OGH vom 15.09.2010, 2Ob142/10m
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dipl. Ing. S***** N*****, vertreten durch Themmer, Toth Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei K*****, vertreten durch Dr. Christian Kuhn, Rechtsanwalt in Wien, und den Nebenintervenienten auf Beklagtenseite Univ. Prof. Dr. M***** R*****, vertreten durch Mag. Marion Lindinger, Rechtsanwältin in Wien, wegen 30.000 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 13 R 91/10p 54, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Art 6 MRK und der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verbieten es, einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zu Grunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Prozessökonomisch bedingte Einschränkungen des Vorbringens wie zum Beispiel das Neuerungsverbot, sind aber zulässig ( Berka , Die Grundrechte, Rz 832). Das Gebot der öffentlichen mündlichen Verhandlung gilt im Rechtsmittelverfahren nicht in voller Stärke ( G. Kodek , Änderungen im Rechtsmittelverfahren durch die ZVN 2009 und das Budgetbegleitgesetz 2009 Ein Überblick, Zak 2009/380, 249). Art 6 MRK fordert nicht, dass in jeder Instanz ein öffentliches Verfahren stattfindet ( Grabenwarter , Europäische Menschenrechtskonvention 4 , 377 Rz 92), selbst wenn in der Rechtsmittelinstanz die Feststellung des Sachverhalts überprüft wird ( Peukert in Frowein/Peukert , Europäische Menschenrechtskonvention, Art 6, Rz 195), Streitfragen aber aufgrund der Aktenlage angemessen gelöst werden können ( Grabenwarter , Europäische Menschenrechtskonvention 4 , 377 Rz 94).
Die durch das Budgetbegleitgesetz 2009 herbeigeführte Änderung des § 480 ZPO, mit der die Möglichkeit eines Antrags auf Abhaltung einer Berufungsverhandlung aufgehoben und wonach eine mündliche Berufungsverhandlung nur noch erforderlichenfalls etwa aufgrund der Komplexität der zu entscheidenden Rechtssache von Amts wegen anzuberaumen ist, steht dem grundsätzlich nicht entgegen. Ist eine abschließende Sacherledigung ohne eine Berufungsverhandlung möglich, stellt es nach dieser Bestimmung keinen Verfahrensmangel dar, die Berufung in nichtöffentlicher Sitzung zu erledigen, wie der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen hat (RIS Justiz RS0125957).
Mit dieser neuen Rechtslage befasst sich die Revisionswerberin nicht. Wenn sie meint, eine mündliche Berufungsverhandlung sei anzuberaumen, wenn eine Partei dies beantragt habe, so ist ihr die Gesetzesänderung offenbar entgangen.
Von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs kann im vorliegenden Fall keine Rede sein, da die Klägerin selbst eine Berufungsschrift eingebracht hat, die Gegenstand des Berufungsverfahrens war; rechtliches Gehör kann auch schriftlich gewährt werden (1 Ob 111/10w).
Schließlich kann auch unter dem Aspekt des fairen Verfahrens kein grober, vom Obersten Gerichtshof im Interesse der Rechtssicherheit wahrzunehmender Ermessensfehler darin erblickt werden, dass das Berufungsgericht im Einzelfall von der Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung abgesehen hat; eine zwingende Verpflichtung zur Beweiswiederholung besteht nicht (vgl G. Kodek aaO 250).
Eine erhebliche Rechtsfrage liegt somit insoweit nicht vor.
2. Ergibt sich im Verlauf einer Operation am vollnarkotisierten Patienten eine nicht vorhersehbare Änderung der Operation, kann der Eingriff ausnahmsweise auf der Grundlage einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten durchgeführt werden, die darauf beruht, wie sich ein Patient bei objektiver Bewertung der Situation entschieden hätte. Dabei ist vom Arzt eine Abwägung zwischen Lebens und Gesundheitsgefährdung (bei Abbruch des Eingriffs) und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten vorzunehmen. Die wesentlichen Eckpunkte für die ärztliche Entscheidung werden von der Dringlichkeit der Eingriffsindikation und von der Bedeutung der Folgen einer Unterlassung des weiteren Eingriffs einschließlich der Zumutbarkeit einer Unterbrechung der Anästhesie gebildet (RIS-Justiz RS0122175). Je dringlicher der Erweiterungseingriff ist und je mehr der Operationsabbruch medizinisch kontraindiziert ist, desto unbedenklicher ist die Einwilligungsvermutung. Demgegenüber wiegt die freie Selbstbestimmung des Patienten um so schwerer, je größer die zusätzlichen Risken des eigenmächtigen Erweiterungseingriffs und je gravierender die Auswirkungen auf den Patienten sind. Im Zweifel wiegt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten höher (10 Ob 50/07m mwN).
Ob nach diesen Grundsätzen eine Operationserweiterung durchgeführt werden darf oder allenfalls sogar muss, ist eine Frage des Einzelfalls (2 Ob 242/07p = RIS Justiz RS0122175 [T2]).
Nach den vorinstanzlichen Feststellungen waren hier bei der Klägerin zwei Unterleibsoperationen eine davon nicht dringend indiziert, die die Klägerin wegen postoperativen Problemen bei vorangegangenen Operationen gemeinsam durchgeführt haben wollte. Da dies aufgrund der hohen Infektionsgefahr nicht möglich war, wurde nur der dringlichere Eingriffe ins Auge gefasst und erteilte die Klägerin auch nur zu diesem ihre ausdrückliche Zustimmung. Während der Operation zeigte sich aber überraschend, dass der vorgesehene, die Infektionsgefahr verursachende Eingriff nicht notwendig war. Gegen die Ansicht des Berufungsgerichts, dass der Operateur in dieser Situation von der mutmaßlichen Einwilligung der Klägerin in den zweiten Eingriff ausgehen konnte, bestehen keine gravierenden Bedenken.
Die Revisionswerberin bringt in diesem Zusammenhang daher weder eine allgemeine erhebliche Rechtsfrage noch eine im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung der Vorinstanzen zur Darstellung.