OGH vom 26.01.2022, 7Ob200/21v

OGH vom 26.01.2022, 7Ob200/21v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin A* A*, geboren am * 1934, *, vertreten durch den Verein VertretungsNetz-Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreter Mag. T* B*), *, dieser vertreten durch Dr. Katharina Bleckmann, Rechtsanwältin in Salzburg, Einrichtungsleiterin L* H*, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom , GZ 15 R 381/21m-18, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Freistadt vom , GZ 3 HA 1/21z-11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

[1] Der Verein begehrte mit Antrag vom , die Verabreichung von Leponex Tbl 25 mg als Dauermedikation sowie von Risperidon Tbl 1 mg und von Leponex Tbl 25 mg als Einzelfallmedikation bei Bedarf als unzulässige Freiheitsbeschränkungen zu erkennen.

[2] Das Erstgericht wies den Antrag ab. Die Verabreichung der Medikamente Leponex und Risperidon diene nicht primär der Dämpfung des Bewegungsdrangs oder zur Sedierung. Leponex werde zur Behandlung und als Therapie der schizoaffektiven Störung der Bewohnerin verabreicht, Risperidon diene zur Behandlung der Verhaltenssymptome der Grunderkrankungen in Form der mittelschweren bis schweren Demenzerkrankung bzw der schizoaffektiven Psychose.

[3] Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss.

[4] Dagegen wendet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[5] Der Überprüfungsantrag vom , bei Gericht eingelangt am selben Tag, richtet sich einerseits gegen die Dauermedikation Leponex Tbl 25 mg und andererseits gegen die Einzelfallmedikationen Risperidon Tbl 1 mg und Leponex Tbl 25 mg wobei sich die Einzelfallmedikationen auf – in der Antragserzählung – konkret angeführte Verabreichungen innerhalb des Zeitraums bis beziehen. Bei dem die genannten Einzelfallmedikationen betreffenden Überprüfungsantrag handelt es sich insoweit um einen solchen nach § 19a HeimAufG. Bei der nachträglichen Überprüfung einer Maßnahme nach § 19a HeimAufG steht dem Einrichtungsleiter nach §§ 19a, 11 Abs 3 HeimAufG iVm § 48 Abs 1 HeimAufG eine Revisionsrekursbeantwortung zu (7 Ob 59/20g; RS0131392).

[6] Die Einrichtungsleiterin hat sich am Revisionsrekursverfahren jedoch nicht beteiligt.

[7] Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, er ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1.1 Der Verein macht mit seinen Ausführungen, das rechtliches Gehör der Bewohnerin sei verletzt worden, weil das Erstgericht einerseits die Erstanhörung (§ 12 HeimAufG) verbunden mit der mündlichen Verhandlung (§ 14 HeimAufG) per Videokonferenz (Skype) durchgeführt und sich so keinen persönlichen Eindruck von der Bewohnerin verschafft habe und andererseits, weil die beigezogenen Sachverständigen nur Aktengutachten erstattet hätten, schwerwiegende Verfahrensverstöße nach § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG geltend. Die in § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG genannten Verfahrensvorschriften nach §§ 56, 57 Z 1 oder 58 AußStrG können auch dann in einem Revisionsrekursverfahren geltend gemacht werden, wenn sie vom Rekursgericht verneint oder im Rekurs nicht geltend gemacht wurden (7 Ob 59/21h; RS0121265).

[9] 1.2.1 Das Erstgericht hatte die Erstanhörung und mündliche Verhandlung für den anberaumt und sie nach Mitteilung des Auftretens mehrerer Coronafälle im Heim über Videokonferenz am organisiert, der die Bewohnerin beigezogen worden war.

[10] 1.2.2 Nach § 3 Abs 1 Z 2 1. COVID-19-Justiz-Begleitgesetz idF BGBl I Nr 106/2021 konnte das Gericht bis zum Ablauf des ohne Einverständnis der Parteien Anhörungen und mündliche Verhandlungen in Unterbringungs-, Heimaufenthalts- und Erwachsenenschutzsachen, die außerhalb der von der Justizverwaltung zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten durchzuführen wären, unter Verwendung geeigneter technischer Kommunikationsmittel zur Wort- und Bildübertragung durchführen, auf diese Weise Beweise in der mündlichen Verhandlung oder außerhalb dieser aufnehmen und sonst der Anhörung bzw Verhandlung beizuziehende Personen teilnehmen lassen, wenn andernfalls die Gesundheit einer am Verfahren beteiligten Person oder Dritter ernstlich gefährdet wäre.

