OGH vom 15.12.2010, 1Ob204/10x
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden und die Hofräte Univ. Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Dr. E. Solé und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ronald H*****, vertreten durch Dr. Helmut Graupner, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1, Singerstraße 17 19, wegen 8.293,79 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 154/10k-19, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom , GZ 31 Cg 110/09a 9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
In der Zeit vom bis zum war der Kläger wegen des Verdachts des Verbrechens der gleichgeschlechtlichen Unzucht mit Personen unter 18 Jahren nach § 209 StGB aF in Verwahrungs bzw Untersuchungshaft. Mit Urteil eines Landesgerichts vom wurde er nach dieser Gesetzesstelle zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Seiner gegen dieses Urteil erhobenen Berufung gab das übergeordnete Oberlandesgericht mit Urteil vom nicht Folge und erhöhte über Berufung der Staatsanwaltschaft die Freiheitsstrafe auf neun Monate, wovon ein Teil von sechs Monaten bedingt nachgesehen wurde.
Gegen die Verurteilung erhob der Kläger Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (in der Folge: EGMR). Mit Urteil vom stellte der EGMR eine Verletzung der Konvention durch die Verurteilung des Klägers fest und sprach diesem 35.000 EUR an Schmerzengeld und 8.851,10 EUR an Kosten zu. Davon widmete der Gerichtshof 5.851,10 EUR auf die in Österreich entstandenen Verteidigungskosten und 3.000 EUR auf die Vertretungskosten vor dem EGMR.
Mit Beschluss vom hob der Oberste Gerichtshof die Verurteilung des Klägers auf, worauf das genannte Landesgericht das Verfahren gegen ihn am einstellte. Der Einstellungsbeschluss wurde dem Kläger am zugestellt.
Mit seiner am eingebrachten Klage begehrt der Kläger nach dem StEG Ersatz der über den Betrag von 3.000 EUR hinausgehenden Vertretungskosten vor dem EGMR (3.357,71 EUR) sowie von 4.936,08 EUR an Kosten der Vertretung im innerstaatlichen Verfahren (vor dem Erneuerungsverfahren).
Die beklagte Partei bestritt die geltend gemachten Vertretungskosten dem Grunde und der Höhe nach als nicht nachvollziehbar und wendete die Verjährung der Ansprüche ein. Die Verjährungsfrist beginne gemäß § 8 Abs 1 StEG nach Ablauf des Tages, an dem der geschädigten Person die anspruchsbegründenden Voraussetzungen bekannt geworden seien. Dem Kläger seien bereits mit dem Urteil des EGMR vom die Voraussetzungen für den Ersatzanspruch nach dem StEG bekannt gewesen. Selbst unter Berücksichtigung der Hemmung der Verjährungsfrist nach § 8 Abs 2 StEG sei die Klage nicht fristwahrend.
Der Kläger hielt diesem Einwand entgegen, die Verjährungsfrist habe erst mit Zustellung des Einstellungsbeschlusses vom , also am , zu laufen begonnen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren wegen Verjährung ab. Bereits durch die Entscheidung des EGMR vom seien dem Kläger alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen für einen Ersatzanspruch nach dem StEG bekannt gewesen.
Der dagegen erhobenen Berufung des Klägers gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge. Die Berechtigung der Menschrechtsbeschwerde und die Zweckmäßigkeit des damit verbundenen Rettungsaufwands (Vertretungskosten vor dem EGMR) seien nicht erst mit der nachträglichen Einstellung des Strafverfahrens, sondern schon mit Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom festgestanden. Der Kläger habe gewusst, dass ihm ein 3.000 EUR übersteigender Beschwerdeaufwand nicht als Verfahrenskosten zugesprochen worden sei und er diesen von der Beklagten im Weg des Schadenersatzes begehren müsse. Der Anspruch des Klägers erscheine daher nach allen in Betracht kommenden Verjährungsvorschriften (§ 1489 ABGB,§ 6 AHG, § 8 StEG) verjährt. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil zur Rechtsfrage, wann die Verjährungsfrist für Vertretungskosten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beginne, keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs aufgefunden worden sei.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des auf Aufhebung der Vorentscheidungen gerichteten Eventualantrags auch berechtigt.
