OGH vom 31.01.2012, 1Ob254/11a

OGH vom 31.01.2012, 1Ob254/11a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ. Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen N***** S*****, geboren am ***** 2001, und D***** S*****,geboren am ***** 2003, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter D***** T*****, vertreten durch Dr. Arnulf Summer und andere Rechtsanwälte in Bregenz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom , GZ 3 R 314/11s 9, womit über Rekurs des Vaters H***** S*****, Spanien, vertreten durch Dr. Liselotte Mucciolo Madler, Rechtsanwältin in Bregenz, der Beschluss des Bezirksgerichts Dornbirn vom , GZ 8 PS 237/11s 5, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Hängt die Entscheidung von der Lösung einer Frage des Gemeinschaftsrechts ab, so ist die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zur Nachprüfung von dessen Anwendung auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH nur zulässig, wenn in der zweiten Instanz bei Lösung dieser Frage eine gravierende Fehlbeurteilung unterlaufen ist (5 Ob 194/10f = iFamZ 2011/88 [ Fucik ] ua; RIS Justiz RS0117100). Ein solcher Fehler ist dem Rekursgericht bei der Beurteilung der (internationalen) Zuständigkeit für die von der Rechtsmittelwerberin begehrte einstweilige Maßnahme nach Art 20 der Verordnung (EG) Nr 2201/2003 des Rates vom (Brüssel IIa VO oder EuEheKindVO) nicht unterlaufen.

2. In dringenden Fällen ermöglicht Art 20 Abs 1 Brüssel IIa VO den Gerichten eines Mitgliedstaats, die nach dem nationalen Recht dieses Staats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen anzuordnen, auch wenn für die Entscheidung in der Hauptsache die internationale Zuständigkeit fehlt. Die vorläufige Einräumung der Obsorge nach § 107 Abs 2 AußStrG kommt grundsätzlich als einstweilige Maßnahme gemäß Art 20 Abs 1 Brüssel IIa VO in Betracht. Ob ein dringlicher Fall nach dieser Bestimmung vorliegt, also ein Eilbedürfnis gegeben ist, ist dabei verordnungsautonom zu bestimmen ( Simotta in Fasching/Konecny ² V/2 Art 20 EuEheKindVO Rz 33 mwN; Dörner in Saenger Hk ZPO 4 Art 20 EheGVVO Rz 2; Martiny , Kindesentführung, vorläufige Sorgerechtsregelung und einstweilige Maßnahmen nach der Brüssel IIa VO, FPR 2010, 493 [497] mwN). Die Dringlichkeit muss sich sowohl auf die Lage beziehen, in der sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit, den Antrag vor dem für die Hauptsache zuständigen Gericht stellen zu können (EuGH C 256/09, Bianca Purrucker/Guillermo Vallés Pérez = Rn 94; C 403/09, PPU, Jasna Detiček/Maurizio Sgueglia Rn 42). Von dieser Möglichkeit ist restriktiv Gebrauch zu machen, sodass die nach Art 20 geforderte Dringlichkeit regelmäßig erst dann anzunehmen sein wird, wenn die Versagung einer nach dieser Gesetzesstelle beantragten Maßnahme der Verweigerung effektiven Rechtsschutzes gleichkäme ( Völker in Prütting/Gehrlein , (d) ZPO³ Art 20 Brüssel IIa VO Rz 1, ähnlich K. Brüder , iFamZ 2010, 171 [173]).

3. Die Verordnung verfolgt das Ziel, dass von einem rechtswidrigen Verbringen oder Zurückhalten von Kindern zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen wird (vgl EuGH C 195/08 PPU Inga Rinau , Slg I 05271 Rn 52). Nach Art 60 Brüssel IIa VO hat die Verordnung zwar Vorrang vor dem Haager Übereinkommen vom über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ, BGBl Nr 1988/512). Die Brüssel IIa VO begründet aber keine eigene Rechtsgrundlage für die Rückführung widerrechtlich verbrachter oder zurückgehaltener Kinder ( Kodek/Klauser , JN/ZPO 16 Art 11 EuEheVO Anm 2), sondern ergänzt beziehungsweise modifiziert das HKÜ bei Entführungsfällen innerhalb der Europäischen Union ( Kaller Pröll in Fasching/Konecny ² V/2 Art 10 EuEheKindVO Rz 3; 6 Ob 181/09z = iFamZ 2010/36 [ Fucik ] mwN).

4. Nach Art 10 Brüssel IIa VO bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, für alle nach der Entführung neu eingeleiteten Verfahren im Zusammenhang mit der elterlichen Verantwortung (Obsorge , Besuchsrechtsstreitigkeiten) zuständig, bis einer der in Art 10 lit a) oder b) sublit i) bis iv) genannten Fälle eintritt. Liegt ein Fall von Kindesentführung vor, besteht für die Gerichte im Verbringungsmitgliedstaat die (internationale) Zuständigkeit lediglich für das Rückführungsverfahren nach Art 11 Brüssel IIa VO (einschließlich von im Zuge dessen schlagend gewordener Besuchsrechtsregelungen) und für einstweilige Maßnahmen und Schutzmaßnahmen gemäß Art 20 Brüssel IIa VO, soweit sie aufgrund der bloßen Anwesenheit des Kindes notwendig werden; nicht jedoch zur Umgehung einer Rückführung durch Zuerkennung der einstweiligen Obsorge an den entführenden Elternteil ( Kaller Pröll aaO Rz 9, 11 und 12; vgl auch Rauscher in Rauscher , Europäisches Zivilprozess und Kollisionsrecht, Art 20 Brüssel IIa VO Rz 16). Die Anerkennung einer dringlichen Lage im Sinne des Art 20 Brüssel IIa VO liefe in einem solchen Fall dem mit der Verordnung verfolgten Ziel zuwider, darauf hinzuwirken, dass von einem rechtswidrigen Verbringen oder Zurückhalten von Kindern zwischen Mitgliedstaaten Abstand genommen wird. Art 20 Brüssel IIa VO kann nicht dahin ausgelegt werden, dass er dem Elternteil, der das Kind rechtswidrig verbracht hat oder der es rechtswidrig zurückhält, als Mittel dafür diente, die durch sein rechtswidriges Handeln geschaffene tatsächliche Situation länger andauern zu lassen oder die Folgen dieses Handelns zu legitimieren (EuGH C 403/09 Rn 47 und 57).

5. Die Revisionsrekurswerberin hat die Minderjährigen entgegen der Vereinbarung mit dem (mit )obsorgeberechtigten Vater nach Ausübung des erweiterten Ferienbesuchsrechts nicht nach Spanien, wo sie gemäß der im Zuge der Scheidung getroffenen Aufenthaltsregelung mit dem Vater seit dem Jahr 2006 leben, zurückgebracht. Ein rechtswidriges Zurückbehalten der Minderjährigen im Sinne der Art 3 HKÜ und Art 10 Brüssel IIa VO liegt entgegen ihrer Rechtsauffassung auch vor, wenn sie, wie sie geltend macht, den hier zu beurteilenden Antrag wenige Tage vor Ablauf der vereinbarten Besuchszeit beim Erstgericht einbrachte. Es liegt damit keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung vor, wenn das Rekursgericht ausgehend von dieser Sachlage die nach Art 20 Abs 1 Brüssel IIa VO für eine einstweilige Maßnahme geforderte Dringlichkeit und damit die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts verneinte. Ob die zwischenzeitig angeordnete Rückführung der Minderjährigen nach Spanien eine Gefährdung des Kindeswohls begründen würde, ist hier nicht zu prüfen.

Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).