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OGH vom 10.05.1988, 4Ob552/88

OGH vom 10.05.1988, 4Ob552/88

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof.Dr.Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith, Dr. Kodek, Dr. Niederreiter und Dr. Redl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Miriam R***, geboren am , infolge Revisionsrekurses des ehelichen Vaters Ekkehard R***, Musiklehrer, Wien 18., Erndtgasse 13/7, vertreten durch Dr. Michael Stern, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgerichtes vom , GZ 47 R 150/88-147, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Döbling vom , GZ 3 P 199/87-130, als nichtig aufgehoben und das diesem Verfahren vorangegangene Verfahren ab für nichtig erklärt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben; dem Rekursgericht wird eine neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Mutter Maria R*** gegen den Beschluß des Bezirksgerichtes Döbling vom , 3 P 199/87-130, aufgetragen.

Text

Begründung:

Die am geborene Miriam R*** ist gleich ihrem Vater Ekkehard R*** österreichische Staatsbürgerin; ihre in der Bundesrepublik Deutschland wohnhafte Mutter Maria R*** ist schwedische Staatsbürgerin. Die Ehe der Eltern wurde am durch das Familiengericht Saarbrücken geschieden. Das Bezirksgericht St. Pölten übertrug mit Beschluß vom , 2 P 6/86-59, alle rein persönlichen elterlichen Rechte und Pflichten im Sinne des § 144 ABGB der Mutter. Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung mit Beschluß vom (ON 65); der Oberste Gerichtshof wies den dagegen vom Vater erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs zurück (4 Ob 573/87). Da der Vater die Minderjährige dennoch nicht der Mutter ausfolgte, sondern jeden persönlichen Kontakt zwischen den beiden unterband, verfügte das Bezirksgericht St. Pölten mit Beschluß vom , daß die Minderjährige in Vollziehung des Beschlusses ON 59 dem Vater unverzüglich abzunehmen und der Mutter auszufolgen sei (ON 92); das Landesgericht St. Pölten bestätigte diesen Beschluß (ON 139).

Vor dem Erstgericht, das mittlerweile die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache nach § 111 JN übernommen hatte (ON 97), vereinbarten die Parteien am , daß die Mutter berechtigt sei, die Minderjährige vom 17. bis zum bei sich zu haben, während dieser Zeit das Kind aber jeweils am Abend dem Vater zurückzubringen und sich am mit dem Kind bei einem vom Vater beauftragten Privatgutachter einzufinden habe. Für den genannten Zeitraum werde die Mutter dem Vater ihren Reisepaß aushändigen und ihn erst am Abend des zurückerhalten. Für die Dauer "des schwebenden Verfahrens wegen Wechsels des Pflegeplatzes" - der Vater strebt weiterhin die Übertragung der elterlichen Rechte und Pflichten an ihn an - werde Ekkehard R*** der Mutter der Minderjährigen jeweils das Besuchsrecht gegen kurzfristige Vorausankündigung und gegen Übergabe ihres Reisepasses gewähren. Am holte die Mutter in Ausübung dieses Besuchsrechtes die Minderjährige vom Vater ab und brachte sie anschließend zu sich in die Bundesrepublik Deutschland (ON 112 und 115), wo sich das Kind seither ständig aufhält (ON 127 und 133 a). Mit Beschluß vom , ON 130, räumte das Erstgericht dem Vater ein Besuchsrecht in der Form ein, daß er berechtigt sei, sein eheliches Kind jeden dritten Freitag sowie jeden ersten und dritten Samstag im Monat jeweils von 9 Uhr bis 18 Uhr bei sich zu haben. Die Gefahr einer Entführung des Kindes durch den Vater bestehe nicht. Er habe im Gegensatz zur Mutter die Vereinbarung vom eingehalten. Der Kontakt zwischen Vater und Tochter solle gefördert werden. Dieses Besuchsrecht sei vorläufig zu regeln, weil über den Antrag des Vaters auf Einleitung von vorläufigen Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls noch nicht entschieden sei und im Interesse des Kindes seine Entfremdung vom Vater vermieden werden solle.

Diesen Beschluß hob das Gericht zweiter Instanz aus Anlaß des dagegen von der Mutter erhobenen Rekurses als nichtig auf; gleichzeitig erklärte es das Verfahren ab dem für nichtig und wies alle noch offenen Anträge zurück. Der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit sei von Amts wegen wahrzunehmen gewesen: Durch die auf Dauer angelegte Unterbringung der Minderjährigen bei ihrer Mutter sei der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in der Bundesrepublik Deutschland begründet worden. Daran ändere auch der Umstand nichts, daß die Mutter es nicht auf die exekutive Erzwingung der Übergabe des Kindes habe ankommen lassen, sondern in Ausübung der ihr rechtskräftig zuerkannten elterlichen Rechte zur Selbsthilfe geschritten sei. Nach Art. 1 Abs 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens seien die Gerichte des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe - vorbehaltlich gewisser Ausnahmen - dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens der Minderjährigen zu treffen. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland seien Vertragsstaaten dieses Übereinkommens. Die österreichischen Gerichte seien demnach seit dem nicht mehr zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens der Minderjährigen, zu denen auch Regelungen des Besuchsrechtes gehörten, zu treffen.

