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OGH vom 21.03.2018, 7Ob210/17h

OGH vom 21.03.2018, 7Ob210/17h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** M*****, vertreten durch die Thum Weinreich Schwarz Chyba Reiter Rechtsanwälte OG in Sankt Pölten, gegen die beklagte Partei G***** M*****, vertreten durch Dr. Stefan Gloß und andere Rechtsanwälte in Sankt Pölten, wegen Unterhalt, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Sankt Pölten als Berufungsgericht vom , GZ 23 R 327/17m-58, womit das Urteil des Bezirksgerichts Sankt Pölten vom , GZ 2 C 27/09i-52, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die im September 2001 geschlossene, kinderlose Ehe der Parteien wurde im Mai 2005 aus dem alleinigen Verschulden des 1963 geborenen Beklagten geschieden; dieser war ÖBB-Beamter und bezieht nunmehr eine Pension (einschließlich anteiliger Sonderzahlungen) in Höhe von 1.704 EUR pro Monat.

Die 1966 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war nach der Scheidung vorerst berufstätig sowie selbsterhaltungsfähig und lebte in einer Lebensgemeinschaft. Sie hat zuletzt im Jahr 2007 eine regelmäßige Berufstätigkeit ausgeübt, und zwar als – nicht vollzeitbeschäftigte – Kellnerin. Bis 2009 hat sie im Gastgewerbe ohne Anmeldung gearbeitet.

Unmittelbar nachdem ihr damaliger Lebensgefährte Suizid begangen hatte, hielt sich die Klägerin im April/Mai 2008 mit der Diagnose „schwere depressive Episode, akute Belastungssituation und Alkoholabhängigkeit“ knapp drei Wochen stationär in einer Landesnervenklinik auf, brach diesen Aufenthalt aber nach einem Wochenendausgang ab. Sie war seit Anfang April 2008 für etwa drei bis sechs Monate aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung bei dependenter Persönlichkeitsstörung und zumindest zeitweiser Alkoholkrankheit und Drogenabusus arbeitsunfähig. Seitdem hat die Klägerin keine gesundheitlichen Probleme (insbesondere keine schweren depressiven Episoden oder akuten Belastungssituationen) mehr, die einer Berufstätigkeit entgegenstehen. Sie war seither nicht mehr in Therapie und nimmt auch keine Medikamente.

Die Klägerin war im Juni 2009 – im Alter von damals 43 Jahren – mit folgendem Leistungskalkül aus neurologisch-psychiatrischer Sicht arbeitsfähig: Die Klägerin konnte alle Arbeiten im Sitzen, Gehen oder Stehen, im Verlauf einer normalen Arbeitszeit unter den üblichen Pausen, bei nur mehr durchschnittlichem Zeitdruck und bei einfachem psychologischem Anforderungsprofil verrichten; sie konnte nur mehr einfache Aufsichtstätigkeiten durchführen, Kundenkontakt war möglich. Es war ihr aber nur mehr Tagespendeln möglich.

Ein Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Invaliditätspension vom wurde abgelehnt.

Tatsächlich war die Klägerin seit 2009 durchgehend – bis auf drei Arbeitsverhältnisse, die zwei, vier und neun Tage dauerten – arbeitssuchend gemeldet und bezog Krankengeld oder Notstandshilfe bzw Überbrückungshilfe vom AMS. Die Klägerin bezieht derzeit Notstandshilfe von 24,09 EUR täglich bzw 722,70 EUR monatlich.

