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OGH vom 17.12.2008, 3Ob198/08a

OGH vom 17.12.2008, 3Ob198/08a

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Prückner, Hon.-Prof. Dr. Sailer und Dr. Jensik sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Rechtssache der Antragsteller mj Jonas ***** R*****, und mj Christina ***** R*****, beide vertreten durch ihre Mutter Mag. pharm. Angelika ***** R*****, vertreten durch B § K § S Advokatur GmbH in Graz, wider den Antragsgegner Wolfgang ***** R*****, vertreten durch Mag. Michael-Thomas Reichenvater, Rechtsanwalt in Graz, wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach § 382b EO, infolge Revisionsrekurses des Antragsgegners gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom , GZ 2 R 170/08x-13, womit die einstweilige Verfügung des Bezirksgerichts Graz-Ost vom , GZ 247 C 113/08b-4, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die am geschlossene Ehe der Adoptiveltern des am geborenen Erstantragstellers und der am geborenen Zweitantragstellerin ist offenbar zerrüttet.

Der Erstantragsteller zeigte bereits längere Zeit Verhaltensauffälligkeiten in Form von Leistungs- und Konzentrationsschwierigkeiten und einem verstärkt sexualisierten Verhalten. Die Beziehung der Kindeseltern war zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Erziehungsstile konfliktgeladen, die Mutter entschloss sich schließlich zur Scheidung.

Aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten des Erstantragstellers wurde eine Beratungslehrerin hinzugezogen und der Erstantragsteller darüber hinaus psychologisch betreut. Äußerungen des Erstantragstellers gegenüber der Beratungslehrerin lassen „den Schluss des Verdachts auf sexuellen Missbrauch zu".

Die Zweitantragstellerin wies in der Vergangenheit Verletzungen an den Genitalien auf. Die Kinderärztin wies darauf hin, dass der Verdacht sexuellen Missbrauchs vorliege. Das Wesen des Mädchens veränderte sich dahin, dass sie ihre Fröhlichkeit verlor und Angstgeschichten erzählte.

Als Verdächtiger kommt der Antragsgegner in Frage.

Aufgrund dieser Vorkommnisse zog die Mutter mit den beiden Kindern zu ihren Eltern.

Der Antragsgegner bestritt gegenüber dem Jugendamt die Vorwürfe, zog jedoch über Intervention der Sozialarbeiterin am aus dem gemeinsamen Haus aus, um den Kindern die Rückkehr in die gewohnte Umgebung zu ermöglichen. Am kehrte er allerdings mit der Begründung zurück, es seien fünf Wochen verstrichen, um von den Kindern „etwas herauszubringen". Er sei sich keiner Schuld bewusst.

Die Mutter zog daraufhin mit den Antragstellern neuerlich zu ihren Eltern, weil sie nicht in der Lage ist, die Antragsteller und sich anders adäquat unterzubringen. Für die Psyche der Kinder wäre es wichtig, in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren.

Bei zwei Aufeinandertreffen des Erstantragstellers und seinem Vater, dem Antragsgegner, reagierte der Erstantragsteller mit einem „Schreianfall".

Die durch ihre Mutter vertretenen Antragsteller beantragten, dem Antragsgegner das Verlassen der Ehewohnung zu gebieten sowie die Rückkehr in die Ehewohnung samt Abstellplatz und Garten sowie in deren unmittelbare Umgebung zu verbieten und ihm aufzutragen, das Zusammentreffen mit den Antragstellern zu vermeiden und sich sowohl von der Volksschule des Erstantragstellers als auch dem Kindergarten der Zweitantragstellerin fernzuhalten; dies für den Zeitraum von drei Monaten. Die Sozialarbeiterin des Jugendamts und die Beratungslehrerin des Erstantragstellers hätten den Verdacht sexuellen Missbrauchs geäußert. Der Erstantragsteller habe geschildert, er höre in der Nacht die Stiege knarren, er wisse nicht, ob es sich um einen Räuber handle oder ob er träume. Er müsse immer die Beine anziehen, spüre dann jeweils „Schneckenschleim", dann höre er den Wasserhahn. Aufgrund dieser Schilderung sei der Adoptivmutter wieder eingefallen, dass die Zweitantragstellerin am nicht mehr ihre Notdurft habe verrichten können, worauf die Kinderärztin eine linsengroße Entzündung und einen beiderseitigen Einriss in den kleinen Schamlippen festgestellt habe. Die Ärztin habe den Verdacht sexuellen Missbrauchs geäußert. Dieser Verdacht sei nicht ausgeräumt, ein weiteres Zusammenleben mit dem Antragsgegner daher unzumutbar.

