OGH vom 24.04.2020, 7Ob204/19d
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E***** K*****, vertreten durch Dr. Sven Rudolf Thorstensen, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei S***** I***** SE, *****, vertreten durch DLA Piper WeissTessbach Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 11.503,79 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom , GZ 3 R 87/19i-17, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Graz-Ost vom , GZ 256 C 133/18z-13, aufgehoben wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst dahin zu Recht erkannt, dass das klageabweisende Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei jeweils binnen 14 Tagen die mit 1.194,72 EUR (darin 199,12 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 2.289,06 EUR (darin 143,01 EUR USt und 1.431 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die E***** S***** GmbH (folgend nur: ES) sowie ein Kooperationspartner haben mit der Beklagten eine Versicherungs-Rahmenvereinbarung zur Vermögensschadenhaftpflicht für Wertpapiervermittler und Vermögensberater der Kooperationspartner abgeschlossen, welche auszugsweise wie folgt lautete:
„[…]
1. Versicherungsnehmer
1.1 Versicherungsnehmer sind die einzelnen zu dieser Rahmenvereinbarung angemeldeten Vermittler. …
[…
2. Inhalt und Umfang
2.1 Der Versicherungsschutz umfasst im Rahmen der behördlichen Genehmigungen alle Tätigkeiten und Eigenschaften des Versicherungsnehmers/Versicherten je nach Anmeldung
a) als Wertpapiervermittler
b) als gewerblicher Vermögensberater
[…
3. Vertragsgrundlagen
3.1 Analoge Anwendungen der Allgemeinen Bedingungen für die Berufshaftpflichtversicherung (C_ABHV, C_EBHV neue Fassung Vermögensberater 2012 Beilage), sowie nachstehende besondere Vereinbarungen
[...
12 Schadenmeldung durch den Versicherungsnehmer
In Abänderung bzw. Ergänzung des Art. Punkt 9.1.4.1 und 1.4.2 gilt vereinbart, dass eine Meldung an de
[…]“
Die in der Versicherungs-Rahmenvereinbarung bezeichneten (richtig:) „Consultor Allgemeine und Ergänzende Allgemeine Bedingungen für die Berufshaftpflichtversicherung für die Bereiche, Recht, Wirtschaft und Immobilien (C_ABHV,EBHV) lauten auszugsweise:
„Artikel 1
Versichertes Risiko; […]
1. Inhalt und Umfang
Das versicherte Risiko ergibt sich aus der in der Polizze festgelegten Risikobeschreibung und umfasst alle Eigenschaften, Rechtsverhältnisse und Tätigkeiten, zu denen der Versicherungsnehmer aufgrund der für seinen Beruf oder Betrieb geltenden Rechtsnormen berechtigt ist.
[…]
Artikel 2
Versicherungsfall
1. Definition
Versicherungsfall ist der Verstoß (Handlung oder Unterlassung), welcher aus dem versicherten Risiko entspringt und aus welchem dem Versicherungsnehmer Schadenersatzpflichten (Art. 3. Pkt. 1) erwachsen oder erwachsen könnten.
2. Serienschaden
[…]
2.4 Ferner gelten als ein Versicherungsfall Verstöße, die auf gleichartigen, in zeitlichem Zusammenhang stehenden Ursachen beruhen, wenn zwischen diesen Ursachen ein rechtlicher, wirtschaftlicher oder technischer Zusammenhang besteht.
[…]
Artikel 3
Leistungsversprechen des Versicherers
1. Leistungsversprechen
Im Versicherungsfall übernimmt der Versicherer
1.1 die Erfüllung von Schadenersatzpflichten […]
[…]
Artikel 9
Verhalten des Versicherungsnehmers während der Laufzeit des Vertrages
1 Obliegenheiten
Als Obliegenheiten deren Verletzung die Leistungsfreiheit des Versicherungsnehmers gemäß § 6 VersVG bewirkt, werden bestimmt
[…]
1.4 Der Versicherungsnehmer hat den Versicherer umfassend und unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche ab Kenntnis zu informieren, und zwar schriftlich, falls erforderlich auch fernmündlich oder fernschriftlich.
