben werden. Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem das Luftfahrzeug am Bestimmungsort angekommen ist oder an dem es hätte ankommen sollen oder an dem die Beförderung abgebrochen worden ist.
(2) Die Berechnung der Frist bestimmt sich nach den Gesetzen des angerufenen Gerichts.
[16] 4.6. Nach österreichischeecht kann der Geschädigte seine Schadenersatzansprüche gegen den Schädiger grundsätzlich innerhalb von drei Jahren geltend machen (§ 1489 ABGB). Sollte daher auf den Ersatzanspruch für bestimmte, abgrenzbare Verletzungsfolgen nicht das MÜ, sondern österreichisches Recht anwendbar sein, wäre seine Klage insofern nicht verjährt.
[17] . Zur ersten Vorlagefrage:
[18] 5.1. Haftungsvoraussetzung nach Art 17 Abs 1 MÜ ist ein durch einen „Unfall“ hervorgerufener Personenschaden; das Unfallereignis muss conditio sine qua non für den Schaden sein (Reuschle, Montrealer Übereinkommen² [2011] Art 17 Rn 24 mwN). In der Entscheidung C-532/18, GN, hat der Europäische Gerichtshof den Begriff „Unfall“ iSd Art 17 Abs 1 MÜ dahin ausgelegt, dass er jeden an Bord eines Luftfahrzeugs vorfallenden Sachverhalt erfasst, in dem ein bei der Fluggastbetreuung eingesetzter Gegenstand eine körperliche Verletzung eines Reisenden verursacht hat, ohne dass ermittelt werden müsste, ob der Sachverhalt auf ein luftfahrtspezifisches Risiko zurückgeht.
[19] 5.2. Die das Geschehen einleitende Verbrühung des Klägers durch eine von einem Servierwagen fallende Kaffeekanne ist daher zweifelsfrei als Unfall iSd Art 17 Abs 1 MÜ zu qualifizieren.
[20] Fraglich ist aber, ob eine daran anschließende unzureichende medizinische Erstversorgung an Bord des Luftfahrzeugs ein von der vorangegangenen Verbrühung getrennt anzuknüpfendes Schadensereignis darstellt oder ob die beiden Vorgänge als einheitliches Geschehen unter den Unfallbegriff des Art 17 Abs 1 MÜ fallen. Im zweitgenannten Fall bestünde kein Zweifel, dass der Anspruch der Klägerin nach Art 35 MÜ präkludiert wäre. Ein Rückgriff auf nationales Recht wäre dann keinesfalls möglich.
[21] 5.3. Für die Einheit spricht nach Ansicht des anfragenden Gerichts – auch ohne Rückgriff auf die jeweiligen Regelungen der Kausalitätserfordernisse in den Mitgliedstaaten – der Art 17 Abs 1 MÜ bereits nach seinem Wortlaut zugrundeliegende Kausalitätsbegriff im Sinne der conditio sine qua non. Denkt man sich den einleitenden Unfall weg, wäre auch die Erstversorgung und damit der behauptete Aggravierungsschaden entfallen.
[22] 5.4. Zu dieser Frage konnten allerdings über allgemeine Kausalitäts- und Adäquanzerwägungen hinaus weder Aussagen des Europäischen Gerichtshofs noch Ausführungen in der (deutschen) Literatur gefunden werden (vgl Ruhwedel, Der Luftbeförderungsvertrag [1997] Rn 327 f; Reuschle, Montrealer Übereinkommen2 Art 29 Rn 24). Schmid (in Giemulla/Schmid, Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht Art 17 MÜ Rn 45) legt immerhin dar, dass der Kausalzusammenhang nicht durch die bloße Tatsache „unterbrochen“ wird, dass die Körperverletzung auf ein durch einen Unfall ausgelöstes Trauma zurückzuführen ist.