Gegen diesen Beschluß richtet sich der Rekurs des Vaters mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Gericht zweiter Instanz zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen, allenfalls in der Sache selbst zu entscheiden.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist berechtigt.

Wie das Rekursgericht zutreffend erkannt hat, findet auf den vorliegenden Fall das Haager Minderjährigenschutzabkommen BGBl. 1975/446 (MSA) Anwendung, weil dieses in Österreich am in Kraft getretene Abkommen alle Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen (Art. 1, 2 und 4) umfaßt (EvBl 1978/128). Unter diese Schutzmaßnahmen fällt auch die Regelung des Rechts zum Besuch eines Minderjährigen (Schwimann, Grundriß des internationalen Privatrechts 248; SZ 55/153; 1 Ob 735/82 u.a.). Dieses Abkommen sieht aber nicht die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Staates vor, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; es verteilt vielmehr die "internationalen Zuständigkeiten" für Schutzmaßnahmen auf den Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes (Art. 1 und 2) und auf den Heimatstaat (Art. 4). Diese Zuständigkeiten der Behörden des Aufenthalts- und des Heimatstaates bestehen nebeneinander (EvBl 1978/128; 1 Ob 735/82; 4 Ob 535/87). Art. 1 MSA erklärt die Behörden des Aufenthaltsstaates - vorbehaltlich der Bestimmungen der Art. 3, 4 und 5 Abs 3 - für zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Nach Art. 4 Abs 1 MSA können die Behörden des Staates, dem der Minderjährige angehört, dann, wenn sie der Auffassung sind, daß das Wohl des Minderjährigen es erfordert, nach ihrem innerstaatlichen Recht Schutzmaßnahmen für den Minderjährigen treffen, nachdem sie die Behörden des Aufenthaltsstaates verständigt haben. Die Zuständigkeit der Behörden des Aufenthaltsstaates, die für den Minderjährigen erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen, greift insoweit nicht ein, als Schutzmaßnahmen der Heimatbehörden des Kindes (Art. 4, Art. 5 Abs 3 MSA) vorliegen; in solchen Fällen verbleibt den Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen nur eine Notzuständigkeit zur Abwehr einer ernsten Gefährdung von Person oder Vermögen des Minderjährigen (Art. 8 MSA) oder die "Eilzuständigkeit" des Art. 9 MSA (Schwimann aaO 250; SZ 55/153). Die Maßnahmen der Heimatbehörden verdrängen jene der Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 4 Abs 4, Art. 5 Abs 3 MSA) und schließen - von den erwähnten Ausnahmen abgesehen - auch die weitere Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthaltes aus; es besteht daher ein ganz eindeutiger Vorrang der Heimatbehörden (Schwimann, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen und seine Anwendung in Österreich, JBl 1976, 233 241; SZ 55/153; 8 Ob 653/87). Die - im MSA nicht ausdrücklich geregelte - Frage, welche Wirkungen die Verletzung der in Art. 4 Abs 1 MSA vorgesehenen Verständigungspflicht hat - ob nämlich die Verständigungspflicht etwa bedingende Voraussetzung für die Zuständigkeit der Behörden des Heimatstaates ist, ob ihre Verletzung nur einen Verfahrensmangel begründet (vgl. EvBl 1978/128) oder ob etwa die Wirkung der getroffenen Maßnahme bei zunächst unterbliebener Verständigung erst mit der nachgeholten Verständigung eintritt (Schwimann, JBl 1976, 242; SZ 55/153) -, bedarf hier keiner Untersuchung, weil das Erstgericht seiner Verständigungspflicht ohnehin nachgekommen ist, hat es doch in seinem Rechtshilfeersuchen vom (ON 116) und dessen Ergänzung vom (ON 124) das Amtsgericht Landstuhl (Bundesrepublik Deutschland), in dessen Sprengel sich die Minderjährige aufhält, nicht nur von dem Sachverhalt und den Anträgen des Vaters unterrichtet, sondern gleichzeitig unzweifelhaft zu erkennen gegeben, daß es die Absicht habe, selbst über diese Anträge zu entscheiden. Das Amtsgericht Landstuhl hat diese Mitteilung zur Kenntnis genommen und dem Rechtshilfeersuchen entsprochen (ON 133 a).

War aber das Erstgericht nach Art. 4 Abs 1 MSA zur Regelung des Besuchsrechtes zuständig, so ist die inländische Gerichtsbarkeit gegeben.

Aus diesem Grund war dem Rekurs des Vaters Folge zu geben und der angefochtene Beschluß aufzuheben. Das Rekursgericht wird über den Rekurs der Mutter neuerlich zu entscheiden und dabei zu beurteilen haben, ob das Wohl der Minderjährigen die vom Erstgericht getroffene Besuchsrechtsregelung erfordert.

Fundstelle(n):
VAAAD-54401