OGH vom 20.12.2010, 5Ob202/10g
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Tobias E*****, geboren am , über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Adelheid E*****, vertreten durch Mag. Wolfgang Lichtenwagner, Mag. Helmuth Laimer, Rechtsanwälte in Rohrbach, gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 15 R 330/10w S 51, womit infolge Rekurses der Mutter der Beschluss des Bezirksgerichts Rohrbach vom , GZ 2 P 334/08h 44, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs der Mutter wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung über die beantragte Obsorgezuteilung aufgetragen.
Text
Begründung:
Die Ehe der Eltern des mj Tobias E***** wurde am einvernehmlich geschieden. Im Scheidungsvergleich vereinbarten die Eltern die gemeinsame Obsorge für Tobias und legten den Hauptaufenthaltsort des Minderjährigen bei der Mutter fest. Seither lebt der Minderjährige bei ihr. Wegen der Besuchsrechtsausübung des Vaters kam es immer wieder zu Differenzen, schließlich wurde vor dem Erstgericht im Juli 2006 eine Besuchsrechtsvereinbarung getroffen. Zwischen den Eltern bestehen immer noch Differenzen, die auch zu Konflikten führen, was teilweise über die Besuchsrechtsausübung ausgetragen wird.
Schließlich stellte der Vater den Antrag, durch Gerichtsbeschluss den Aufenthaltsort des Minderjährigen zu ihm zu verlegen und nach Erörterung in der mündlichen Verhandlung vom den Antrag, ihm die alleinige Obsorge für den Teilbereich der Pflege und Erziehung zuzuweisen (ON S 34).
Die Mutter sprach sich dagegen aus und beantragte ihrerseits, ihr im Teilbereich der Pflege und Erziehung die Obsorge allein zu übertragen.
Das Erstgericht übertrug daraufhin den Obsorgeteilbereich Pflege und Erziehung für den Minderjährigen künftig allein auf den Vater und wies den entsprechenden Antrag der Mutter ab. In rechtlicher Hinsicht begründete das Erstgericht die Obsorgeübertragung auf den Vater unter Hinweis auf § 176 ABGB.
Dem dagegen erhobenen Rekurs der Mutter gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge. Es folgte dabei im Wesentlichen der Rechtsansicht des Erstgerichts. Das Kindeswohl werde - vor allem unter Berücksichtigung des Wunsches des Minderjährigen - durch einen Wechsel zum Vater besser gewährleistet, weshalb im vorliegenden Fall der Grundsatz der Erziehungskontinuität zurückzustehen habe.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil lediglich Umstände des Einzelfalls entscheidungswesentlich seien.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Abweisung des Antrags des Vaters und Zuteilung der Obsorge an sie selbst.
Der Vater hat von der ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Revisionsrekursbeantwortung erstattet und darin beantragt, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig, weil den Vorinstanzen bei Anwendung des § 177a Abs 2 ABGB hinsichtlich des Ausmaßes der Obsorgezuteilung ein korrekturbedürftiger rechtlicher Fehler unterlaufen ist.
Der Revisionsrekurs ist im Sinn des in jedem Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Die Legaldefinition der Obsorge findet sich in § 144 ABGB, wonach die Eltern das minderjährige Kind zu pflegen und zu erziehen, sein Vermögen zu verwalten und es in diesen sowie allen anderen Angelegenheiten zu vertreten haben. Dabei umfasst die Pflege und Erziehung sowie die Vermögensverwaltung jeweils auch die gesetzliche Vertretung in diesen Bereichen. Wenn das Gesetz in anderen Bestimmungen von „Obsorge“ spricht, sind immer alle in § 144 ABGB genannten Teilbereiche gemeint.
§ 177 ABGB lässt im Fall der Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe der Eltern eines minderjährigen ehelichen Kindes die Obsorge beider Eltern aufrecht. Die Eltern können jedoch dem Gericht auch in Abänderung einer bestehenden Regelung eine Vereinbarung über die Betrauung mit der Obsorge vorlegen, wobei die Betrauung eines Elternteils allein oder beider Eltern vereinbart werden kann. Im Fall der Obsorge beider Eltern kann diejenige eines Elternteils auf bestimmte Angelegenheiten beschränkt sein.
Für den Fall, dass ein Elternteil die Aufhebung einer solchen Obsorge beantragt, also das Einvernehmen später wegfällt, hat das Gericht, wenn es nicht gelingt, eine gütliche Einigung herbeizuführen, nach Maßgabe des Kindeswohls einen Elternteil allein mit der Obsorge zu betrauen (§ 177a Abs 2 ABGB). Ein solcher Antrag bedarf keiner Begründung (2 Ob 266/05i mit Darstellung der Lehre). Es genügt der durch die Antragstellung zum Ausdruck gebrachte Wegfall des Willens eines Elternteils auf Aufrechterhaltung der gemeinsamen Obsorge. Diesfalls ist gegen den Willen eines Elternteils eine Aufrechterhaltung der Obsorge beider Eltern auch nur in einem Teilbereich ausgeschlossen (vgl RIS Justiz RS0120492; zur Problematik: ua S. Beck , Kinder brauchen beide Eltern Neue Wege im Kindschaftsrecht, EF Z 2010, 220 f [222]).
Entgegen dieser geltenden Rechtslage haben die Vorinstanzen dem Vater die Obsorge nur in einem Teilbereich, nämlich der Pflege und Erziehung, übertragen. Nach der klaren Anordnung des § 177a Abs 2 ABGB ist allerdings nach Maßgabe des Kindeswohls in einem Fall wie dem vorliegenden ein Elternteil allein mit der Obsorge zu betrauen.
Weil sich die Entscheidungen der Vorinstanzen aber ausschließlich mit dem Aspekt der Angelegenheiten der Pflege und Erziehung (§§ 146 ff ABGB) und einer Einschränkung der Obsorge nach den Maßstäben des § 176 ABGB befassten, ist die Sache insofern nicht entscheidungsreif. Entgegen der Ansicht des Revisionsrekurses ist für eine Entscheidung aber keinesfalls Voraussetzung, dass eine aktuelle Gefährdung des Kindeswohls oder sonst ein besonders wichtiger Grund vorläge, wie ihn § 176 ABGB regelt. Es reicht vielmehr aus, dass das Einvernehmen der Eltern über die gemeinsame Obsorge weggefallen ist, wobei die vom Gesetz dann aufgetragene Entscheidung auch nicht durch den Umfang des Begehrens, hier auf Zuweisung nur eines Obsorgeteilbereichs, begrenzt ist. Maßgebliches Kriterium ist allein das Kindeswohl (vgl Hopf in KBB³ Rz 8 zu §§ 177 177a ABGB mit Darstellung der Rsp).
Im Ergebnis hat dies daher zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen zu führen, ohne dass derzeit auf die Frage der Richtigkeit bzw Vertretbarkeit der Entscheidung im Einzelfall eingegangen werden kann.