Nach der Übergangsbestimmung seines § 14 Abs 1 Z 2 ist das Bundesgesetz über den Ersatz von Schäden aufgrund einer strafgerichtlichen Anhaltung oder Verurteilung (Strafrechtliches Entschädigungsgesetz 2005 StEG 2005) anzuwenden, wenn im Fall der Wiederaufnahme, worunter entsprechend dem Klammerausdruck in § 2 Abs 1 Z 3 leg cit (s auch ErlRV 6/8 BlgNR 22. GP 14) auch die Erneuerung des Strafverfahrens nach den §§ 363a c StPO fällt, die Entscheidung, mit der eine rechtskräftige Verurteilung aufgehoben wurde, nach dem in Rechtskraft erwachsen ist. Die Ansprüche des Klägers sind damit nach dem StEG 2005 zu beurteilen.
Der EGMR hat mit Urteil vom die Verletzung des Art 14 iVm Art 8 EMRK durch die Verurteilung des Klägers wegen § 209 StGB aF festgestellt. Um einem (feststellenden) Urteil des EGMR innerstaatliche Wirkung zu verleihen, muss dieses erst umgesetzt werden, wozu Art 46 EMRK den beteiligten Mitgliedsstaat verpflichtet ( Grabenwarter, Europäische Menschrechtskonvention 4 , 93).
Art 46 EMRK verlangt grundsätzlich die restitutio in integrum, also eine vollständige Beseitigung der eingetretenen Konventionsverletzung. Rührt die Konventionswidrigkeit aus einem staatlichen Einzelakt her, besteht die restitutio in integrum darin, den Einzelakt zu beseitigen. Innerstaatlich steht dem in der Regel die Rechtskraftwirkung der ursprünglichen Entscheidung entgegen, weshalb zur Durchführung der restitutio iSd Art 46 EMRK eigene Regeln nötig sind ( Reindl Krauskopf , WK StPO Rz 4 Vor §§ 363a c, Grabenwarter aaO 94). Die Aufgabe des EGMR ist demgegenüber auf die Feststellung der Konventionsverletzung dem Staat gegenüber und die Überwachung der innerstaatlichen Umsetzung des Urteils beschränkt.
Das innerstaatliche Instrument zur Umsetzung von EGMR Urteilen im Strafverfahren ist die Erneuerung desselben nach den §§ 363a c StPO. Nach Feststellung einer Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle erfolgt über Antrag die Aufhebung der rechtskräftigen Entscheidung durch Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO ( Eder Rieder , StEG 2005, 46 f; Kodek/Leupold , WK StPO § 2 StEG Rz 35, Reindl Krauskopf aaO Rz 10).
Der Bund haftet nach § 1 Abs 1 StEG für den Schaden, den eine Person durch den Entzug der persönlichen Freiheit zum Zwecke der Strafrechtspflege oder durch eine strafgerichtliche Verurteilung erlitten hat. Die Voraussetzungen, in welchen Fällen ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs 1 StEG überhaupt besteht, sind in § 2 Abs 1 Z 1 bis 3 leg cit angeführt. Von den dort genannten Entschädigungsgründen ist für den vorliegenden Fall der Grund der „Wiederaufnahme“ nach Z 3 relevant.
