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OGH vom 30.01.2020, 2Ob138/19m

OGH vom 30.01.2020, 2Ob138/19m

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** P*****, vertreten durch Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, gegen die beklagte Partei A***** GmbH, *****, vertreten durch Wolf Theiss Rechtsanwälte GmbH Co KG in Wien, wegen 68.858 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), im Verfahren über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 2 R 44/19h101, mit welchem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom , GZ 21 Cg 43/18m97, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist eine harte, aber noch im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs liegende Landung, die zur Verletzung eines Fluggasts führt, ein Unfall im Sinn von Art 17 Abs 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am in Montreal geschlossen, am von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom in ihrem Namen genehmigt wurde?

II. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.

Text

Begründung:

1. Sachverhalt:

Die Klägerin war am Fluggast eines von der Beklagten durchgeführten Fluges von Wien nach St. Gallen/Altenrhein (Schweiz). Bei der Landung zeichnete der Flugschreiber eine vertikale Belastung von 1,8 g auf. Eine solche Landung kann subjektiv als hart empfunden werden. Sie lag aber auch unter Berücksichtigung einer Messtoleranz aus luftfahrttechnischer Sicht (noch) im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs, der nach den Vorgaben des Flugzeugherstellers bis zu einer Belastung von 2 g reicht. Ein Fehlverhalten des Piloten konnte nicht festgestellt werden. Aus flugtechnischer Sicht ist am Flughafen St. Gallen/Altenrhein wegen der alpinen Lage eine härtere Landung sicherer als eine zu weiche.

2. Vorbringen und Anträge der Parteien:

Die Klägerin behauptet, bei der Landung einen Bandscheibenvorfall erlitten zu haben, und begehrt unter Berufung auf Art 17 Montrealer Übereinkommen (MÜ) Schadenersatz. Die „harte“ Landung sei ein Unfall im Sinn von Art 17 MÜ.

Die Beklagte wendet ein, die Landung sei im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs erfolgt. Es handle sich daher um ein typisches Ereignis während eines Fluges, nicht um einen Unfall im Sinn von Art 17 MÜ.

3. Bisheriges Verfahren:

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Haftung nach Art 17 MÜ setze einen Unfall voraus, der nur bei einer „außerordentlich harten Landung“ anzunehmen sei. Eine solche sei hier nicht vorgelegen. Typische Ereignisse einer Luftbeförderung, zu denen auch eine harte Landung oder ein starkes Abbremsen gehörten, rechtfertigten die Haftung nicht, weil der Fluggast (gemeint offenbar: ein typischer Fluggast) solche Ereignisse kenne und mit ihnen rechne.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Zwar könne ausnahmsweise auch eine harte Landung ein Unfall im Sinn von Art 17 MÜ sein. Das setze aber voraus, dass die vom Hersteller vorgegebenen Grenzwerte für die Belastung des Fahrwerks und der tragenden Teile deutlich überschritten würden. Eine – wie hier – betriebsübliche Landung schließe die Annahme eines Unfalls aus.

Der Oberste Gerichtshof hat über eine Revision der Klägerin gegen dieses Urteil zu entscheiden. Sie steht weiterhin auf dem Standpunkt, dass ein Unfall vorlag, der die Haftung der Beklagten begründe. Trifft das zu, hätte der Oberste Gerichtshof die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben. Das Erstgericht müsste in diesem Fall Feststellungen zur Frage treffen, ob der Bandscheibenvorfall der Klägerin tatsächlich durch die Landung verursacht wurde. Diese Frage wurde bisher nicht geprüft, weil die Vorinstanzen die Haftung der Beklagten schon wegen des Nichtvorliegens eines Unfalls verneinten.

Rechtliche Beurteilung

4. Rechtsgrundlagen:

4.1. Die Haftung der Beklagten ist nach dem Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen, MÜ) zu beurteilen. Die Anwendbarkeit dieses Übereinkommens ergibt sich daraus, dass der Abgangs- und der Bestimmungsort des Fluges in verschiedenen Vertragsstaaten lagen (Österreich, Schweiz), sodass eine internationale Beförderung iSv Art 1 MÜ vorliegt.

4.2. Das Montrealer Übereinkommen wurde am von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom in ihrem Namen genehmigt. Es ist (daher) integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung, weswegen der Europäische Gerichtshof berufen ist, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden (EuGH Rs C-6/14, Wucher Helicopter GmbH).