„Die Klägerin hat sich in diesen Zeiten [2009 bis 2015] auch bei Firmen beworben, und zwar teilweise bei vom AMS zur Verfügung gestellten Adressen und teilweise selbständig. Ein Problem dabei war jedoch, dass sie mangels Auto auf Busverbindungen angewiesen war. Wenn sie [...] bei einer Veranstaltung länger arbeiten musste, fuhr kein Bus mehr und sie musste sich ein Taxi nehmen. Sie konnte bzw kann sich weder ein Moped noch ein Auto leisten.“

Der Klägerin hätte es „mit hoher Wahrscheinlichkeit (80 %) möglich sein müssen“, im Anschluss an eine „prolongierte Arbeitsplatzsuchdauer von bis zu zwölf Monaten“, somit ab , eine Vollzeitbeschäftigung als Hilfskraft im Handel oder als ungelernte Kellnerin anzutreten und dabei über die Jahre 2009 bis 2016 ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen (einschließlich anteiliger Sonderzahlungen und allfälliger Trinkgelder) von zumindest 1.320 EUR zu verdienen. „Unter der Annahme einer fiktiven kontinuierlichen Beschäftigung ab diesem Zeitpunkt müsste die Klägerin auch heute noch als vermittelbar angesehen werden“ und hätte im Beobachtungszeitraum ab – wiederum nach einer „stark prolongierten Arbeitsplatzsuchdauer von bis zu zwölf Monaten“ – eine Vollzeitbeschäftigung als Hilfskraft im Handel, ungelernte Kellnerin, Küchenhilfe oder Reinigungskraft erlangen können.

Unter Zugrundelegung der realen Ausgangssituation (lediglich rudimentäre Beschäftigungsverhältnisse seit 2008) und „ohne fiktive Annahme einer regulären sowie dauerhaften Beschäftigung seit 2008“ wäre es der Klägerin ab aber selbst bei intensiver persönlicher und breit angelegter Arbeitsplatzsuche sowie unter Inanspruchnahme der Dienstleistungen des AMS aufgrund der mittlerweile mehrjährigen Arbeitsmarktkarenz, der fehlenden Berufsausbildung, des bereits fortgeschrittenen Erwerbsalters sowie der nach wie vor angespannten Arbeitsmarktsituation „nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit (80 %) möglich gewesen“, eine reguläre sowie dauerhafte Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung über dem Unterhaltsexistenzminimum
– etwa als Hilfskraft im Handel, ungelernte Kellnerin, Küchenhilfe oder Reinigungskraft – zu erlangen.

Die Klägerin klagte bereits am Unterhalt rückwirkend ab Mai 2006 in Höhe von 5.836 EUR und laufend ab Mai 2009 in Höhe von 185 EUR monatlich ein. In der Folge verzichtete sie mit einer im August 2009 mit dem Beklagten getroffenen Vereinbarung auf Unterhalt bis einschließlich August 2009, behielt sich aber vor, Unterhaltsansprüche ab September 2009 geltend zu machen; im Verfahren vereinbarten die Parteien einfaches Ruhen.

Am setzte die Klägerin das Verfahren fort und begehrte vom Beklagten nunmehr 248 EUR Unterhalt pro Monat ab . Sie sei gesundheitlich und ohne ihr Verschulden nicht in der Lage, einer Beschäftigung nachzugehen.

