OGH vom 20.12.2017, 3Ob222/17v
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr.
Hoch als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Jensik und Mag. Painsi und die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek als weitere Richter in der Familienrechtssache des Antragstellers R*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar Dr. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Antragsgegner N*****, vertreten durch Dr. Heinz-Peter Wachter, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterhaltsherabsetzung, über den Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 45 R 267/17y-81, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom , GZ 3 Fam 9/15b-72, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die Kosten seiner Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.
Text
Begründung:
Der Antragsteller ist der Vater des 1995 geborenen Antragsgegners. Zuletzt wurde er mit Beschluss vom zur Leistung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 395 EUR an den Antragsgegner verpflichtet.
Der Antragsgegner schloss im Juni 2014 die Handelsschule ab. Danach meldete er sich beim AMS als arbeitssuchend. Vom 3. September bis zum absolvierte er die Ausbildung zum Rettungssanitäter beim Wiener Roten Kreuz und von 23. März bis die Ausbildung „ECDL Advanced“. Seit macht er eine Lehre und erhält eine Lehrlingsentschädigung von monatlich 437,64 EUR netto.
Aufgrund seiner Erkrankungen (insbesondere ADHS) ist es für den Antragsgegner schwierig, sich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Er kann lediglich Arbeiten ohne besonderen Zeitdruck und mit nur leichtem psychischen Anforderungsprofil nachgehen; ausgeschlossen sind Arbeiten unter mehr als fallweise besonderem Zeitdruck, Arbeiten, die mit häufigem Personen- bzw Kundenkontakt verbunden sind, sowie Schicht-, Akkord- und Nachtarbeit. Er verfügt über ein reduziertes Durchsetzungsvermögen. Im Hinblick darauf sind seine Chancen auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt sehr gering; aufgrund der Arbeitsmarktsituation ist realistisch nicht zu erwarten, dass es ihm ohne weitere institutionelle Unterstützung gelingen kann, den Neueinstieg in den Arbeitsmarkt zu schaffen.
Der Antragsteller beantragt nach mehrfacher Änderung seines Begehrens, seine Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Antragsgegner für das Jahr 2014 auf 360 EUR monatlich herabzusetzen und ihn ab von seiner Unterhaltsverpflichtung zur Gänze zu entheben. Der Antragsgegner verfüge mit einem Handelsschulabschluss über eine abgeschlossene Berufsausbildung und könne einer zumutbaren Erwerbstätigkeit nachgehen. Unter Berücksichtigung einer Suchfrist von sechs Monaten sei er seit als selbsterhaltungsfähig anzusehen.
Der Antragsgegner wendet ein, er sei nicht selbsterhaltungsfähig, weil er aufgrund seiner diversen Erkrankungen schwer vermittelbar sei. An seiner Arbeitslosigkeit treffe ihn kein Verschulden. Seit mache er eine Lehre, sodass er ab einer Unterhaltsherabsetzung auf 255 EUR monatlich zustimme.
Das Erstgericht reduzierte die Unterhaltsverpflichtung des Antragstellers für das Jahr 2014 auf 360 EUR monatlich, für das Jahr 2015 auf 345 EUR monatlich, für Jänner bis Oktober 2016 auf 360 EUR monatlich und beginnend mit auf 255 EUR monatlich. Das Mehrbegehren auf gänzliche Enthebung des Antragstellers von seiner Unterhaltsverpflichtung ab wies es ab. Der Antragsgegner habe nach Abschluss der Handelsschule einige Kurse gemacht und dem Gericht etliche Bewerbungsunterlagen vorgelegt. Im Hinblick auf seine verringerten Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, und seine nachgewiesenen Bemühungen komme die Anwendung der Anspannungstheorie im relevanten Zeitraum nicht zum Tragen. Ab November 2016 mindere sich der vom Antragsteller zu leistende Unterhaltsbeitrag um die vom Antragsgegner bezogene Lehrlingsentschädigung.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Antragstellers nicht Folge und änderte infolge Rekurses des Antragsgegners den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass es den Unterhaltsherabsetzungsantrag für den Zeitraum 1. bis zurück- und für den Zeitraum bis zur Gänze abwies. Dem eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten sei zwar zu entnehmen, dass der Antragsgegner in manchen Bereichen durchschnittlich abschneide und eine geringe Anstrengungs- und Leistungsmotivation aufweise. Diese Aussagen dürften jedoch nicht isoliert beurteilt werden, sondern stets im Zusammenhang mit den anderen Verfahrensergebnissen, insbesondere dem berufskundlichen Sachverständigen-gutachten, wonach die Chancen des Antragsgegners auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt sehr gering seien. Im Hinblick darauf habe das Erstgericht eine fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit des Antragsgegners zu Recht verneint, zumal diesem nicht vorgeworfen werden könne, zumutbare Einkommensbemühungen unterlassen zu haben. Die Anspannung dürfe nämlich zu keiner bloßen Fiktion führen; vielmehr sei entscheidend, welches reale Einkommen der Unterhaltsberechtigte im relevanten Zeitraum unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage erzielen hätte können. Bis einschließlich Oktober 2016 (bis zum Beginn der Lehre) sei keine wesentliche Änderung der Verhältnisse des Antragstellers (oder auch des Antragsgegners) eingetreten, weil sich nach der Prozentwertmethode ein zu leistender Unterhaltsbeitrag (zumindest) in bisheriger Höhe ergebe.
Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nachträglich zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob verzögerte Reife ohne psychiatrischen Krankheitswert, wie sie beim Antragsgegner vorliege, als Verschulden des Unterhaltsberechtigten zu werten und deshalb fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit des Kindes anzunehmen sei.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs des Antragstellers ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.
1. Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist (
RIS-Justiz RS0047567 [T4, T 14]).
Ein dem Pflichtschulalter entwachsener, aber objektiv nicht selbsterhaltungsfähiger Unterhaltsberechtigter kann seinen Unterhaltsanspruch wegen fiktiver Selbsterhaltungsfähigkeit nur dann verlieren, wenn er arbeits- und ausbildungsunwillig ist, ohne dass ihm krankheits- oder entwicklungsbedingt die Fähigkeit fehlte, für sich selbst aufzukommen.
Das nachhaltige Unterlassen von zumutbaren Bemühungen in Richtung einer Berufsausübung bzw Zukunftsvorsorge löst die Rechtsfolge einer bleibenden, nur hypothetischen Selbsterhaltungsfähigkeit aus und führt zur Rechtsmissbräuchlichkeit der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen gegen die Eltern (RIS-Justiz
RS0114658 [T1, T 2]).
Ein Kind verliert seinen Unterhaltsanspruch also nicht automatisch mit dem Abschluss der Berufsausbildung, sondern nur dann, wenn es die Aufnahme einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit aus Verschulden unterlässt (RIS-Justiz RS0047621 [T2]; RS0047567 [T13];
RS0047632 [T2]).
2. Von den Grundsätzen dieser Rechtsprechung sind die Vorinstanzen nicht abgewichen: Mit seiner Argumentation, der Antragsgegner hätte aufgrund seiner abgeschlossenen Berufsausbildung (Handelsschulabschluss; vgl RIS-Justiz RS0047530) innerhalb von sechs Monaten einen Arbeitsplatz finden können, wenn er sich nur entsprechend darum bemüht hätte, ignoriert der Antragsteller die vom Rekursgericht verdeutlichten, auf dem berufskundlichen Sachverständigengutachten basierenden Feststellungen: Demnach war die Erfolglosigkeit der Arbeitsplatzsuche des Antragsgegners keineswegs auf fehlende Eigeninitiative oder sonst schuldhaftes Verhalten zurückzuführen sondern auf seine psychischen Einschränkungen in Verbindung mit der Arbeitsmarktlage. Die Beurteilung, dass die von der psychiatrischen Sachverständigen diagnostizierte unreife Persönlichkeit des Antragsgegners (die sich in seiner geringen Motivation manifestiert, sich den Anforderungen des Arbeitslebens zu stellen) diesem nicht als Verschulden angelastet werden kann, ist nicht korrekturbedürftig. Es liegt nämlich auf der Hand, dass den Antragsgegner an seiner verzögerten Reife kein Verschulden trifft, auch wenn damit keine manifeste Persönlichkeitsstörung (im Sinn einer psychischen Erkrankung) verbunden ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 Abs 2 AußStrG. Der Antragsgegner hat auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses nicht hingewiesen (RIS-Justiz
RS0122774).
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0030OB00222.17V.1220.000 |
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