Insbesondere sind anzuzeigen:
1.4.1 der Versicherungsfall
1.4.2 die Geltendmachung einer Schadenersatzforderung
…
1.4.4 alle Maßnahmen Dritter zur gerichtlichen Durchsetzung von Schadenersatzforderungen
[…]
1.5.3 Der Versicherungsnehmer ist nicht berechtigt ohne vorherige Zustimmung des Versicherers einen Schadenersatzanspruch ganz oder zum Teil anzuerkennen – es sei denn, der Versicherungsnehmer konnte die Anerkennung nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern – oder zu vergleichen.
[…]“
Die Beklagtenvertreter teilten Rechtsvertretern der ES mit Schreiben vom unter dem Betreff „Ablehnung der Deckung“ (ua) mit dass:
„[…] im gegenständlichen Schadensfall (gemeint: [den nicht den Kläger betreffenden] H*****-Schadenskomplex [und mit der die direkten Vereinbarungen mit den ES betreffenden Argumenten]) kein Versicherungsschutz besteht. […]“
Auf der zweiten Seite des Schreibens fasst der Vertreter der Beklagten zusammen:
„[…] bestehen keine Deckungsansprüche Ihrer Mandantin (gemeint: ES) aus der bei unserer Mandantin unterhaltenen Vermögensschadenhaftpflicht-Polizze. Dies gilt freilich nicht nur für den H*****-Schadenskomplex, sondern auch für die gegen Ihre Mandantin erhobenen Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit der Vermittlung von Beteiligungen an S*****-Fonds sowie der Vermittlung der [auch den Kläger betreffenden] Produkte des E***** e.V.
Ungeachtet dessen dürften zudem, etwa was die Produkte des E***** e.V. angeht, auch weitere Deckungseinwendungen bestehen, nämlich etwa der Ausschluss für Vorsatz gemäß Art 8 Z 2.1 der Versicherungsbedingungen. Darauf kommt es wegen des Vorstehenden jedoch […] nicht weiter an. Weitere haftungs- und deckungsrechtliche Rechte, Einreden und Einwände – aufgrund des vorstehenden Sachverhalts – bleiben aber ausdrücklich vorbehalten.
[…]“
Der Kläger machte aufgrund behaupteter Fehlberatung eines der ES zuzurechnenden Vermögensberaters Schadenersatzansprüche aus Edelmetallkaufverträgen in der Insolvenz der ES geltend. Der Insolvenzverwalter übermittelt mit Schreiben vom der Beklagten das Anmeldungsverzeichnis. Dieses Schreiben lautete auszugsweise:
„[…]
Bei der Produktgruppe 'E*****' geht die Insolvenzverwaltung davon aus, dass ein tatsächlicher Schaden des Anlegers kausal und adäquat dadurch begründet wurde, dass strafrechtlich relevant die eingezahlten Beträge nicht widmungsgemäß verwendet wurden. Zurzeit liegen keine Informationen vor, wonach die Schuldnerin Kenntnis davon hatte bzw. haben musste. Da die Kausalität, und insbesondere der Adäquanzzusammenhang für den Schaden fehlen, werden die darauf begründeten Forderungen zu bestreiten sein.
[…]
Ich weise darauf hin, dass ich diese Prüfungserklärungen […] abzugeben habe und Ihre Zustimmung zu dieser Vorgangsweise annehme, wenn ich nicht zuvor eine gegenteilige Information ihres Unternehmens schriftlich erhalte.
[…].“
Die Beklagtenvertreter antworteten dem Insolvenzverwalter mit Schreiben vom (ua) wie folgt:
„[…]
In Ihrem Schreiben teilen Sie mit, […]
Die aufgrund der Vermittlung von E*****Produkten erhobenen Ansprüche sollen bestritten werden. […]
Hierzu teilen wir Ihnen mit, dass wir mangels Sachverhaltskenntnis nicht in der Lage sind, Ihre Ausführungen zur Begründetheit der o.g. Schadenersatzansprüche zu überprüfen. Unsere Mandantin wird deshalb der Anerkennung dieser Ansprüche nicht zustimmen.
Im Übrigen erhält unsere Mandantin die bereits […] mitgeteilten Einwendungen gegen das Bestehen des Versicherungsschutzes ausdrücklich aufrecht.