Der Beklagte wandte ein, die Klägerin sei arbeitsfähig und sehr wohl in der Lage, ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Sie habe sich seit 2006 nicht bemüht, einer Beschäftigung nachzugehen; sie sei arbeitsunwillig gewesen und habe „ein verantwortungsloses Leben geführt“. Da sie ihre Situation grob fahrlässig verschuldet habe, werde ihrem Begehren der Anspannungsgrundsatz entgegengehalten. Die Klägerin könne nach § 73 EheG höchstens den notdürftigen Unterhalt verlangen; diesen habe sie bereits mit der Notstandshilfe. Sie habe den Unterhaltsanspruch nach § 74 EheG verwirkt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. § 94 ABGB stelle nicht unmittelbar auf das Einkommen, sondern auf die potenzielle Leistungsfähigkeit (Abs 1: „nach ihren Kräften“) beider Teile ab, also auf das bei entsprechender Kräfteanspannung erzielbare Einkommen. Nutze der Unterhaltsberechtigte seine Arbeitskraft oder seine Vermögenssubstanz schuldhaft nicht voll aus, so müsse er sich auch im Anwendungsbereich des § 66 EheG den ihm konkret möglichen Verdienst als Einkommen anrechnen lassen. Die Klägerin sei seit 2009 keiner Beschäftigung nachgegangen, obwohl sie arbeitsfähig gewesen sei. Sie sei daher auf ein Einkommen von monatlich 1.320 EUR anzuspannen, womit sich kein Unterhaltsanspruch gegenüber dem Beklagten ergebe.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Zwar sei die Klägerin aktuell am Arbeitsmarkt unvermittelbar, sie habe diesen Zustand jedoch selbst durch die Nichtaufnahme einer Beschäftigung seit 2009 schuldhaft herbeigeführt. Wollte man dies unberücksichtigt lassen, führte dies dazu, dass derjenige, der sich seinen Obliegenheiten beharrlich entziehe, langfristig dafür belohnt werde, wenn er jenen Punkt erreiche, in dem er objektiv am Arbeitsmarkt aufgrund seiner Langzeitarbeitslosigkeit nicht mehr vermittelbar sei. Ein solches beharrliches Verletzen der Obliegenheiten, auch wenn die Absicht nicht primär darauf gerichtet gewesen sei, stelle eine „Flucht in den Unterhalt“ dar.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil der Beantwortung dieser Frage über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

Die Revision der Klägerin beantragt die Klagsstattgebung, hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Der Beklage beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

1.1. Nach § 66 EheG hat der allein oder überwiegend schuldige Ehegatte dem anderen, soweit dessen Einkünfte aus Vermögen und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit, die von ihm den Umständen nach erwartet werden kann, nicht ausreichen, den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren. Nach dem Wortlaut des § 66 EheG ist der Unterhaltsanspruch des schuldlos geschiedenen Ehegatten gegenüber eigenen Einkünften und eigenem Vermögen subsidiär (7 Ob 186/16b; RIS-Justiz RS0110630). Dieser ist im Rahmen der Zumutbarkeit zur Erwerbstätigkeit verpflichtet (RIS-Justiz RS0080396; RS0057355) und hat seine Arbeitskraft primär für die Beschaffung des eigenen Unterhalts einzusetzen (RIS-Justiz RS0005947 [T1]; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, Ehe- und Partnerschaftsrecht [2011] § 66 EheG Rz 17).

Diese – für das Unterhaltsrecht allgemein anerkannte (RIS-Justiz RS0009564) – Anspannungstheorie kommt auch bei einem Unterhaltsanspruch nach § 66 EheG zur Anwendung (vgl RIS-Justiz RS0057388). Es ist daher zu fordern, dass sich der Unterhaltsberechtigte nach Kräften bemüht, selbst ein Einkommen zu erzielen; in diesem Sinne gilt die Anspannungstheorie also auch für den Unterhaltsberechtigten (9 Ob 201/99w = RIS-Justiz RS0027908 [T2]).

1.2. Zur Anspannung eines Unterhaltspflichtigen wird vertreten (was sinngemäß auf den Unterhaltsberechtigten übertragen werden kann), dass ihn die Obliegenheit trifft, im Interesse der ihm gegenüber Unterhaltsberechtigten alle Kräfte anzuspannen und alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einzusetzen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RIS-Justiz RS0047686; RS0047550; RS0047511).

1.3. Eine Anspannung auf tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf nur erfolgen, wenn den Unterhaltsschuldner ein Verschulden daran trifft, dass er keine Erwerbstätigkeit ausübt (RIS-Justiz RS0047495). Der Anspannungsgrundsatz dient als eine Art Missbrauchsvorbehalt, wenn schuldhaft die zumutbare Erzielung deutlich höherer Einkünfte versäumt wird (RIS-Justiz RS0047495 [T4; vgl auch T8, T15]). Maßstab hiefür ist der Vergleich mit dem Verhalten eines ordentlichen familien- und pflichtbewussten (hier: geschiedenen) Ehepartners (vgl zu § 94 EheG: 3 Ob 96/15m; RIS-Justiz RS0047495 [T17]).