Danach steht ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs 1 StEG nur einer Person zu, die durch ein inländisches Strafgericht nach Wiederaufnahme oder Erneuerung des Verfahrens oder sonstiger Aufhebung eines früheren Urteils freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt oder neuerlich verurteilt wurde, sofern in diesem Fall eine mildere Strafe verhängt wurde oder eine vorbeugende Maßnahme entfiel oder doch durch eine weniger belastende Maßnahme ersetzt wurde (Wiederaufnahme). Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch aus dem Grund der „Wiederaufnahme“ ist damit neben dem durch den Freiheitsentzug verursachten Schaden die rechtskräftige Verurteilung durch ein österreichisches Gericht, die Aufhebung dieser Entscheidung und die nachträgliche Einstellung des Verfahrens, der Freispruch des Verurteilten oder der Verhängung einer milderen Strafe oder vorbeugenden Maßnahme.
Die Verjährung des Ersatzanspruchs regelte § 8 StEG. Demnach verjährt ein Ersatzanspruch nach § 1 Abs 1 StEG in drei Jahren nach Ablauf des Tages, an dem der geschädigten Person die anspruchsbegründenden Voraussetzungen bekannt geworden sind, keinesfalls aber vor einem Jahr nach Rechtskraft der Entscheidung oder Verfügung, aus der der Ersatzanspruch abgeleitet wird. Sind der geschädigten Person diese Voraussetzungen nicht bekannt geworden oder ist der Schaden aus einer gerichtlich strafbaren Handlung entstanden, die nur vorsätzlich begangen werden kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, so verjährt ein solcher Ersatzanspruch erst in 10 Jahren nach der Festnahme oder Anhaltung. In Abs 2 leg cit ist für die Aufforderung nach § 9 StEG eine (Fortlaufs )Hemmung der Verjährung angeordnet.
Anders als nach dem AHG und auch nach § 1489 ABGB ist im strafrechtlichen Entschädigungsrecht für die Verjährung der Ansprüche des Geschädigten nicht die Kenntnis des Schadens, sondern die Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen bedeutsam. Nach den Materialien zum StEG 2005 liegt der Grund für diese Abweichung gegenüber dem ABGB und dem AHG gerade im Entschädigungsgrund der Wiederaufnahme nach § 2 Abs 1 Z 3 StEG. Bei Ansprüchen aufgrund einer zunächst rechtskräftigen Verurteilung mit einer nachträglichen Einstellung bzw milderen Verurteilung wäre der Geschädigte würde man hier allein auf die Kenntnis des Schadens (und der Person des Schädigers) abstellen häufig nicht in der Lage, sein Ersatzbegehren zeitgerecht zu stellen (ErlRV 618 BlgNR 22. GP 11). Die Materialien machen deutlich, dass § 8 Abs 1 StEG für den Beginn der Verjährungsfrist auf einen späteren Zeitpunkt abstellt, als es mitunter der Kenntnis von Schaden und Schädiger entsprechen würde.
Das die Konventionsverletzung feststellende Erkenntnis des EGMR vom begründete keine innerstaatliche Wirkung sondern löste gemäß Art 46 EMRK (nur) die Verpflichtung Österreichs zur Umsetzung aus. Solange das konventionswidrige Urteil nicht im Erneuerungsverfahren aufgehoben war, blieb es aufrecht. Ein rechtskräftiges innerstaatliches Urteil, mag dessen EMRK Widrigkeit auch festgestellt sein, steht bis zu seiner Aufhebung im Erneuerungsverfahren einem Anspruch nach § 1 Abs 1 StEG entgegen.
