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OGH vom 25.01.2017, 7Ob199/16i

OGH vom 25.01.2017, 7Ob199/16i

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners C***** B*****, geboren am ***** 1994, *****, vertreten durch den Verein VertretungsNetz-Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Bewohnervertreterin Mag. B***** F*****), *****, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Sachwalterin P***** B*****, Einrichtungsleiter Prim. Univ.-Prof. Dr. W***** O*****, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 42 R 162/16h-32, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Meidling vom , GZ 2 HA 1/15s-19, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie wie folgt insgesamt zu lauten haben:

„1. Der Antrag auf Überprüfung der Zulässigkeit der am Bewohner C***** B*****, geboren am ***** 1994, während seiner Aufenthalte im Rehabilitationszentrum M***** vom bis und vom bis vorgenommenen Maßnahme des Hinderns am Verlassen des Rollstuhls mittels Sitzgurts wird abgewiesen.

2. Die am Bewohner C***** B*****, geboren am ***** 1994, während seiner Aufenthalte im Rehabilitationszentrum M***** vom bis und vom bis vorgenomme Maßnahme des Hinderns am Verlassen des Bettes mittels Seitenteilen wird für unzulässig erklärt.“

Text

Begründung:

Der am ***** 1994 geborene Bewohner erlitt am bei einem Ertrinkungsunfall eine cerebrale Hypoxie, die eine linksbetonte spastische Tetraparese mit Ataxie sowie ein höchstgradiges organisches Psychosyndrom zur Folge hatte.

Die Bewegungsfähigkeit der Halswirbelsäule ist aufgrund einer massiven Skoliose deutlich eingeschränkt, die rechte obere Extremität weist keine Paresen, jedoch ataktische Bewegungsabläufe auf, bei der linken oberen Extremität besteht bei maximaler Beugekontraktur und hohem Extensionsdefizit keine Willkürmotorik. Die unteren Extremitäten können von der Unterlage abgehoben und in der Hüfte und im Knie gebeugt werden, die Füße sind in den Sprunggelenken in Mittelstellung fixiert. Der Bewohner kann die Bewegung oder Funktion in seinen Füßen aber nicht dazu nutzen, eine Fortbewegung zu erzielen. Es handelt sich dabei um ein hochgradig ataktisches Bewegungsmuster. Der Bewohner ist nicht in der Lage, zielgerichtete und willkürliche Bewegungen, die zur Ortsveränderung dienlich sind, zu vollführen. Er kann weder selbst aufstehen, noch sich aus dem Bett bewegen, noch einen Rollstuhl – sei es elektrisch oder mechanisch – bedienen. Er ist so gut wie blind und unterscheidet nur hell und dunkel. Er ist inkontinent.

Psychisch ist der Bewohner wach, in allen Qualitäten aber nicht orientiert. Sein Sprachverständnis ist gut erhalten, die Sprache aber verlangsamt, dysarthophon, kurzgefasst und inhaltsarm, der Sprachantrieb ist deutlich herabgesetzt. Er ist aber fähig, Wünsche zu äußern.

Seit dem Unfall ist der Bewohner durch die damals eingetretene Sauerstoffmangelversorgung pflege und betreuungsbedürftig, es besteht ein totales Selbstfürsorgedefizit.

Er wird von seiner Mutter gepflegt. Zu Hause werden Seitengitter am Bett verwendet, um zu verhindern, dass er aus dem Bett stürzt, wenn er beide Füße auf die Seite kippt. Weiters wird er in einem besonders für ihn angepassten Multifunktionsstuhl mit einem Sitzhosengurt fixiert, weil er durch den Druck der Rückenmuskulatur sonst nach vorne rutschen und herabgleiten würde.

Seit 2004 fanden regelmäßig stationäre Aufenthalte für neurorehabilitative Maßnahmen statt: So befand er sich auch vom bis sowie vom bis im Rehabilitationszentrum M*****. Das derzeit 52 Betten und 8 tagesklinische Behandlungsplätze umfassende hochspezialisierte Rehabilitationszentrum ist das einzige Österreichs, das ausschließlich der Rehabilitation Hirnverletzter gewidmet ist. Zu den wesentlichen Aufgaben des Rehabilitationszentrums M***** gehört, Menschen, die im Rahmen eines Arbeitsunfalls eine schwere Gehirnverletzung erlitten haben, zu rehabilitieren. Im Verzeichnis des Bundesministeriums für Gesundheit, Familie und Jugend aller gemäß dem KAKuG gemeldeten bettenführenden Krankenhäuser ist das Rehabilitationszentrum M***** als Krankenanstalt 945 angeführt.