Für die Beurteilung der Zumutbarkeit kommt es auf die persönlichen Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten sowie insbesondere das Alter und den Gesundheitszustand, die Berufsausbildung, bisherige Berufstätigkeiten, die Pflicht zur Erziehung von Kindern, deren Alter sowie die Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt an (RIS-Justiz RS0057391; Gitschthaler aaO Rz 19 mwN).

Wer – aus welchen Gründen immer (Krankheit, Haft, Schwangerschaft, Alter) – zu einer Erwerbstätigkeit nicht in der Lage ist, dem kann wegen der fehlenden Leistungsfähigkeit kein potenzielles Einkommen unterstellt werden (RIS-Justiz RS0047686 [T9]). Der Bezug von Sozialhilfe indiziert im Allgemeinen, dass der Unterhaltspflichtige nicht in der Lage ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Es ist aber durchaus möglich, dass auch bei rechtmäßigem Bezug der Sozialhilfe die Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltspflichtigen bestehen bleiben (RIS-Justiz

RS0047686 [T23]).

2. Grundsätzlich hat jede Partei die für ihren Rechtsstandpunkt günstigen Tatsachen und die Voraussetzungen der ihr günstigen Norm zu behaupten und zu beweisen (RIS-Justiz RS0037797, RS0039939).

Der Unterhaltspflichtige hat die seine Unterhaltsverpflichtung aufhebenden oder vermindernden Umstände zu behaupten und zu beweisen (RIS-Justiz

RS0111084, RS0006261 [T3, T6, T14]). Die Behauptungs- und Beweislast für ein zumutbarerweise erzielbares höheres Einkommen trifft die durch den Anspannungsgrundsatz begünstigte Partei (RIS-Justiz

RS0006261 [T5]).

Der Unterhaltsberechtigte trägt im Fall seiner Anspannung auf ein fiktives Einkommen die Behauptungs- und Beweislast für fehlendes Verschulden; er hat daher auch zu behaupten und zu beweisen, dass seine fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit nicht eingetreten ist (vgl zum Kindesunterhalt: 10 Ob 10/15s = RIS-Justiz RS0006261 [T15] = RS0111084 [T3]).

3. Geht man von diesen Grundsätzen aus, trifft den Beklagten als Unterhaltspflichtigen die Behauptungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Anspannung der Klägerin auf ein (fiktiv) erzielbares Einkommen. Die Klägerin trägt die Beweislast dafür, dass sie nicht selbsterhaltungsfähig ist und sie daran kein Verschulden trifft.

4.1. Die Klägerin verzichtete zunächst auf ihr ursprüngliches Unterhaltsbegehren für den Zeitraum Mai 2006 bis August 2009, nachdem das bereits damals eingeholte medizinische Sachverständigengutachten ergeben hatte, dass sie jedenfalls ab dem Jahr 2009 arbeitsfähig war. Gleichzeitig behielt sie sich aber ausdrücklich vor, Unterhaltsansprüche ab September 2009 geltend zu machen. Hätte die Klägerin seitdem eine entsprechende Tätigkeit durchgehend ausgeübt, dann wäre sie nach den Feststellungen im nunmehr klagsgegenständlichen Zeitraum nicht arbeitslos. Die Klägerin ist aber aufgrund ihres tatsächlichen Lebens- und Arbeitsverlaufs jetzt nicht mehr vermittelbar und somit zu einer Erwerbstätigkeit nicht mehr in der Lage.

4.2. Zu beantworten ist die Frage, woran in diesem Fall die Anspannungstheorie anzuknüpfen hat: An die Vermittelbarkeit für den Zeitraum des Unterhaltsbegehrens oder fiktiv daran, wie sich die Situation der Klägerin darstellen würde, wenn sie zu einem früheren Zeitpunkt ihre Kräfte angespannt hätte, dies aber vorwerfbar unterlassen hat.