[23] 5.5. Zahlreiche US-amerikanische Ent-scheidungen (vgl ua Air France v Saks, Supreme Court, 470 U.S. 392 [1985]; Olympic Airways v Husain, Supreme Court, 540 U.S. 644 [2004]; Krys. v Lufthansa German Airlines – US Court of Appeals, 11th Circuit, 119 F. 3D 1515 [1997]; Aziz v Air India – US District Court C.D. California, 658 F. Supp. 2D 1144 [2009]; Singh v Caribbean Airlines Ltd – US District Court S.D. Florida, 49 F. Supp. 3D 1108 [2014]) hatten zwar medizinische Notfälle zum Gegenstand, bei denen sich der Bedarf einer Erstversorgung aber ohne weiteres Unfallereignis iSd Art 17 Abs 1 MÜ ergab (vgl auch die umfangreiche Judikatur zu medizinischen Notfällen und Versorgungen durch das Kabinenpersonal bei Schmid in Giemulla/Schmid, Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht Art 17 MÜ Rn 27 ff). Soweit ersichtlich betrifft keine dieser Entscheidungen eine durch ein vorangegangenes Unfallereignis iSd Art 17 Abs 1 MÜ notwendig gewordene medizinische Betreuung. Sie sind daher auf den vorliegenden Fall nicht unmittelbar übertragbar.
[24] 5.6. Allerdings hat der U.S. Supreme Court in der Entscheidung Olympic Airways v Husain, 540 U.S. 644 (2004), 9, auch ausgesprochen: „There are often multiple interrelated factual events that combine to cause any given injury. [...] any one of these factual events or happenings may be a link in the chain of causes and – so long as it is not unusual or unexpected – could constitute an 'accident' under Article 17“. Entsprechend könnte man auch hier argumentieren, dass ein „link in the chain“, nämlich das Fallen der Kaffekanne vom Servierwagen, ein Unfall war, der ausreicht, um zur Beurteilung der gesamten „chain of causes“ als Unfall iSd Art 17 Abs 1 MÜ zu führen.
[25] 5.7. Auch die Intention, die Systematik und der rechtsvereinheitlichende Charakter des MÜ sprechen nach Ansicht des anfragenden Gerichts gegen eine getrennte Anknüpfung des Unfalls und der anschließenden medizinischen Erstversorgung, ist doch Zweck der Regelung die Schaffung eines einheitlichen Haftungsregimes, das einen Rückgriff auf nationales Recht erübrigen soll (vgl Abs 5 der Präambel zum MÜ: „... zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung …“).
[26] 5.8. Allerdings ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass das Umfallen der Kanne und die nachfolgende medizinische Erstversorgung an Bord des Flugzeugs auch als selbständige Schadensursachen angesehen werden könnten, die eine unterschiedliche Anknüpfung – jedenfalls nicht im Sinne eines „acte clair“ – ausschließen lassen.
[27] Der Europäische Gerichtshof wird daher um Klärung dieser Frage ersucht.
[28] 6. Zur zweiten Vorlagefrage:
[29] 6.1. Sollte aufgrund der Beantwortung der ersten Vorlagefrage von auszugehen sein, stellt sich – wie bereits im Vorabentscheidungsersuchen des Gerichts zu 2 Ob 131/20h – weiters die Frage der Auslegung des Art 29 MÜ.
[30] Während Art 17 Abs 1 MÜ ausdrücklich auf eine durch einen Unfall verursachte körperliche Verletzung abstellt, sieht Art 29 MÜ dagegen allgemein und nicht nur eingeschränkt auf „Unfälle“ vor, dass „bei der Beförderung von Reisenden […] ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, […] nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden [kann], die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind“.
[31] 6.2. Zu Art 29 MÜ werden im deutschsprachigen Schrifttum zwei Auffassungen vertreten. Nach der „Verdrängungslösung“ schließt die Bestimmung Schadenersatzansprüche aufgrund anderer Rechtsgrundlagen von vornherein aus (Schmid in Giemulla/Schmid, Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht Art 29 MÜ Rn 2 f, insbesondere unter Verweis auf U.S. Supreme Court El Al v Tseng, 525 U.S. 155). Nach der „Rahmenlösung“ bestehen dagegen die Anspruchsgrundlagen des MÜ neben jenen des nationalen Rechts; letztere werden zwar den „Voraussetzungen und Beschränkungen“ des Übereinkommens unterworfen, sind aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen (Reuschle, Montrealer Übereinkommen2 Art 29 Rn 4 f).