4.3. Strittig ist die Auslegung von Art 17 Abs 1 MÜ:

Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.

Nach dieser Bestimmung haftet der Beförderer bis zur Haftungshöchstgrenze nach Art 21 Abs 1 MÜ – die vom vorliegenden Klagebegehren nicht erreicht wird – ohne Rücksicht auf sein Verschulden, wobei er seiner Haftung nur noch einen Mitverschuldenseinwand nach Art 20 MÜ entgegenhalten kann. Art 17 MÜ entspricht im Kern Art 17 des Warschauer Abkommens zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, sodass die zu dieser Bestimmung ergangene Rechtsprechung weiterhin für die Auslegung herangezogen werden kann.

:

5.1. Haftungsvoraussetzung nach Art 17 Abs 1 MÜ ist ein durch einen „Unfall“ hervorgerufener Personenschaden (Tod oder Körperverletzung); das Unfallereignis muss conditio sine qua non für den Schaden sein. Entscheidend ist daher das Vorliegen eines „Unfalls“. Dieser Begriff wird im Übereinkommen nicht definiert. Fraglich ist, ob er eine „harte“ Landung erfasst, die aber (noch) im „betriebsüblichen Bereich“ erfolgt. Das bedeutet, dass die Belastung des Fahrwerks und der tragenden Teile unter jenen Grenzwerten bleibt, bei deren Überschreiten nach den Vorgaben des Herstellers eine technische Überprüfung des Flugzeugs erforderlich wird. Als „hart“ versteht der Senat in diesem Zusammenhang eine Landung, die – anders als im Fall einer „weichen“ Landung – nicht weitgehend vom Fahrwerk des Flugzeugs abgefangen wird und für den Fluggast deutlich spürbar ist.

5.2. Der Europäische Gerichtshof hat in der Entscheidung C-532/18, GN, Rz 34, festgehalten, dass für den Begriff des „Unfalls“ dessen „gewöhnliche Bedeutung“ heranzuziehen sei. Es handle sich dabei um ein „unvorhergesehenes, unbeabsichtigtes, schädigendes Ereignis“ („un évènement involontaire dommageable imprévu“). Diese Formulierung scheint darauf hinzudeuten, dass es auf das Vorhersehen des Ereignisses durch den Fluggast ankommt („imprévu“, nicht „imprévisible“). Ähnlich wie der EuGH formuliert der US-amerikanische Supreme Court. Er versteht unter „Unfall“ ein „unexpected or unusual event or happening that is external to the passenger“, also ein von außen kommendes unerwartetes ungewöhnliches Ereignis oder Geschehen (Air France v. Saks [1986], https://supreme.justia.com/cases/federal/us/470/392/). Zumindest nach diesem Wortlaut („oder“) reicht es aus, dass das Ereignis unerwartet war, es musste nicht zusätzlich auch noch ungewöhnlich sein. Wohl in die gleiche Richtung weisen Entscheidungen des deutschen Bundesgerichtshofs, die (allein) auf die „Plötzlichkeit“ des Ereignisses abstellen (zuletzt etwa X ZR 30/15 NJW 2018, 861; ebenso OGH 2 Ob 79/18h [Vorlagebeschluss zu C-532/18]).

Diese Formulierungen könnten dahin verstanden werden, dass es nicht auf die objektive Unvorhersehbarkeit oder Ungewöhnlichkeit des schädigenden Ereignisses ankommt, sondern allein darauf, dass dieses Ereignis von kam, auftrat und der Fluggast (vgl Lord Scott in House of Lords, Deep Vein Thrombosis and Air Travel Group Litigation [2005] UKHL 72, Rz 14: „It is important to bear in mind that the 'unintended and unexpected' quality of the happening in question must mean 'unintended and unexpected' from the viewpoint of the victim of the accident. It cannot be to the point that the happening was not unintended or unexpected by the perpetrator of it or by the person sought to be made responsible for its consequences. It is the injured passenger who must suffer the 'accident' and it is from his perspective that the quality of the happening must be considered.“).