Dabei ist darauf Bedacht zu nehmen, dass die Klägerin ihren Unterhaltsanspruch ursprünglich im April 2009 erhoben und sich für den Zeitraum ab September 2009 vorbehalten hatte. Damit bestand nicht nur hypothetisch, sondern ganz konkret das Vorhaben der Klägerin, die Unterhaltspflicht des Beklagten bei Vorliegen einer Arbeitslosigkeit in der Zukunft in Anspruch zu nehmen. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt trafen die Klägerin damit auch die für jeden ordentlichen familien- und pflichtbewussten geschiedenen Ehepartner geltenden Verhaltenspflichten.

Die Frage, ob die Klägerin trotz ihres gegenwärtigen Zustands dennoch anzuspannen wäre, kann daher nicht einfach damit beantwortet werden, dass sie es in früheren Perioden, für die sie gar keinen Unterhalt begehrt, verabsäumt hätte, ein fiktives Einkommen zu erzielen. Es kommt vielmehr darauf an, ob es die Klägerin in Kenntnis ihrer allfälligen Unterhaltsberechtigung gegenüber dem Beklagten nach August 2009 schuldhaft verabsäumt hat, ihre jetzige Erwerbsunfähigkeit abzuwenden, das heißt, ob sie diese schuldhaft herbeigeführt hat. Es ist darauf abzustellen, ob die Entscheidungen der Klägerin nach ihren Verhältnissen und Möglichkeiten, ihrer subjektiven Kenntnis und Einsicht im Zeitpunkt, zu dem sie jeweils getroffen wurden, jenen eines pflichtbewussten geschiedenen Ehegatten entsprachen (

vgl – zur Wahl eines Arbeitsplatzes – 1 Ob 23/02t = RIS-Justiz RS0047495 [T9]).

4.3. Zusammengefasst gilt daher:

Bei der Beurteilung, ob der Anspannungsgrundsatz bei einer nach § 66 EheG Unterhaltsberechtigten zum Tragen kommt, ist auch deren Verhalten in den Vorzeiträumen jedenfalls dann beachtlich, wenn sie sich die Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs vorbehalten hat.

5. Es kommt hier also darauf an, ob ein ordentlicher familien- und pflichtbewusster geschiedener Ehepartner sich ab August 2009 so wie die Klägerin in ihrer Situation verhalten hätte, oder ob und wie ein solcher in Bezug auf Suche und Aufnahme sowie Ausübung und Erhalt einer Erwerbstätigkeit in zumutbarer Weise anders vorgegangen wäre.

Zur Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Anspannung der Klägerin in diesem Sinne vorliegen, reichen die Feststellungen der Vorinstanzen nicht hin.

5.1. Es fehlen konkrete Feststellungen zur Frage, wann und wie oft sich die Klägerin aus eigener Initiative oder über das AMS bei welchen Arbeitsstellen beworben hat, ob die Klägerin damit die nach ihren konkreten persönlichen Verhältnissen und der Arbeitsmarktlage zumutbaren, sinnvollen und ihrer subjektiven Kenntnis und Einsicht entsprechenden Anstrengungen unternommen hat (vgl RIS-Justiz RS0047503), und warum dies nicht zur Aufnahme von dauerhaften Arbeitsverhältnissen geführt hat. Weiters ist nicht festgestellt, warum es konkret dazu kam, dass die Klägerin nur drei, wenige Tage dauernde, Arbeitsverhältnisse aufzuweisen hat, warum diese endeten und ob sie dazu einen Beitrag leistete.

5.2. Es steht weiters nicht eindeutig fest, ob die Klägerin selbst bei Anspannung aller ihrer Kräfte ab August 2009 – insbesondere unter Berücksichtigung einer jeweiligen Arbeitsplatzsuchdauer von bis zu einem Jahr nach der jeweiligen Beendigung eines Arbeitsverhältnisses – einen kontinuierlichen Beschäftigungsverlauf bis 2016 hätte aufweisen können. Dies wäre aber nach den – diesbezüglich klaren – Feststellungen jedenfalls eine Voraussetzung dafür, dass ihre Erwerbsfähigkeit heute noch gegeben wäre. Ließe sich diese Kausalkette nicht erweisen, käme es auf schuldhafte Verfehlungen der Klägerin mangels Verursachung gar nicht an.