Das Erstgericht erließ ausgehend von dem vorangestellten, als bescheinigt angenommenen Sachverhalt die beantragte einstweilige Verfügung. Durch die Vorfälle sei die psychische Befindlichkeit der Antragsteller erheblich beeinträchtigt worden.

Das Rekursgericht bestätigte über Rekurs des Antragsgegners die vom Erstgericht erlassene einstweilige Verfügung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob der bloße Verdacht auf sexuellen Missbrauch eine einstweilige Verfügung nach § 382b EO rechtfertige. Bei dieser einstweiligen Verfügung gehe es weniger um die Sicherung eines gefährdeten Anspruchs als vielmehr um die rasche gerichtliche Hilfe in „familiären Auseinandersetzungen", die Gewalttätigkeiten und andere schwerwiegende Beeinträchtigungen eines Familienmitglieds durch ein anderes nach sich ziehen oder nach sich zu ziehen drohten. Es sollten primär Gefahren fern gehalten werden, bevor tatsächlich „etwas passiere" oder noch schwerwiegendere Folgen eintreten. Zwar erfordere die Gesetzesbestimmung einen körperlichen Angriff, eine Drohung mit einem solchen oder ein die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigendes Verhalten, dass das weitere Zusammenleben unzumutbar mache, jedoch erreiche ein durch Außenstehende, diesbezüglich geschulte Personen geäußerter Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Minderjährigen eine derartige Intensität der Gefährdung der psychischen Gesundheit der Kinder, dass auch ohne beweisbares aktives Verhalten des Antragsgegners zum Schutz der Kinder die einstweiligen Verbote nach § 382b EO zu erlassen wären.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Antragsgegners, mit dem er die Aufhebung der einstweiligen Verfügung anstrebt, ist zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrags auch berechtigt.

1. Der Beschluss auf Bewilligung der einstweiligen Verfügung ergeht grundsätzlich ohne Gewährung rechtlichen Gehörs an den Gegner der gefährdeten Partei, dem dann der Widerspruch gemäß § 397 EO zusteht (stRsp, RIS-Justiz RS0005557). Diesen Grundsatz betont der Gesetzgeber im § 382c Abs 1 EO nochmals ausdrücklich, wenn er das Absehen von der Anhörung des Antragsgegners vor Erlassung der einstweiligen Verfügung nach § 382b Abs 1 EO anordnet, wenn eine weitere Gefährdung durch den Antragsgegner unmittelbar droht.

2. Bei der Entscheidung über einen Revisionsrekurs ist der Oberste Gerichtshof auch im Provisorialverfahren nur Rechtsinstanz und nicht Tatsacheninstanz; er hat von dem Sachverhalt auszugehen, den das Rekursgericht als bescheinigt angesehen hat. Tatsachen, die das Rekursgericht als nicht bescheinigt annimmt, können in die rechtliche Betrachtung nicht einbezogen werden (stRsp, RIS-Justiz RS0002192). Der Oberste Gerichtshof kann im Rahmen eines Revisionsrekurses die Sachverhaltsgrundlage auch aufgrund der vorliegenden Bescheinigungsmittel nicht selbständig erweitern (4 Ob 101/99b). Die Kritik des Antragsgegners an den von den Vorinstanzen getroffenen Sachverhaltsfeststellungen (als bescheinigt angenommener Sachverhalt) ist daher unstatthaft.