Kein Unfall läge bei dieser (weiten) Auslegung daher nur dann vor, wenn der Schaden durch den des Flugzeugs verursacht wurde, dass es zu einem plötzlichen und für den Fluggast überraschenden Ereignis kam. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der gewöhnliche Kabinendruck zu Schäden führt (Air France v. Saks: Verlust des Gehörs; Deep Vein Thrombosis and Air Travel Group Litigation: Thrombose). Hingegen könnten auch leichte oder mittlere Turbulenzen – die als solche weder ungewöhnlich noch unvorhersehbar sind – bei dadurch verursachten Schäden als Unfall qualifiziert werden (vgl US Court of Appeals, Second Circuit, Magan v. Lufthansa German Airlines [2003],https://casetext.com/case/magan-v-lufthansa-german-airlines). Gleiches müsste wohl auch für eine harte Landung gelten, die – wie hier – zwar (gerade noch) im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs liegt, die aber plötzlich und unerwartet erfolgt und (nach den noch zu prüfenden Behauptungen der Klägerin) zu einer Verletzung am Körper führt.

5.3. Demgegenüber wird vor allem in der französischen Rechtsprechung auf die des Ereignisses abgestellt (Cour de cassation, Arrêt 11 vom , ECLI:FR:CCASS:2014:C-100011: „évènement extérieur, soudain et imprévisible“). Es müsste sich daher nicht nur um ein von außen kommendes („extérieur“), plötzliches („soudain“) und aus Sicht des Fluggasts unerwartetes, sondern auch um ein („imprévisible“), also ein Ereignis handeln. Damit wären Schäden nicht zu ersetzen, die durch Ereignisse eintreten, die zum normalen und vorhersehbaren Betrieb des Flugzeugs gehören (in diesem Sinn wohl GA Saugmandsgaard, Rs C532/18, Rn 44, der allerdings auch die amerikanische und deutsche Rechtsprechung in diesem Sinn auslegt).

Ähnliches wird auch im deutschsprachigen Schrifttum vertreten: Typische, betriebsbedingte und akzeptierte Ereignisse könnten die Haftung nicht begründen (Schmidt in Giemulla/Schmid, Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht, Art 17 MÜ Rn 21; anders allerdings Reuschle, Montrealer Übereinkommen2 Art 17 Rn 14). Eine harte Landung sei daher nur dann als Unfall einzustufen, wenn die vom Hersteller vorgegebenen Grenzwerte für die Belastung von Fahrwerk und tragenden Teilen deutlich überschritten würden (Schmid aaO Rn 23).

In diesem Sinn entschieden der District Court for the Southern District of New York (Salce v. Aer Lingus Airlines, zitiert in Margo, Recent Developments in Aviation Case Law, Journal of Air Law and Commerce 52 [1986] 117 [147]) und das Landgericht Düsseldorf (22 S 240/07, https://openjur.de/u/125851.html), dass die Fluggesellschaft bei einer „Routinelandung“ (District Court) bzw einer Landung „noch im Rahmen des Normalen“ (Landgericht) nicht hafte.

5.4. Der letztgenannten Auffassung liegt offenkundig die Wertung zugrunde, dass Ereignisse, die (noch) zum eines Flugzeugs gehören, nicht zu einer Körperverletzung führen, und zwar auch dann nicht, wenn sie plötzlich und unerwartet eintreten. Das gilt insbesondere für „harte“ Landungen (vgl Truitt, Plain Talk about Plane Claims: An Air Carrier Claims Examiner‘s Handbook, Journal of Air Law and Commerce 80 [2015] 449 [463]: „... airplanes are not as strong as people – meaning that if a hard landing did not hurt the airplane, it would not have been capable of harming occupants.“). Kommt es dennoch zu einer Verletzung, so wird regelmäßig eine besondere Disposition des Fluggasts vorliegen, die als weitere Schadensursache zum Ereignis hinzutritt. Diese Disposition fiele dann nicht in den Risikobereich der Fluggesellschaft (in diesem Sinn allgemein GA Saugmandsgaard, Rs C-532/18, Rn 44).

6. Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs ist diese Auffassung grundsätzlich vorzuziehen. Zwar führt sie dazu, dass die vom Flugzeughersteller vorgegebenen Grenzwerte mittelbar die Auslegung des Begriffs „Unfall“ bestimmen. Sie bewirkt allerdings einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Fluggasts und der Fluglinie, verhindert eine Uferlosigkeit der Haftung (vgl C532/18, Rn 37) und hat zudem gerade durch das Anknüpfen an konkreten Grenzwerten den Vorteil der Einfachheit für sich. Allerdings liegt aus den dargestellten Gründen kein acte clair vor. Daher ist der Oberste Gerichtshof als letztinstanzliches Gericht zur Vorlage verpflichtet.

II. Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Verfahren über die Revision zu unterbrechen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00138.19M.0130.000

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Fundstelle(n):
UAAAD-48196