OGH vom 19.01.2011, 7Ob215/10h
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Huber als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Schaumüller, Dr. Hoch, Dr. Kalivoda und Dr. Roch als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen D***** L*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Eltern N***** L***** und M***** L*****, beide vertreten durch Dr. Natalie Seitz, Rechtsanwältin in Wien, wegen Obsorge, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 391/10s S 78, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom , GZ 2 P 231/08h S 65, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung:
Der minderjährige D***** L***** ist österreichischer Staatsbürger. Das Erziehungsverhalten der Eltern war völlig übertrieben verwöhnend, sie erfüllten dem Kind jeden Wunsch. D***** hatte seit dem Kleinkindalter ein TV-Gerät im Zimmer und sah regelmäßig nicht altersadäquate Spielfilme; er spielte Kriegs-, Action- und Gewaltspiele, die zum Teil erst ab dem 16. Lebensjahr freigegeben waren. Die sehr enge, symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Sohn stellt ebenfalls ein großes Problem in der Erziehung dar.
Schon im Kleinkindalter entwickelte sich das Sozialverhalten D*****s auffällig, er attackierte mangels permanenter Aufmerksamkeit seiner Betreuer bereits in der Kinderkrippe andere Kinder und stopfte Papier, Handtücher und Kuscheltiere ins WC. Auch während des Besuchs eines Privatkindergartens von Herbst 2007 bis Frühjahr 2008 kam es zu Problemen, die zur Gefährdungsmeldung und zu einem Abklärungsverfahren des Jugendwohlfahrtsträgers führten. Der damals Sechsjährige attackierte andere Kinder nahezu täglich; er hatte keine Einsicht in sein Verhalten. Er beschimpfte Kinder, stach mit gespitzten Stiften auf ihren Kopf oder Oberkörper und schlug sie mit der Faust. Am erfolgte die zweite Gefährdungsmeldung, weil nach Äußerungen des Buben der Verdacht der Kindesmisshandlung durch die Mutter im Raum stand. Das führte zur Überstellung des Buben in ein Krisenzentrum, wo er bis mit Zustimmung der Eltern blieb. Nach dieser Zeit, in der die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Jugendamt und Krisenzentrum gut funktionierte, wurde D***** wieder zu seinen Eltern entlassen. Die Mutter nahm lediglich zwei Termine einer psychiatrischen Behandlung wahr und lehnte die ihrem Sohn verordneten Medikamente ab. Mit Schulbeginn in der ersten Klasse einer Privatvolksschule im Herbst 2008 zeigte sich ein aggressives und völlig unberechenbares Verhalten des Buben. Er begann Streitereien mit anderen Kindern, versetzte diesen Stöße und beschimpfte sie ordinärst, auch sexuell gefärbt. Die Aggressionen und körperlichen Attacken richteten sich auch gegen die hilflose Mutter. Auch im Zuge eines bei einer Kinderpsychologin am absolvierten Intelligenztests kam es zu Agressionshandlungen; der Bub griff die Kinderpsychologin mit einem Sessel an. Beim folgenden Besuch im Krankenhaus, bei dem er Befunde anderer Kinder zerriss, wurde die Aufnahme in ein Krisenzentrum empfohlen. Die Eltern stimmten dieser Maßnahme zunächst zu. Das weitere Verhalten in der Schule (Schlagen und Treten anderer Kinder, Drohung mit dem Niederstechen, Herunterreissen von Bildern und Plakaten anderer Schüler, Urinieren in einen Papierhandtuchkübel und Verteilen des Inhalts am Gang der Schule) eskalierte dennoch und führte zur durchgehenden Suspendierung vom Schulbesuch. Nach anfänglicher Kooperation der Eltern sprachen sie sich am gegen eine weitere Unterbringung nach Ablauf des Krisenaufenthalts aus.
Am stellten die Eltern beim Erstgericht den Antrag, den Jugendwohlfahrtsträger von seiner Vertretungsbefugnis zu entheben und ihren Sohn in ihre Obhut zu entlassen. Sie hätten mit Telefax vom ihre Zustimmung zur weiteren Vertretungsbefugnis des Jugendwohlfahrtsträgers widerrufen. Dieser beantragte am unter Berufung auf § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB, ihm wegen Gefährdung des Kindeswohls die gesamte Pflege und Erziehung zu übertragen, weil die Eltern am gegen die mit ihrer Zustimmung erfolgte Übernahme des Minderjährigen in die volle Erziehung Widerspruch erhoben hätten. Den Antrag der Eltern vom auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung, ihnen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Obsorgeantrag die einstweilige volle Obsorge zuzusprechen, wies das Erstgericht mit Beschluss vom rechtskräftig ab.