[…]“
Der Kläger brachte am Schadenersatzklage gegen die ES ein. Nach dem Ausscheiden (ua) der Forderung des Klägers aus dem Insolvenzverfahren erwirkt dieser gegen die ES das Versäumungsurteil vom mit dem diese zur Zahlung von 9.139,41 EUR sA verpflichtet wurde und zwar Zug um Zug gegen die Übertragung der Rechte und Pflichten des Klägers aus den von ihm abgeschlossenen Edelmetallverträgen bei sonstiger Exekution in den Deckungsanspruch gegen die Beklagte. Aufgrund dieses Urteils erhielt der Kläger die Forderungsexekution bewilligt und die Beklagte bestritt in ihrer Drittschuldnererklärung ihre Deckungspflicht.
Die ES informierte die Beklagte weder über die Klageerhebung durch den Kläger noch über das ergangene Versäumungsurteil und es erfolgte auch keine Streitverkündung. Mit Ausnahme des Anmeldungsverzeichnisses wurden der Beklagten auch keine sonstigen, den Kläger und die von ihm erhobene Forderung betreffenden Unterlagen oder Informationen zur Kenntnis gebracht.
Im Verlauf des Jahres 2017 ergingen im Zusammenhang mit damals bereits anhängigen Verfahren, von denen die Beklagte Kenntnis hatte, wiederholt E-Mails der Beklagtenvertreter an für die ES tätige Berater, in welchen diese um Übermittlung vollständiger Kopien sämtlicher Schriftsätze in den bekannten Verfahren gebeten und überdies ersucht wurden, die Beklagte „[…] über alle etwaigen Weiterungen oder sonstigen Schritte in den Verfahren zu unterrichten. [...]“. Unter einem wurde mitgeteilt, dass ein Beitritt der Berater zu diesen Verfahren zum jetzigen Zeitpunkt nicht geboten erscheine.
Der Kläger begehrte von der Beklagten die Zahlung von 11.503,79 EUR sA Zug um Zug gegen Übertragung seiner Rechte und Pflichten aus näher bezeichneten Edelmetallkaufverträgen. Er brachte – soweit für das Rekursverfahren relevant – vor, dass die Beklagte immer Deckung abgelehnt und nie Bereitschaft gezeigt habe, sich an den gegen die ES geführten Verfahren zu beteiligen.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wandte – soweit für das Rekursverfahren relevant – ein, dass sie mangels Streitverkündung an das Ergebnis des Haftpflichtprozesses nicht gebunden und leistungsfrei sei, weil ihre Versicherungsnehmerin ES mehrere Obliegenheitsverletzungen zu vertreten haben. ES habe ihre Aufklärungsobliegenheiten mehrfach verletzt, insbesondere die Beklagte nicht über den Versicherungsfall und die Geltendmachung der Schadenersatzforderung durch den Kläger informiert, sondern dazu keinerlei Informationen oder Unterlagen zur Verfügung gestellt. Außerdem habe ES ein Versäumungsurteil ergehen lassen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es ging vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt aus und traf noch die Negativfeststellung, es stehe nicht fest, dass die Beklagte, wäre sie über die Klage des Klägers informiert worden bzw wären ihr konkrete Unterlagen betreffend seine Forderungen und die entsprechenden Vertragsabschlüsse zur Verfügung gestellt worden, dem Haftpflichtprozess nicht beigetreten wäre. Rechtlich war das Erstgericht der Ansicht, ES habe ihren Aufklärungspflichten betreffend die vom Kläger erhobene Forderung nicht entsprochen, weshalb die Beklagte leistungsfrei sei. Die generelle Ablehnung der Deckung hinsichtlich des eigenen Vertrags der ES habe diese nicht davon befreit, die Beklagte über konkrete einzelne Schadensfälle zu informieren. Insbesondere habe sich aus den E-Mails an die einzelnen Vermittler ergeben, dass ein Interesse der Beklagten an weiteren Informationen bestanden habe. Überdies dienten die Aufklärungsobliegenheiten auch dazu, den Versicherer in die Lage zu versetzen, sich ein Bild vom konkreten Schadensumfang zu machen, was ohne weitere Verständigung von einzelnen Schadensfällen nicht möglich gewesen sei. Es sei somit von einer Obliegenheitsverletzung auszugehen. Der Kläger habe weder behauptet noch nachgewiesen, dass diese Obliegenheitsverletzung nur leicht fahrlässig erfolgt sei, noch wurde ein hinreichend bestimmtes auf den konkreten Schadensfall des Klägers bezogenes Vorbringen zum Kausalitätsgegenbeweis erstattet.