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OGH vom 19.12.2013, 3Ob217/13b

OGH vom 19.12.2013, 3Ob217/13b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr.

Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Univ. Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch als weitere Richter in der Pflegschaftssache des am ***** geborenen J*****, Vater: H*****, Deutschland, vertreten durch Mag. Renate Kahlbacher, Rechtsanwältin in Kapfenberg, infolge des außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter N*****, vertreten durch Dr. Helmut Fetz, Dr. Birgit Fetz, Mag. Gerhard Wlattnig, Rechtsanwälte in Leoben, gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Rekursgericht vom , GZ 2 R 220/13x 50, womit über Rekurs der Mutter der Beschluss des Bezirksgerichts Bruck an der Mur vom , GZ 5 PS 94/12z 43, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter wird zurückgewiesen.

Der Antrag des Vaters auf Zuspruch von Kosten für seine Revisionsrekursbeantwortung wird abgewiesen.

Text

Begründung:

Der am ***** März 2012 geborene Sohn lebt bei seiner Mutter (eine österreichische Staatsangehörige) in Kapfenberg in der Steiermark. Die am geborene Mutter und der am geborene, in W***** am Rhein in Deutschland wohnhafte Vater (ein deutscher Staatsangehöriger) waren nicht miteinander verheiratet; sie lösten ihre ab Jänner 2013 bestehende, konfliktbeladene Lebensgemeinschaft endgültig im Juni 2013 auf. Der Vater zog wieder zu seiner Mutter nach Deutschland. Die Distanz zwischen den Wohnorten der Eltern beträgt ca acht Fahrstunden mit dem Auto (rund 800 km). Die beiden hielten nach ihrer Trennung zwar über Skype miteinander Kontakt; dieser verlief jedoch nicht reibungslos.

Bereits am vereinbarten die Eltern vor dem Bezirksgericht Bruck an der Mur die gemeinsame Obsorge (Obsorge beider Eltern); diese Vereinbarung wurde mit Beschluss vom pflegschaftsgerichtlich genehmigt.

Mit Beschluss vom (ON 43) wies das Erstgericht den Antrag des Vaters vom (ON 5), die bestehende gemeinsame Obsorge der Eltern aufzuheben und ihn allein mit der Obsorge zu betrauen, ab. Weiters legte es fest, dass die gemeinsame Obsorge der Eltern aufrecht bleibt und das Kind hauptsächlich im Haushalt des Vaters betreut werden soll.

Gemäß § 180 ABGB komme es nicht auf eine Gefährdung des Kindeswohls an; maßgeblich sei ausschließlich die bessere Betreuungssituation für das Kind. Ausschlaggebend für den Wechsel des hauptsächlichen Aufenthalts des Kindes sei die Borderline-Erkrankung der Mutter (die aus diesem Grund eine unbefristete Invaliditätspension bezieht), die beinahe nicht therapierbar sei und fatale Folgen auf die Entwicklung des Kindes haben könne. Zwar sei auch die Situation beim Vater nicht unproblematisch; er habe jedoch letztlich einen stabilen Eindruck hinterlassen. Die Obsorge beider Eltern sei im Hinblick auf die Kooperationsbereitschaft sowohl der Mutter als auch des Vaters aufrechtzuerhalten.

Das Rekursgericht gab mit seinem Beschluss vom (ON 50) dem gegen die Anordnung des Domizilwechsels gerichteten Rekurs der Mutter nicht Folge. Es verneinte eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen (insbesondere auch zur Borderline Erkrankung der Mutter) und schloss sich der Rechtsansicht des Erstgerichts an (§ 60 Abs 2 AußStrG). Eine Phase der vorläufigen elterlichen Verantwortung entspreche nicht dem Kindeswohl: Laut dem Sachverständigengutachten sei eine endgültige Obsorgeentscheidung bis spätestens März 2014 erforderlich, da Kinder gerade in den ersten beiden Lebensjahren besonders rasch in der Lage seien, neue Bindungen aufzubauen, und die Betreuungssituation bei der Mutter risikobehaftet sei. Eine Zusammenarbeit der Eltern im Rahmen der Obsorge beider Eltern sei trotz der Distanz wie bisher über Skype möglich. Sowohl Mutter als auch Vater seien grundsätzlich kooperativ.

Die Rekursentscheidung wurde den Vertretern der Mutter mit Wirksamkeit vom zugestellt.

Am legte die Mutter ein Privatgutachten eines Sachverständigen für Kinder- und Jugendheilkunde vor (ON 52); dieser kommt zum Schluss, dass der Mutter fälschlicherweise eine Borderline-Persönlichkeitsstörung attestiert worden sei, die in Wahrheit gar nicht vorliege. Vielmehr stehe eine unbehandelte Epilepsie im Vordergrund, mit der eine „epileptische Wesensänderung“ einhergehe; eine Einschränkung der Bindungsfähigkeit und der Erziehungsfähigeit gegenüber ihrem Sohn sei dadurch aber nicht gegeben.

Das Vorbringen der Mutter in ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Mutter im erstinstanzlichen Verfahren nicht auf eine mögliche Borderline-Persönlichkeitsstörung untersucht worden sei; diese Erkrankung sei zu Unrecht diagnostiziert worden. Der vom Rekursgericht bestätigte Beschluss des Erstgerichts gehe davon aus, dass durch die Borderline-Erkrankung eine massive Einschränkung der elterlichen Betreuungskompetenz bestehe, was als entscheidendes negatives Kriterium zu Lasten der Mutter herangezogen worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Damit wird keine erhebliche Rechtsfrage dargestellt.