Nach dem Krisenaufenthalt wurde D***** im Februar 2009 in eine Wohngemeinschaft in ***** übersiedelt und besuchte dort eine Volksschule. Nach medikamentöser Einstellung des Kindes besserte sich sein Verhalten merklich, der Schulbesuch verlief positiv und es kam zunächst zu keinen Verhaltensauffälligkeiten. Der Kontakt zu seiner Familie beschränkte sich vorerst auf stundenweise Ausgänge an den Wochenenden ohne Nächtigung. Zu Ostern 2009 verbrachte er einige Tage und in der Folge die Wochenenden samt Nächtigung bei den Eltern. Im weiteren Verlauf wurde eine Verschlechterung seiner schulischen Leistungen, zunehmende Gewalttätigkeit und Bedrohung anderer Kinder, weiters Desorientierung, Verbalinjurien und Distanzlosigkeit nach den Wochenendausgängen festgestellt. Im Sommer 2009 wurde ein ursprünglich auf drei Wochen gewährter Elternaufenthalt über deren Drängen auf fünf durchgehende Wochen ausgedehnt, um die Auswirkungen auf D*****s Entwicklung zu beobachten.
Im September 2009 hatte er jeden Nachmittag Kontakt zu seiner Familie im Zuge von Fussballtrainingseinheiten und Therapien. Wegen aggressiven Verhaltens (Stechen mit spitzen Gegenständen und Treten von Mitschülern, Losgehen und Treten auf die Lehrerin) am kam es neuerlich zur Suspendierung vom Schulbesuch bis , danach zu einer schrittweisen Rückführung in den Klassenverband.
Wegen der Verschlechterung der Entwicklung des Buben kamen seine Betreuer zum Entschluss, Therapie und sportliche Aktivitäten ausschließlich in der Wohngemeinschaft wahrzunehmen, da ihm die intensiven Kontakte zu seinen Eltern nicht zuträglich seien und seine Ambivalenz dadurch weiter erhöht werde, sodass er zwischen der notwendigen Unterbringung und seinem Elternhaus zerrieben werde. Es kam unter der Woche zu keinen Besuchen nach Hause mehr. Die weitere Belassung des Kindes in der Wohngemeinschaft wurde für unbedingt notwendig erachtet, auch wenn seine Entwicklung nicht den Zielvorstellungen der Eltern und der Betreuer entsprach.
Im März 2010 wurde D***** in einer Förderklasse einer Volksschule nach dem Volksschullehrplan unterrichtet, die Schulsituation war als zufriedenstellend anzusehen. Es kam zu Wochenendkontakten mit den Eltern bei Nächtigung in der Wohngemeinschaft.
Beim Minderjährigen liegt ein Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätssyndrom vor sowie zusätzlich eine Störung des Sozialverhaltens „ICD F 90.1.“. Er bedarf einer medikamentösen Behandlung und einer ruhigen konsequenten Erziehung, ohne Strafen, Beschimpfungen und Schläge, andererseits darf es nicht zu einer Schädigung durch Schonung kommen; es kommt daher auf eine flexible, aber sichernde Erziehungshaltung an, die hier nur durch eine regelmäßige Erziehungsberatung zu vermitteln ist, die eine geraume Zeit dauert. Es besteht die Gefahr bei Rückgabe in die Obsorge der Eltern, dass gelernte Verhaltensweisen, die über Jahre auf die kindliche Psyche eingewirkt haben, wiederbelebt werden; die Lösung einer „Wochen Internats Unterbringung“ in der Wohngemeinschaft ist aufrecht zu erhalten. Die Eltern können nur als „mäßig erziehungssuffizient“ eingestuft werden.
Die Mutter begann eine Therapie bei einer Psychologin und hält Kontakt zum Psychotherapeuten des Kindes. Es konnte nicht festgestellt werden, dass diese Therapien bereits abgeschlossen sind und die Mutter ihr Erziehungsverhalten nachhaltig geändert hat. Die Ehe der Eltern war wegen der Spielsucht des Vaters stark belastet, beide Elternteile befinden sich im Privatkonkurs. Eine vom Vater aufgenommene Therapie wegen seiner Spielsucht führte zur stationären Aufnahme im Anton Proksch Institut, er ist nach wie vor in psychologischer Behandlung. Die Eltern leben nunmehr wieder zusammen, ein von der Mutter eingeleitetes Scheidungsverfahren ruht. Die Arbeit an der Erziehungsfähigkeit der Eltern scheint noch nicht abgeschlossen. Eine Entlassung des Buben nach Hause ohne Risiko eines neuerlichen Rückfalls ist nicht möglich.
Mit Beschluss vom entzog das Erstgericht den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung und betraute damit den Jugendwohlfahrtsträger. Ausgehend vom dargestellten Sachverhalt begründete es seine Entscheidung damit, es lägen keine ausreichenden Hinweise dafür vor, dass sich die Einstellung der Mutter und ihre Erziehungsfähigkeit ausreichend geändert hätten; hinzu kämen die finanziellen Probleme und die Ehekrise, weshalb nicht mit entsprechend großer Wahrscheinlichkeit angenommen werde könne, dass keine weiteren Maßnahmen nach § 176 ABGB erforderlich seien.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Eltern nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und verwies darauf, dass dem erkennbaren Wunsch des Kindes, wieder zu seinen Eltern zurückzukehren, angesichts seines geringen Alters und der damit verbundenen geringen Einsichtsfähigkeit keine entscheidungswesentliche Bedeutung zukomme. Die Einschätzung, im Fall einer Rückkehr könnten die sozial unangepassten, insbesondere aggressiven Verhaltensweisen des Kindes wiederbelebt werden, sei durch die negativen Auswirkungen der vermehrten Aufenthalte bei den Eltern zu Ostern und im Sommer 2009 empirisch bestätigt. Die Lebensverhältnisse der Eltern hätten sich ungeachtet der Überwindung der Ehekrise und der therapeutischen Behandlung keineswegs derart gefestigt, dass ihnen die Pflege und Erziehung ohne Gefährdung des Kindeswohls wieder zur Gänze überlassen werden könnte. Daher sei von einer aufrechten Gefährdung des Kindeswohls auszugehen. Mangels Beantwortung einer erheblichen Rechtsfrage wurde der ordentliche Revisionsrekurs nicht zugelassen.
Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Eltern , der im Wesentlichen geltend macht, das Rekursgericht habe die Voraussetzungen für eine Entziehung der Obsorge als äußerste Notmaßnahme im Widerspruch zur höchstgerichtlichen Judikatur unrichtig beurteilt und den Wunsch des Kindes zu Unrecht übergangen.
Die freigestellte Möglichkeit der Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung nahm der Jugendwohlfahrtsträger nicht wahr.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Ergebnis im Sinn des Eventualantrags berechtigt , weil die aktenkundigen Entwicklungen sowohl nach der Entscheidung des Erstgerichts als auch nach jener des Rekursgerichts nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.
1. In der Rekursbeantwortung des Jugendwohlfahrtsträgers vom (ON S 76) wird ausgeführt, der Minderjährige lebe seit Herbst 2008 mit ständig wechselnder Einstellung seiner Eltern zur Fremdunterbringung. Was ihm als Notwendigkeit erklärt werde, werde ihm seitens der Eltern wenig später als Willkürakt des Jugendwohlfahrtsträgers beschrieben; in dieser Zerrissenheit gehe es ihm zusehends schlechter. Derzeit könne eine klare Darlegung der weiteren Vorgangsweise noch nicht erfolgen, am werde ein Helfergespräch mit dem behandelnden Arzt stattfinden, das am weiteren Vorgehen maßgeblichen Anteil haben werde.
Am berichtete der Jugendwohlfahrtsträger dem Erstgericht, der Bub sei von seinem Vater am während eines Besuchswochenendes ohne Zustimmung des Jugendwohlfahrtsträgers nach Serbien gebracht worden; er solle dort bei der mütterlichen Großmutter wohnen und gemeldet sein und die Volksschule als Schüler der dritten Klasse besuchen. Man werde die zuständige Botschaft um Erhebungen zur Lebenssituation des Kindes ersuchen. Eine Anzeige nach § 196 StGB werde derzeit nicht in Erwägung gezogen (ON S 85).
Einem von der Erstrichterin aufgenommenen Aktenvermerk vom (ON S 86) über ein Telefonat mit dem Vertreter des Jugendwohlfahrtsträgers ist zu entnehmen, dass die Situation zuletzt so gewesen sei, dass die bisherige Wohngemeinschaft die weitere Betreuung D*****s verweigert habe und seitens der als Ersatz angesprochenen Wohngemeinschaft eine Aufnahme des Kindes nach Kenntnis des Hintergrundes verweigert worden sei. Es sei zuletzt nicht klar gewesen, wie das Kind weiter betreut werden könne, was die Eltern als Argument für ihr Vorgehen verwendet hätten.
2. Das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich herrschende Neuerungsverbot ist im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RIS Justiz RS0048056). Obsorgeentscheidungen haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt. Sie können nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RIS Justiz RS0106312).
Dem entsprechend können die erst im September 2010, also nach der Rekursentscheidung vom aktenkundig gewordenen Entwicklungen der Situation des Minderjährigen nicht unberücksichtigt bleiben. Sie lassen eine wesentliche Veränderung der bisherigen Tatsachengrundlage erkennen, weil eine Erfolg versprechende (Weiter )Betreuung des Kindes durch den Jugendwohlfahrtsträger in der bisherigen Art und Weise ernstlich in Frage gestellt erscheint und - möglicherweise als Reaktion darauf durch die Eltern nunmehr offensichtlich eine völlig andere Fremdunterbringung (bei der mütterlichen Großmutter) vorgenommen wurde. Deren allenfalls positive Wirkung auf das Kindeswohl kann angesichts der als problematisch zu bezeichnenden, zuletzt in Österreich bestehenden ungewissen, nahezu ausweglosen Situation nicht von vornherein ausgeschlossen werden und bedarf deshalb einer aktuellen Prüfung.
3. Schon deshalb sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und muss die Rechtssache zur entsprechenden Verfahrensergänzung und Prüfung der gebotenen pflegschaftsgerichtlichen Maßnahmen an das Erstgericht zurückverwiesen werden, das auf aktueller Grundlage neuerlich über den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers zu entscheiden haben wird.
Ein Eingehen auf die Argumente des Revisionsrekurses bedarf es wegen der nächträglich eingetretenen Änderung der Tatsachengrundlage nicht.