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers dahin Folge, dass es das Urteil des Erstgerichts aufhob und diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auftrug. Es vertrat die Rechtsansicht, der in der Korrespondenz der Beklagten vermittelte Standpunkt sei dahin zu verstehen gewesen, dass diese (ua) betreffend die Produkte des E***** e.V. generell und ohne Einschränkung Deckung ablehne. Bei dieser Sachlage sei ES nach Treu und Glauben nicht mehr verpflichtet gewesen, ihren Aufklärungsobliegenheiten zu entsprechen, habe doch die Beklagte nicht zu erkennen gegeben, trotz der Deckungsablehnung noch auf die Erfüllung gewisser Obliegenheiten zu reflektieren. Der vom Erstgericht angenommene Abweisungsgrund trage nicht und damit sei auch die – bekämpfte – Negativfeststellung über einen allfälligen Streitbeitritt der Beklagten nicht entscheidungswesentlich.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs zulässig sei. Die Frage, ob der Versicherer im Zuge einer Deckungsablehnung dem Versicherungsnehmer sein Interesse an fortlaufender Information über neue Schadensfälle und Haftpflichtprozesse unmissverständlich zum Ausdruck bringen müsse, sei noch nicht durch höchstgerichtliche Rechtsprechung geklärt. Dieser Beurteilung komme angesichts zahlreicher gleichartiger Verfahren über den Einzelfall hinausgehende, erhebliche Bedeutung zu.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil vollinhaltlich zu bestätigen.
Der Kläger erstattete eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Rekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist auch berechtigt.
1. Vorauszuschicken ist, dass – außerhalb von hier nicht in Betracht kommenden, gesetzlichen Sonderregelungen – zwischen dem geschädigten Dritten (hier: Kläger) und dem Versicherer keine Rechtsbeziehungen bestehen. Der Dritte hat deshalb keinen unmittelbaren gesetzlichen Anspruch und kein Klagerecht gegen den Versicherer (vgl RS0032712). Der Geschädigte muss deshalb zur Durchsetzung des Deckungsanspruchs des Versicherungsnehmers diesen Anspruch pfänden und sich überweisen lassen, um gegen den Versicherer vorgehen zu können. Dies ist hier geschehen. Im Rechtsstreit des Geschädigten gegen den Versicherer stehen diesem dann alle Einwendungen wie gegen den Versicherungsnehmer offen, vor allem jene der Leistungsfreiheit (7 Ob 65/78 mwN; 7 Ob 125/98b). Das vom Kläger gegen die Versicherungsnehmerin ES erwirkte Versäumungsurteil hat mangels Aufforderung zum Streitbeitritt keine Bindungswirkung zum Nachteil der Beklagten (vgl 7 Ob 319/01i) und führte nicht zu einem Verlust von Einwendungen, die der Beklagten gegen ihren Versicherungsnehmer zustehen (vgl RS0035598).
2. § 6 Abs 3 VersVG bestimmt:
Ist die Leistungsfreiheit für den Fall vereinbart, dass eine Obliegenheit verletzt wird, die nach dem Eintritt des Versicherungsfalls dem Versicherer gegenüber zu erfüllen ist, so tritt die vereinbarte Rechtsfolge nicht ein, wenn die Verletzung weder auf Vorsatz noch auf grober Fahrlässigkeit beruht. Wird die Obliegenheit nicht mit dem Vorsatz verletzt, die Leistungspflicht des Versicherers zu beeinflussen oder die Feststellung solcher Umstände zu beeinträchtigen, die erkennbar für die Leistungspflicht des Versicherers bedeutsam sind, so bleibt der Versicherer zur Leistung verpflichtet, soweit die Verletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung Einfluss gehabt hat.