1. Auf den Fall ist gemäß Art 3 lit b in Verbindung mit Art 15 KSÜ im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Österreich österreichisches Sachrecht anzuwenden (5 Ob 104/12y), und zwar in der Fassung des KindNamRÄG 2013 (RIS Justiz RS0128634). Seit dieser Novelle soll die Obsorge beider Eltern eher die Regel sein (RIS Justiz RS0128811). Kommt wie hier eine Belassung der Obsorge beider Eltern in Betracht, ist die Frage zu beurteilen, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll, entscheidungsrelevant. Ebenso wie die Obsorgeentscheidung hat sich auch die Bestimmung dieses Elternteils am Kindeswohl nach den beispielhaft in § 138 ABGB aufgestellten Kriterien zu orientieren (RIS Justiz RS0128811), während die Interessen der Eltern im Vergleich dazu in den Hintergrund zu treten haben (vgl RIS Justiz RS0048632 [T15]).

Für die Beurteilung des Kindeswohls ist nicht nur die aktuelle Situation ausschlaggebend, sondern es sind auch Zukunftsprognosen zu stellen (RIS Justiz RS0048632).

2. Ebenso wie eine Entscheidung über die Zuweisung der Obsorge ist die Auswahl desjenigen Elternteils, dem die hauptsächliche Betreuung zukommen soll, immer eine solche des Einzelfalls, der in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung zuerkannt werden kann (vgl RIS Justiz RS0115719).

Die Vorinstanzen haben sich ausführlich mit der gegebenen und der in Zukunft zu erwartenden Situation auseinandergesetzt und eine Abwägung getroffen, nach der die Obsorge beider Eltern aufrecht bleiben und der hauptsächliche Aufenthalt anders als bisher beim Vater sein soll. Eine korrekturbedürfte Fehlbeurteilung liegt insoweit nicht vor.

3. Soweit dies aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist, sind bei Obsorgeentscheidungen auch die aktuellen Entwicklungen bis zur letztinstanzlichen Entscheidung zu berücksichtigen (RIS Justiz RS0048056, RS0119918 [T2]). Dabei ist auch das Neuerungsverbot gemäß § 66 Abs 2 AußStrG insofern durchbrochen, als aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, zu berücksichtigen sind (RS0048056 [T6]).

3.1. Bis zur Entscheidung des Erstgerichts gingen alle in dem Verfahren handelnden Personen (so auch ganz ausdrücklich die Mutter bei ihrer Vernehmung am , S 15 zu ON 21) davon aus, dass die Mutter an einer Borderline-Erkrankung leide, die sich auch in der Begründung des Bescheides der Pensionsversicherungsanstalt über die Gewährung der Invaliditätspension an die Mutter niederschlug. Erstmals im Rekurs brachte die Mutter vor, dass eine Borderline-Erkrankung gar nicht festgestellt werden könne; dieses Vorbringen wurde vom Rekursgericht als unzulässige Neuerung zurückgewiesen.

3.2. Das von der Mutter am vorgelegte Privatgutachten kommt zum Schluss, dass der Mutter fälschlicherweise eine Borderline-Persönlichkeitsstörung attestiert worden sei, die in Wahrheit gar nicht vorliege; vielmehr liege ein anderes Krankheitsbild (eine „epileptische Wesensänderung“) vor.

3.3. § 49 Abs 1 und 2 AußStrG erlaubt die Berücksichtigung von neuen Tatsachen und Beweismitteln nur dann, wenn sie nicht schon vor Fassung des Beschlusses erster Instanz hätten vorgebracht werden können, etwa weil sie der Partei unbekannt waren oder die Unterlassung ihres Vorbringens auf einer entschuldbaren Fehlleistung beruht. Dabei hat der Rechtsmittelwerber die Zulässigkeit der Neuerungen zu behaupten und schlüssig darzulegen, dass es sich bei der Verspätung (Unterlassung) des Vorbringens um eine entschuldbare Fehlleistung handelt ( Klicka in Rechberger , Außerstreitgesetz² § 49 Rz 1). „Schlichtes Vergessen“ und eine fehlende Anleitung durch das Erstgericht sind beispielsweise keine entschuldbaren Fehlleistungen (RS0006810 [T17]).

Gründe dafür, dass es der Mutter nicht schon vor der Entscheidung der ersten, allenfalls der zweiten Instanz möglich war, ihren nunmehrigen Standpunkt darzulegen, hat sie nicht genannt, weshalb die Neuerung nicht zu berücksichtigen ist.

3.4. Entscheidend ist, dass zwar in der Begründung der Beschlüsse der Vorinstanzen die Borderline-Erkrankung der Mutter ein entscheidender Faktor für die Bestimmung des Vaters als hauptsächlich betreuenden Elternteils bildete, dass aber bei der Mutter unabhängig von der Benennung des Krankheitsbildes eine Reihe von zukunftsbezogenen Risikofaktoren vorliegen, die auch im vorgelegten Privatgutachten angesprochen werden. Die Bindungs- und Erziehungsfähigkeit der Mutter wurde von den Vorinstanzen auch gar nicht verneint, die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes beim Vater aber unter dem Gesichtspunkt der Risikominimierung als dem Kindeswohl besser entsprechend beurteilt.

4. Mangels erheblicher Rechtsfrage (§ 62 Abs 1 AußStrG) ist der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen.

5. Ein Anspruch auf Kostenersatz besteht in außerstreitigen Angelegenheiten wie der vorliegenden nicht (§ 107 Abs 3 AußStrG).

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2013:0030OB00217.13B.1219.000