[11] 1.2.3 Im Ausschussbericht 112 der Beilagen XXVII. GP 9 wird dazu festgehalten: Zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 sollen persönliche Kontakte zwischen Menschen auf das Notwendigste reduziert werden. Dies hat auch massive Auswirkungen auf den Gerichtsbetrieb. Gerade bei mündlichen Verhandlungen in der herkömmlichen Form kommt es zu einem Zusammentreffen von Menschen, die einander in den meisten Fällen sonst nicht begegnen würden. Somit stellt dies eine potenzielle Infektions- bzw Übertragungsgefahr dar, die tunlichst zu vermeiden ist. Mündliche Verhandlungen, aber auch Anhörungen sollen daher für den Zeitraum der generellen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 nur in Fällen abgehalten werden, in denen dies zur Aufrechterhaltung einer geordneten Rechtspflege unbedingt erforderlich ist. Hiefür soll die gleiche Abwägung wie für die Unterbrechung von Fristen (§ 1 Abs 3) gelten. Da ein persönliches Erscheinen von Parteien bei Gericht zum Zweck protokollarischen Anbringens ebenso vermeidbare Ansteckungsrisiken mit sich bringt, soll sich auch dieses auf das unbedingt erforderliche Ausmaß beschränken. Gleiches gilt für Vollzugshandlungen, die gleichermaßen ein Ansteckungs- und somit Verbreitungsrisiko darstellen. Sofern eine Anhörung oder eine mündliche Verhandlung unerlässlich ist, kann diese ohne das Erfordernis der persönlichen Anwesenheit aller Beteiligten unter Verwendung geeigneter technischer Kommunikationsmittel durchgeführt werden.

[12] 1.2.4 Die Vorgehensweise des Erstgerichts stellt im vorliegenden Fall keine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Bewohnerin dar. Vor dem Hintergrund des Auftretens von mehreren Coronaerkrankungen im Heim und der darüber hinaus erfolgten Information, dass gerade umfangreiche Testungen vorgenommen würden, deren Ergebnisse erst in den nächsten Tagen erwartet würden, bestand jedenfalls eine potenzielle Infektions- bzw Übertragungsgefahr für die am Verfahren beteiligten Personen. Eine Überprüfung des Genesungs- bzw Impfstatuses der Beteiligten war – entgegen der Ansicht des Vereins – nicht erforderlich.

[13] 1.3 In der Erstattung eines – wie hier den Parteien zugestellten – Aktengutachtens ohne vorherige Untersuchung der Bewohnerin durch den Sachverständigen liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs, sondern allenfalls ein Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens (vgl 7 Ob 68/19d).

[14] 2.1 Nach § 3 HeimAufG ist eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes gegeben, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmaßnahmen oder durch deren Anordnung unterbunden wird. In diesem Sinn liegt eine Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871).

[15] 2.2 Es kann nicht entscheidend sein, ob eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch physische Zwangsmittel wie Einsperren oder Festbinden des Bewohners oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezweckt. Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, dass der Bewohner nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern (RS0106974).

[16] 2.3 Die bloß ärztliche Anordnung eines eine Freiheitsbeschränkung herbeiführenden Medikaments unter bestimmten Voraussetzungen, ohne dessen tatsächliche Verabreichung (Bedarfs-Medikation) ist für sich allein noch keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG (vgl 7 Ob 87/19y mwN).

[17] 2.4 Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ist nur zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung therapeutischer Ziele ergeben können (RS0121227). Die abschließende Beurteilung, ob unter diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert nach der ständigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente, insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination, dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden oder werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RS0123875).

[18] 2.5 Ob die Dauermedikation und die Einzelfallmedikationen im Zeitraum bis nach den zuvor dargestellten Grundsätzen eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung darstellen, lässt sich anhand der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen, die sich auf die Anführung des therapeutischen Zwecks der Medikationen beschränken, nicht beurteilen.

[19] Im Zusammenhang mit der Dauermedikation Leponex steht weder die Häufigkeit der Verabreichung fest, noch welche konkreten Wirkungen für die Bewohnerin mit dem Einsatz des Medikaments verbunden sind. Zu den Einzelfallmedikationen Leponex und Risperidon fehlen jegliche Feststellungen zu ihrem konkreten Einsatz. Das Erstgericht wird hier Feststellungen zu den Zeitpunkten der Verabreichungen, den Umständen jeder (einzelnen) Einzelfallmedikation sowie dazu, ob sie ihrer Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden, zu treffen haben. Der Sachverhalt ist auch um Feststellungen zu den Wirkungen der jeweiligen Einzelfallmedikation und in Kombination mit der Dauermedikation zu ergänzen.

[20] 2.6 Schon aufgrund der umfangreich fehlenden Feststellungen ist eine Aufhebung der Beschlüsse und die Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht unumgänglich.

[21] 3. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht zu beachten haben:

[22] 3.1 Das Erstgericht unterließ – entgegen der Anordnung in § 14 Abs 3 HeimAufG – die Beiziehung der Sachverständigen zur Tagsatzung vom und nahm den Parteien die dort vorgesehene Gelegenheit, Fragen an die Sachverständigen zu stellen. Insoweit haftet dem erstgerichtlichen Verfahren ein Verfahrensmangel an.

[23] 3.2. Wie ausgeführt, könnte auch die Erstattung eines Aktengutachtens ohne vorherige Untersuchung des Bewohners durch den Sachverständigen – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – einen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens begründen.

[24] 3.3 Das Erstgericht wird den Parteien daher die Gelegenheit zur Erörterung der – im Hinblick auf die fehlenden Feststellungen wohl auch zu ergänzenden – Gutachten, insbesondere in Bezug auf die allfällige weitere Vorgehensweise der Sachverständigen, ein bloßes Aktengutachten zu erstatten, zu geben haben.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00200.21V.0126.000

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