3. Die Versicherungsnehmerin ES war nach dem Eintritt des Versicherungsfalls zufolge Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV,EBHV in Verbindung mit Punkt 12 der Versicherungs-Rahmenvereinbarung zur Anzeige und Schadensmeldung verpflichtet. Nach Art 9.1.5.3 C_ABHV,EBHV war ES nicht berechtigt ohne vorherige Zustimmung des Versicherers einen Schadenersatzanspruch ganz oder zum Teil anzuerkennen – es sei denn, der Versicherungsnehmer konnte die Anerkennung nicht ohne offenbare Unbilligkeit verweigern – oder zu vergleichen.
4.1. Der Versicherer braucht nur den objektiven Tatbestand einer Obliegenheitsverletzung nachzuweisen, während es Sache des Versicherungsnehmers ist, zu behaupten und zu beweisen, dass er die ihm angelastete Obliegenheitsverletzung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig begangen habe (RS0081313).
4.2. Dass – bei grob fahrlässiger Begehung einer Obliegenheitsverletzung – die Verletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung und den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung einen Einfluss gehabt hat (Kausalitätsgegenbeweis; RS0116979), ist ebenfalls vom Versicherungsnehmer im Verfahren erster Instanz zu behaupten und zu beweisen (RS0081313). Der Kausalitätsgegenbeweis ist strikt zu führen; es ist nicht etwa nur die Unwahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs darzutun (RS0079993).
4.3. Nur wenn der Versicherungsnehmer eine Obliegenheit mit dem Vorsatz verletzt, die Beweislage nach dem Versicherungsfall zu Lasten des Versicherers zu manipulieren (sogenannter „dolus coloratus“), ist der Kausalitätsgegenbeweis ausgeschlossen und der Anspruch verwirkt (RS0081253 [T10]; RS0109766 [T2]).
5. Die Beklagte hat bewiesen, dass E&S ihren Anzeigeobliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV,EBHV in Verbindung mit Punkt 12 der Versicherungs-Rahmenvereinbarung (objektiv) nicht entsprochen und (objektiv) gegen das Regulierungsverbot nach Art 9.1.5.3 C_ABHV,EBHV verstoßen hat.
6.1. Zunächst gilt betreffend das Regulierungsverbot (hier: nach Art 9.1.5.3 C_ABHV,EBHV): Lehnt der Versicherer zu Unrecht den Versicherungsschutz ab, so begeht der Versicherungsnehmer keine Obliegenheitsverletzung, wenn er ohne Mitwirkung des Versicherers die Haftpflichtforderung durch Urteil (auch Versäumungsurteil) feststellen lässt oder durch Vergleich oder Anerkenntnis an der Feststellung mitwirkt (RS0080453). Der Versicherer wird dann nur bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Schadenregulierung zu Lasten des Versicherers leistungsfrei (7 Ob 84/08s).
6.2. Die Leistungsfreiheit lässt sich nicht abschließend beurteilen. Der Kläger hat nämlich vor dem Erstgericht behauptet, dass „die Erwirkung des VU“ aus näher bezeichneten Gründen „nicht grobfahrlässig“ gewesen sei und das Erstgericht hat dazu keine Feststellungen getroffen. Die Rechtsfolge der objektiven Verletzungen der Obliegenheit nach Art 9.1.5.3 C_ABHV,EBHV muss daher auf Grundlage des vorliegenden Sachverhalts offen bleiben.
7. Dagegen hat der Kläger betreffend die Anzeigeobliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV,EBHV in Verbindung mit Punkt 12 der Versicherungs-Rahmenvereinbarung – wie bereits vom Erstgericht zutreffend erkannt – im Verfahren erster Instanz keine konkrete Behauptung dahin aufgestellt, dass ES die Verletzung dieser Obliegenheiten weder vorsätzlich noch grob fahrlässig begangen habe. Daraus folgt, dass die Verletzung dieser Obliegenheiten dann nicht zur Leistungsfreiheit der Beklagten führt, wenn – wie vom Berufungsgericht angenommen – die Beklagte infolge Deckungsablehnung auf Informationen, namentlich zu einzelnen Schadensfällen, (schlüssig) verzichtet hat. Überdies ist in diesem Kontext zu klären, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass das Berufungsgericht die Beweisrüge betreffend die Negativfeststellung zu einem Streitbeitritt der Beklagten im Fall ihrer Verständigung über den vom Kläger gegen ES eingeleiteten Rechtsstreit unerledigt gelassen hat:
8.1. Obliegenheiten nach dem Versicherungsfall dienen dem Zweck, den Versicherer vor vermeidbaren Belastungen sowie ungerechtfertigten Ansprüchen (RS0116978) und vor betrügerischen Machenschaften zu schützen (RS0080833). Durch die Aufklärung soll der Versicherer in die Lage versetzt werden, sachgemäße Entscheidungen über die Behandlung des Versicherungsfalls zu treffen (vgl RS0080203). Es genügt, dass die begehrte Information abstrakt zur Aufklärung des Schadenereignisses geeignet ist (vgl RS0080783; RS0080833; RS0080205 [T1, T 2]).