Für die Entstehung eines Ersatzanspruchs nach § 1 Abs 1 StEG ist nach § 2 Abs 1 Z 3 StEG nicht nur die Aufhebung des rechtskräftigen Urteils sondern auch die nachträgliche Einstellung des Verfahrens, der Freispruch des Verurteilten oder die Verhängung einer milderen Strafe oder vorbeugende Maßnahme erforderlich. Erst wenn einem Geschädigten alle Umstände bekannt sind, die für das Entstehen des Ersatzanspruchs gefordert sind, kann davon gesprochen werden, dass die Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG vorliegt. Diese Kenntnis ist also regelmäßig mit Zugang der für die Anspruchsbegründung geforderten gerichtlichen Entscheidung gegeben. Dass die Verjährung nicht zu laufen beginnt, bevor der Anspruch überhaupt erst geltend gemacht werden kann, entspricht auch dem aus § 1478 Satz 2 ABGB abgeleiteten Grundsatz, dass der Beginn der Verjährungsfrist an die objektive Möglichkeit der Rechtsausübung geknüpft ist. Die Verjährung beginnt demnach regelmäßig erst mit dem Zeitpunkt zu laufen, in welchem das Recht zuerst ausgeübt werden hätte können, der Geltendmachung des Anspruchs also keine rechtlichen Hindernisse mehr entgegenstehen. ( M. Bydlinski in Rummel ³ § 1478 Rz 2; Mader/Janisch in Schwimann , ABGB³ § 1478 Rz 3; RIS Justiz RS0034343).
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Kenntnis eines die Verletzung der Konvention feststellenden Urteils nicht der Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG gleichzusetzen ist. Das die Verletzung feststellende Urteil des EGMR bedarf der innerstaatlichen Umsetzung, um den konventionswidrigen Einzelakt zu beseitigen. Diese Umsetzung erfolgt im Erneuerungsverfahren. Führte dieses zum Freispruch oder sonst zur Außer Verfolgung Setzung des Geschädigten oder wird im Fall einer neuerlichen Verurteilung eine mildere Strafe verhängt oder entfällt eine vorbeugende Maßnahme oder wird diese doch durch eine weniger belastende Maßnahme ersetzt, liegen in der Regel die anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG vor, deren Kenntnis die Verjährung in Gang setzt.
Unstrittig ist, dass der Kläger den Beschluss vom , mit dem das gegen ihn geführte Strafverfahren nach § 227 StPO eingestellt wurde, am erhalten hat. Dadurch erfuhr er von seiner Außer Verfolgung Setzung und erlangte damit vollständige Kenntnis der anspruchsbegründenden Voraussetzungen iSd § 8 Abs 1 StEG. Die am eingebrachte Klage war daher jedenfalls fristwahrend.
Da sich die beklagte Partei erstmals in der Revisionsbeantwortung auf den Ausschlussgrund nach § 3 Abs 1 Z 4 StEG berief, liegt eine im Revisionsverfahren unbeachtliche Neuerung vor. Im Übrigen ist die beklagte Partei dazu und zu dem von ihr geltend gemachten Mitverschulden des Klägers auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom , AZ 1 Ob 85/09w, zu verweisen.
Der Kläger hat Anspruch auf Ersatz der zur Aufhebung der Anhaltung und zur Beseitigung der rechtskräftigen Verurteilung notwendigen und zweckentsprechenden Kosten. Davon erfasst sind auch die Kosten vor dem EGMR (RIS Justiz RS0087531). Dieser entscheidet über den Ersatz der Kosten und Auslagen allein nach billigem Ermessen und berücksichtigt innerstaatliche Gebührenansätze nur als Anhaltspunkt für seine Entscheidung mit. Da dieser Gerichtshof seiner Entscheidung über die Kosten grundsätzlich kein vom Ermessen unabhängiges Kostenersatzrecht zugrunde legt, steht dem geschädigten Kläger die Differenz zwischen den vom EGMR zuerkannten und den zur notwendigen und zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewendeten Kosten zu (1 Ob 27, 28/90 = SZ 63/223; 1 Ob 35/93; 1 Ob 85/09w). Gleiches gilt für die vom Kläger geltend gemachten restlichen Kosten seiner Vertretung im innerstaatlichen Verfahren vor dem Erneuerungsverfahren, sodass auch hier auf die Differenz zu den zur notwendigen und zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewendeten Kosten abzustellen ist.
Die Unterinstanzen haben ausgehend von einer vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht keine Feststellungen zu den notwendigen und zweckentsprechenden Kosten getroffen, weshalb es der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Rechtssache an die erste Instanz bedarf.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.