Ziel der Rehabilitationsbehandlungen war im Hinblick auf die Schwere der Skoliose die Verbesserung der Beweglichkeit der Gliedmaßen und des Rumpfes sowie die Verbesserung der Ernährungslage. Ziel des Rehabilitationsaufenthalts 2013 war bei diskretem Rehabilitationspotential darüber hinaus die Entlastung der Familie sowie die Anpassung einer Sitzschale für den Multifunktionsrollstuhl.

Während seines Aufenthalts im Rehabilitationszentrum M***** wurden – zum Schutz vor einem Herausfallen aus dem Bett – Bettenseitenteile zur Anwendung gebracht. Der Multifunktionsrollstuhl, der – angepasst für den Bewohner – mit Vorrichtungen zur Stabilisierung des Rumpfes ausgestattet und von ihm von zu Hause mitgebracht worden war, wurde während des Rehabilitationsaufenthalts unverändert verwendet.

Die Bewohnervertreterin wurde nicht von den Maßnahmen verständigt.

Der Bewohner beantragte die gerichtliche Überprüfung der im Rehabilitationszentrum M***** angewandten Maßnahmen des Hinderns am Verlassen des Rollstuhls mittels Sitzgurt und des Bettes mittels Seitenteilen.

Das Erstgericht wies den Antrag ab. Der Bewohner leide an einer psychischen Erkrankung, aufgrund der er erkennbar der ständigen Pflege und Betreuung bedürfe, weshalb die während seiner Aufenthalte in dem – als Krankenanstalt nach dem HeimAufG zu qualifizierenden – Rehabilitationszentrum angewandten Maßnahmen der Überprüfung nach dem HeimAufG unterliegen würden. Da dem Bewohner die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen Bewegung und Ortsveränderung fehle, seien die getroffenen Maßnahmen nicht als Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG anzusehen.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Die Anbringung eines Sitzgurtes, der einen drohenden Sturz eines gelähmten Menschen aus dem Rollstuhl verhindern solle, sei ebenso wenig als Freiheitsbeschränkung zu qualifizieren, wie die Anbringung von Schutzgittern, um das Herausfallen des Bewohners durch unwillkürliche Bewegungen zu verhindern. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionrekurs zulässig sei, da keine oberstgerichtliche Judikatur zu der Frage bestehe, ob bei einer derartigen körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung die Anforderungen im Zusammenhang mit der Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen Fortbewegung zu hoch gesetzt worden seien.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit einem Abänderungsantrag.

Der Einrichtungsleiter hat von der Möglichkeit, eine Revisionrekursbeantwortung gemäß §§ 19a, 11 Abs 3 HeimAufG iVm § 48 Abs 1 AußStrG zu erstatten (vgl 7 Ob 101/13y, 7 Ob 139/14p), keinen Gebrauch gemacht.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionrekurs ist zulässig, er ist teilweise berechtigt.

1.1 Das HeimAufG regelt die Voraussetzungen und die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen in Altenund Pflegeheimen, in Behindertenheimen und in anderen Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch Kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können. In Krankenanstalten ist dieses Bundesgesetz nur auf Personen anzuwenden, die dort wegen ihrer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung der ständigen Pflege und Betreuung bedürfen. Vom Zweck der Regelungen des HeimAufG sind jene Fälle umfasst, in denen die Bedürftigkeit des Patienten unabhängig von der konkret im Krankenhaus behandelten körperlichen Beeinträchtigung (sei dies infolge eines Unfalls oder einer Krankheit) bereits besteht. Ein solcher Patient soll auch während eines Krankenhausaufenthalts nicht den ihm außerhalb des Krankenhauses in den Einrichtungen nach § 2 Abs 1 HeimAufG zukommenden besonderen Schutz verlieren (RISJustiz RS0121803 [T5], 7 Ob 194/12y), und zwar unabhängig davon, ob die Person aus einem Heim (quasi aus dem „Kerngeltungsbereich“ des Gesetzes) oder aus privater Pflege ins Krankenhaus gebracht worden ist (Strickmann, Heimaufenthaltsrecht2, 86;Bürger/Halmich, Heimaufenthaltsgesetz § 2 Anm 10; Zierl/Wall/Zeinhofer, Heimrecht Band I3, 85).

1.2 Die Qualifizierung des Rehabilitationszentrums M***** als Sonderkrankenanstalt iSd § 2 Abs 1 Z 2 KAKuG idF BGBl I Nr 61/2010 durch die Vorinstanzen (vgl auch 7 Ob 31/91 zu § 2 KAG) ist im Revisionsrekursverfahren zu Recht nicht mehr strittig.