8.2. Zur Obliegenheit der Verständigung des Versicherers von der gerichtlichen Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs hat der Fachsenat allerdings judiziert, dass diese mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruchs durch den Versicherer ende, weil sich das der Vereinbarung zugrundeliegende Ziel, die Leistung des Versicherers zu ermöglichen oder zu erleichtern, danach nicht mehr erreichen lasse (RS0080446). Anders sei dies jedoch dann, wenn der Versicherer zu erkennen gebe, er lege trotz der Ablehnung noch Wert auf Erfüllung der Obliegenheiten, und dies zumutbar erscheine (7 Ob 319/01i).
9.1. Das Schreiben der Beklagtenvertreter vom an die Rechtsvertreter der ES befasste sich hauptsächlich mit dem H*****-Schadenskomplex, vermittelte ausschließlich den Rechtsstandpunkt der Beklagten zu den unmittelbar mit ES getroffenen vertraglichen Regelungen und hatte Argumente zum Gegenstand, die das (vorvertragliche) Verhalten von ES im Zusammenhang mit der Rahmenvereinbarung betrafen. Das Schreiben bezog sich dagegen mit keinem Wort auf Ansprüche einzelner, vermeintlich geschädigter Kunden von ES bzw den ihr zuzurechnenden Beratern. Dieses Schreiben kann daher auch keinen Anhaltspunkt dafür liefern, dass die Beklagte auf Informationen über die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen durch einzelne Geschädigte verzichten und damit die Möglichkeit deren Abwehr aus Gründen aufgeben wolle, die sich aus der Rechtsbeziehung zwischen diesen und ES bzw deren Berater ergeben könnten. Überdies waren diese Informationen nicht zuletzt im Lichte der vereinbarten Serienschadenklausel für die verlässliche Beurteilung des Deckungsumfangs relevant.
9.2. Auf das Begleitschreiben des Insolvenzverwalters zum übermittelten Anmeldungsverzeichnis wies die Beklagte zwar auf ihre generelle Ablehnung der Ansprüche hin, legte aber auch dar, dass sie mangels Sachverhaltskenntnis nicht in der Lage sei, die Ausführungen des Insolvenzverwalters zur Begründetheit der Schadenersatzansprüche zu überprüfen und sie deren Anerkennung nicht zustimme. Dass die Beklagte an Informationen kein Interesse (mehr) habe, kommt damit nicht zum Ausdruck.
9.3. ES war nach Punkt 12 der Versicherungs-Rahmenvereinbarung verpflichtet, eine Schadensmeldung an die Beklagte auch im Fall des Eingangs einer Forderung bei einem Versicherten (Berater) vorzunehmen. Zu den im Verlauf des Jahres 2017 tatsächlich mitgeteilten Verfahren hat die Beklagte wiederholt E-Mails an für die ES tätige Berater (Versicherten) versandt, in welchen diese um Übermittlung vollständiger Kopien sämtlicher Schriftsätze in den bekannten Verfahren gebeten und überdies ersucht wurden, die Beklagte über alle etwaigen Weiterungen oder sonstigen Schritte in den Verfahren zu unterrichten.