[32] 6.3. Unabhängig davon ist aber zunächst die Frage zu klären, ob Art 29 MÜ auch Personenschäden erfasst, die ohne Unfall oder (wie hier bei Verneinung der Vorlagefrage 1) unabhängig von einem Unfall als eigenständiges Schadensereignis eingetreten sind. Trifft das zu, so führten im konkreten Fall sowohl die Verdrängungs- als auch die Rahmenlösung zur Verneinung der Haftung nach nationalem Recht, weil dann jedenfalls die Präklusionsfrist des Art 35 MÜ anzuwenden wäre.
[33] Ansprüche nach nationalem Recht könnten daher im vorliegenden Fall auch bei Verneinung von Vorlagefrage 1 nur dann bestehen, wenn das Übereinkommen dahin auszulegen ist, dass es Schäden, die unabhängig von einem Unfall als eigenständiges Schadensereignis eintreten, von vornherein nicht erfasst. Das ist offenkundig die Auffassung des Klägers.
[34] 6.4. Der U.S. Supreme Court hat in der bereits erwähnten Entscheidung El Al v Tseng, 525 U.S. 155, sinngemäß ausgesprochen, dass das Abkommen eine abschließende Regelung enthält und daher bei Köperbeeinträchtigungen bei einer Flugreise, die keine Unfälle sind, keinerlei Ersatz zu leisten ist. Dem sind zahlreiche andere US-amerikanische Gerichte gefolgt (Nachweise siehe bei Giemulla in Giemulla/Schmid, Montrealer Übereinkommen Art 29 MÜ Rn 2a). Gleiches müsste dann auch im vorliegenden Fall gelten, wenn man (bei Verneinung von Vorlagefrage 1) die Schäden der Klägerin aufgrund der angeblichen Fehlreaktion des Kabinenpersonals als eigenständiges Schadensereignis ansieht.
[35] 6.5. Nimmt man hingegen an, dass das Übereinkommen Personenschäden nicht erfasst, die ohne Unfall oder (wie hier bei Verneinung der Vorlagefrage 1) unabhängig von einem Unfall als eigenständiges Schadensereignis eingetreten sind, so wäre Art 29 MÜ immer in Zusammenhang mit Art 17 MÜ zu verstehen. Die mit Art 29 MÜ angeordneten „Beschränkungen“ der Haftung wären daher nur dann anwendbar, wenn Schäden aufgrund eines Unfalls geltend gemacht werden.
[36] Folgt man dieser Auffassung, so käme man bei Verneinung der Vorlagefrage 1 (also bei Annahme eines eigenständigen Schadensereignisses) zur uneingeschränkten Anwendung nationalen Rechts (hier für aus unzureichender medizinischer Erstversorgung resultierende Schäden). Dies entspricht etwa der Auffassung von Reuschle (Montrealer Übereinkommen2 Art 17 Rn 87), der bei Herleitung von Schadenersatzansprüchen aus dem Beförderungsvertrag in Zusammenhang mit ergänzenden nationalen Regelungen die Haftungsbegrenzung der Bestimmung nur auf solche Schäden anwenden will, die im MÜ geregelt sind und daher zB nicht Ansprüche aus „nicht unfallverursachter Gesundheits-beschädigung“.
[37] Diese Auffassung würde hier zur Anwendung österreichischen Rechts auf Schäden führen, die auf die angeblich mangelhafte Behandlung durch das Kabinenpersonal zurückzuführen sind. Ansprüche aufgrund solcher Schäden wären nach österreichischem Recht nicht verjährt, sodass insoweit weitere Beweiserhebungen und Feststellungen zur Klärung der Ersatzpflicht der Beklagten erforderlich wären.
[38] 6.6. Bei Verneinung von Vorlagefrage 1 fragt sich daher, ob Art 29 MÜ alle Ansprüche, die aus der körperlichen Verletzung einer beförderten Person zwischen dem Einsteigen in das und dem Aussteigen aus dem Luftfahrzeug resultieren, den dort normierten Beschränkungen des Übereinkommens unterstellt, im vorliegenden Fall insbesondere der Ausschlussfrist des Art 35 MÜ, oder ob das nur für solche körperliche Verletzungen gilt, die aus Unfällen iSd Art 17 Abs 1 MÜ resultieren.
[39] Der Europäische Gerichtshof wird daher gegebenenfalls auch um Klärung dieser Frage ersucht.
[40]
[41] Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Verfahren über die Revision der Klägerin auszusetzen.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00019.21I.0805.000 |
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HAAAD-55191