Der Sachverhalt ist dahin zu ergänzen, ob es der Klägerin bei zumutbarer und gebotener Anstrengung überhaupt möglich gewesen wäre, einen ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechenden Arbeitsplatz zu finden, an dem sie durchgehend beschäftigt geblieben wäre (welchen?), oder ob trotz pflichtgemäßem Verhalten der Klägerin bei den ihr möglichen Beschäftigungen mit einer vorzeitigen Beendigung der von ihr erlangten Arbeitsverhältnisse – gegebenenfalls in welcher Frequenz – zu rechnen gewesen wäre, und wie sich dann vor allem im Lichte der Arbeitsplatzsuchdauer von jeweils bis zu einem Jahr ein fiktiver Beschäftigungsverlauf der Klägerin entwickelt und auf ihre heutige (Nicht-)Vermittelbarkeit ausgewirkt hätte.

5.3. Das Regelbeweismaß der ZPO ist die hohe Wahrscheinlichkeit (RIS-Justiz RS0110701). In den Tatsachenfeststellungen eines Urteils muss eindeutig zum Ausdruck kommen, ob ein bestimmter, für die Entscheidung wesentlicher Umstand festgestellt wird oder dass eine solche Feststellung nicht möglich ist, weil der Umstand nicht mit dieser hohen Wahrscheinlichkeit als erwiesen angenommen werden kann (RIS-Justiz RS0110701 [T1]).

Das Erstgericht wird sich daher nicht mit Feststellungen begnügen können, wonach bestimmte Umstände „mit hoher Wahrscheinlichkeit (80 %) möglich sein müssen“ (wie aus den Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen wörtlich übernommen wurde), sondern sich aufgrund eigener beweiswürdigender Überlegungen konkret
– positiv oder mangels Erreichens des Beweismaßes negativ – zum fiktiven Beschäftigungsverlauf der Klägerin festzulegen haben.

5.4. Das Berufungsgericht scheint der Klägerin auch anzulasten, eine vorsätzliche „Flucht in den Unterhalt“ angetreten zu haben, ohne dass dem konkrete Sachverhaltsfeststellungen insbesondere zur subjektiven Tatseite entsprächen.

Dafür käme es nämlich darauf an, ob die Klägerin vorsätzlich ihre jetzige Erwerbsunfähigkeit durch Nichtaufnahme einer Beschäftigung über Jahre hinweg herbeigeführt hat, was aufgrund des festgestellten Sachverhalts nicht abschließend beurteilt werden kann.

6. Das Erstgericht wird den Parteien Gelegenheit zur Erörterung dieser Umstände zu geben und sodann nach ergänzender Beweisaufnahme Feststellungen zu treffen haben, aufgrund welcher das Vorliegen der Voraussetzungen für eine allfällige Anspannung der Klägerin wie dargestellt beurteilt werden kann.

7. Der Beklagte hält im Revisionsverfahren seinen bereits in erster Instanz erhobenen Vorwurf aufrecht, die Klägerin habe durch ihre Arbeitsunwilligkeit und die „Flucht in die Unterstützung durch den Sozialbereich“ trotz Arbeitsfähigkeit eine schwere Verfehlung iSd § 74 EheG begangen, welche die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs zur Folge habe; dessen Geltendmachung sei rechtsmissbräuchlich.

Gemäß § 74 EheG verwirkt der Berechtigte den Unterhaltsanspruch, wenn er sich nach der Scheidung einer schweren Verfehlung gegen den Verpflichteten schuldig macht oder gegen dessen Willen einen ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandel führt.

Einen Verwirkungstatbestand zeigt die Revision nicht auf. Ihre Argumente (Arbeitsunwilligkeit) finden im Rahmen des Anspannungsgrundsatzes wie dargestellt Berücksichtigung.

8. Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00210.17H.0321.000

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