9.4. Im Zusammenhang zeigt sich also, dass der von der Beklagten im Schreiben vom (untechnisch) im Betreff als „Deckungsablehnung“ bezeichnete Rechtsstandpunkt eine Antwort war auf die Gesamtbeschreibung mehrerer Schadenskomplexe und ausschließlich Argumente betraf, die sich auf das Verhalten von ES im Vorfeld des Abschlusses der Versicherungs-Rahmenvereinbarung bezogen. Im Schreiben erfolgte keine Deckungsablehnung hinsichlich eines einzelnen Schadensfalls und es liegt – nicht zuletzt aufgrund der Serienschadenklausel – auf der Hand, dass laufende Informationen über alle andrängenden Geschädigten für eine sachgemäße Entscheidung der Beklagten über die Behandlung dieser Versicherungsfälle von maßgeblicher Bedeutung war, zumal sie diese auch im Schreiben an den Masseverwalter ausdrücklich forderte. Bei dieser Sachlage kommt die Annahme eines (schlüssigen) Verzichts der Beklagten auf weitere Informationen über einzelne Schadensfälle nicht in Frage. Es liegt daher eine von ES zu vertretende Verletzung ihrer Anzeigeobliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV,EBHV vor, die grundsätzlich zur Leistungsfreiheit der Beklagten führen muss.
10.1. Das Erstgericht hat eine Negativfeststellung dahin getroffen, es stehe nicht fest, dass die Beklagte, wäre sie über die Klage des Klägers informiert worden bzw wären ihr konkrete Unterlagen betreffend seine Forderungen und die entsprechenden Vertragsabschlüsse zur Verfügung gestellt worden, dem Haftpflichtprozess nicht beigetreten wäre. Nach Ansicht des Klägers in der in seiner Berufung erhobenen Beweisrüge hätte das Erstgericht feststellen müssen, dass die Beklagte weder dem vom Kläger gegen ES eingeleiteten Verfahren beigetreten wäre noch eine Abwehrdeckung für die Klage gewährt hätte. Diese Beweisrüge hat das Berufungsgericht nicht erledigt. Eine abschließende Klärung dieser Tatfrage ist allerdings nicht erforderlich:
10.2. Die vom Kläger angestrebte positive Feststellung betrifft zwar den Kausalitätsgegenbeweis des Versicherungsnehmers im Sinn des § 6 Abs 3 Satz 2 VersVG, ist aber für dessen Erbringung allein schon inhaltlich nicht ausreichend. Es unterblieben nicht nur die Informationen zu den einzusehenden Forderungen, sondern auch die Verständigung von der Klagsführung. Die Verständigung des Versicherers von dem vom Kläger eingeleiteten Verfahren ermöglicht dem Versicherer zwar den Streitbeitritt, doch dieser ist nur eine Reaktionsmöglichkeit auf den vom Geschädigten behaupteten Versicherungsfall. Durch die Obliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV,EBHV soll der Versicherer – wie bereits ausgeführt (Punkt 8.1.) – insgesamt in die Lage versetzt werden, sachgemäße Entscheidungen über die Behandlung des Versicherungsfalls zu treffen, also alle sinnvollen, auch außergerichtlichen Maßnahmen, insbesondere der Information- und Beweismittelbeschaffung, wahrnehmen und die Sachlage allenfalls neu bewerten zu können. Mit der vom Kläger angestrebten Feststellung kann daher allein der strikt zu führende Kausalitätsgegenbeweis nicht erbracht werden.
11. Im Ergebnis folgt:
11.1. Die Versicherungsnehmerin ES hat ihre Obliegenheiten nach Art 9.1.4.1, 9.1.4.2 und 9.1.4.4 C_ABHV,EBHV in Verbindung mit Punkt 12 der Versicherungs-Rahmenvereinbarung verletzt. Der Kläger hat im Verfahren erster Instanz keine konkrete Behauptung dahin aufgestellt, dass ES die Verletzung dieser Obliegenheiten weder vorsätzlich noch grob fahrlässig begangen habe und er hat auch den Kausalitätsgegenbeweis nicht tauglich angetreten. Die Beklagte hat betreffend den vom Kläger geltend gemachten Anspruch keine Deckungsablehnung erklärt und ein (schlüssiger) Verzicht der Beklagten auf die Einhaltung der Informationspflichten liegt ebenfalls nicht vor. Dies führt zur Leistungsfreiheit der Beklagten und zur Wiederherstellung des klageabweisenden Urteils des Erstgerichts.
11.2. Die Kostenentscheidung gründet auf § 41 Abs 1 ZPO (iVm § 50 ZPO).
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00204.19D.0424.000 |
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