3. Nach § 382b Abs 1 EO hat das Gericht einer Person, die einem nahen Angehörigen durch einen körperlichen Angriff, eine Drohung mit einem solchen oder ein die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigendes Verhalten das weitere Zusammenleben unzumutbar macht, auf dessen Antrag das Verlassen der Wohnung und die Rückkehr in die Wohnung und deren unmittelbare Umgebung zu verbieten; darüber hinaus - soweit dem nicht schwerwiegende Interessen des Antragsgegners zuwiderlaufen - den Aufenthalt an bestimmt zu bezeichneten Orten zu verbieten und aufzutragen, das Zusammentreffen und die Kontaktaufnahme mit dem Antragsteller zu vermeiden. Nach ständiger Rechtsprechung soll ein effektiver körperlicher Angriff oder die Drohung mit einem solchen die Ausweisung des Antragsgegners aus der oder ein Rückkehrverbot in die Wohnung rechtfertigen, darüber hinaus aber auch ein sonstiges Verhalten („Psychoterror") derartige Maßnahmen ermöglichen, wenn es eine Schwere erreicht, die die strenge Maßnahme der einstweiligen Verfügung angemessen erscheinen lässt (zuletzt etwa 10 Ob 7/07p mwN; Sailer in Burgstaller/Deixler-Hübner, § 382b EO Rz 5 mwN; Kodek in Angst, EO2, § 382b Rz 7). Von Bedeutung ist auch nicht ein Verhalten, welches der Durchschnittsmensch „als Psychoterror" empfände, sondern die Wirkung eines bestimmten Verhaltens gerade auf die Psyche des Antragstellers (RIS-Justiz RS0110446 [T4 und T 8]).

Die Erlassung einer einstweiligen Verfügung setzt die Bescheinigung eines konkreten Verhaltens des Antragsgegners voraus, das Gewaltanwendung im weiteren Sinn beinhaltet. Dieses Gefährdungsverhalten muss bescheinigt sein; die Bescheinigung des bloßen Verdachts, der Antragsgegner verhalte sich gewalttätig - die Ausübung sexueller Gewalt ist von diesem Begriff selbstverständlich umfasst - reicht für die Annahme, das Verhalten des Antragsgegners mache das weitere Zusammenleben/Zusammentreffen unzumutbar, nicht.

Die vom Erstgericht getroffene und vom Rekursgericht übernommene Feststellung (als bescheinigt angenommener Sachverhalt), bestimmte Umstände „ließen den Schluss des Verdachts auf sexuellen Missbrauch zu", der Verdacht des sexuellen Missbrauchs liege vor und der Antragsgegner komme als Verdächtiger in Frage, rechtfertigen die Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach § 382b Abs 1 und 2 EO nicht. Daran ändert der Umstand nichts, dass die vorliegenden Bescheinigungsmittel ausgehend vom Akteninhalt die Ausübung sexueller Gewalt durch den Antragsgegner indizieren mögen. Eine Erweiterung der Sachverhaltsgrundlage durch den Obersten Gerichtshof kommt - wie bereits oben ausgeführt - nicht in Betracht.

4. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren - allenfalls nach Ergänzung des Bescheinigungsverfahrens - konkrete Feststellungen zu dem dem Antragsgegner vorgeworfenen Verhalten gegenüber den Antragstellern zu treffen haben. Sollte es die von den Antragstellern behauptete Ausübung sexueller Gewalt ihnen gegenüber für bescheinigt halten, wäre die beantragte einstweilige Verfügung (neuerlich) zu erlassen. Sieht das Erstgericht hingegen die gegen den Antragsgegner erhobenen Vorwürfe - ungeachtet vorliegender Verdachtsmomente - nicht als bescheinigt an, fehlt die Grundlage zumindest einmaliger Anwendung oder ernstlicher Drohung mit Gewalt im weiteren Sinn für die begehrte einstweilige Verfügung nach § 382b Abs 1 und 2 EO.

5. Solange die einstweilige Verfügung nicht aufgehoben ist, kann dem Rekurs (bzw dem Widerspruch) gegen ihre Bewilligung die Beschwer nicht abgesprochen werden, selbst wenn ein Aufhebungsgrund tatsächlich vorliegt, etwa wegen Ablaufs der Geltungsfrist (König, Einstweilige Verfügungen3 Rz 6/86 mwN zur Rsp). Ungeachtet der dreimonatigen Befristung der erstgerichtlichen einstweiligen Verfügung (Ablauf ) war deren Berechtigung im Rechtsmittelverfahren zu überprüfen.