1.3 Ausgehend von den Feststellungen bestand bereits zu den jeweiligen Zeitpunkten der Aufnahmen beim Bewohner als Folge des 2004 erlittenen Unfalls – unabhängig von den im Krankenhaus behandelten Beeinträchtigungen – ein finaler Zustand einer geistigen Behinderung, die mit einer dauernden Pflege – und Betreuungsbedürftigkeit verbunden war. Die Anwendung des HeimAufG durch die Vorinstanzen ist daher nicht zu beanstanden.

2. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen oder durch deren Androhung unterbunden wird.

Bei der Prüfung, ob eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG vorliegt, ist zunächst die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf einen bestimmten räumlich abgegrenzten Bereich wesentlich. Der räumliche Umfang der Beschränkung spielt für die Freiheitsbeschränkung keine Rolle. Auch die Bewegungseinschränkung auf die Einrichtung in ihrer Gesamtheit unter Wahrung freier Bewegungsmöglichkeiten innerhalb des Areals der Einrichtung ist daher eine Freiheitsbeschränkung (RISJustiz RS0121662), wie auch die Beschränkung auf einzelne Bereiche der Einrichtung, die Beschränkung auf ein einzelnes Zimmer oder die Beschränkung innerhalb eines Raumes (7 Ob 193/16g mwN).

Mechanische Mittel der Freiheitsbeschränkung sind etwa unmittelbare körperliche Zugriffe mit dem Ziel, den Bewohner zurückzuhalten. Hiezu zählt der Gebrauch von speziellen Möbeln, von Kleidung oder Vorrichtungen, die verhindern, dass der Bewohner seinen Körper bewegt oder einen bestimmten Ort oder Raum verlässt (7 Ob 193/16g).

Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG kann aber nur an jemandem vorgenommen werden, der grundsätzlich (noch) über die Möglichkeit zur willkürlichen körperlichen (Fort)Bewegung mit Ortsveränderung verfügt. Auf die Bildung eines (vernünftigen) Fortbewegungswillens und darauf, ob sich der betroffene Bewohner der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit bewusst ist, kommt es hingegen nicht an. Außerdem kann die Bewegungsfreiheit nicht selbständig, sondern auch mit fremder Hilfe (zB durch Schieben eines Rollstuhls) in Anspruch genommen werden. Die Freiheitsentziehung kann daher gegenüber jedermann erfolgen, der – sei es durch die Hilfe Dritter – die Möglichkeit körperlicher Bewegung und Ortsveränderung hat (7 Ob 193/16g mwN). Keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG kann demnach nur an jemandem vorgenommen werden, der überhaupt keine Möglichkeit zur willkürlichen Bewegungssteuerung mehr hat, das heißt, dem die Fortbewegungsmöglichkeit völlig fehlt und der auch keinen Fortbewegungswillen bilden kann. Für die Beurteilung, dass eine der Überprüfung nach dem HeimAufG gar nicht unterliegende Maßnahme vorliegt, kann es schon zum Schutz des Bewohners nicht auf die (Un)Wahrscheinlichkeit der Äußerung eines Fortbewegungswillens ankommen; vielmehr steht die nicht völlige ausgeschlossene Möglichkeit dazu einer solchen Annahme entgegen (7 Ob 193/16g).

3. Nicht gefolgt wird daher der Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass eine Freiheitsbeschränkung am Bewohner überhaupt nicht vorgenommen werden kann. Ihm fehlt es zwar an der Fortbewegungsfähigkeit, sein Sprachvermögen ist aber erhalten, auch wenn sein Sprachtrieb deutlich herabgesetzt ist. Vor allem ist er durchaus in der Lage, Wünsche und zwar auch im Zusammenhang mit seiner Fortbewegung zu äußern. Von einer gänzlichen Unmöglichkeit, einen Fortbewegungswillen zu fassen und zu formulieren, kann hier zweifelsohne nicht ausgegangen werden.

Nunmehr ist zu prüfen, ob es sich bei den einzelnen Maßnahmen um (un)zulässige Freiheitsbeschränkungen nach dem HeimAufG handelt.

4. Erst jüngst sprach der Oberste Gerichtshof (7 Ob 193/16g mwN) aus, dass das Einsetzen eines Rollstuhls – verbunden mit dem unverzichtbaren Anbringen des Gurtes –, um dem Bewohner die Teilnahme am sozialen Leben zu ermöglichen, die Bewegungsfreiheit des Bewohners, der sich sonst überhaupt nicht fortbewegen könnte, gerade nicht einschränke. Vielmehr werde dadurch der Bewegungs und Handlungsspielraum und somit die Mobilität sogar erhöht. In diesem Fall gehe schon der Gesetzgeber (ErläutRV 353 BlgNr 22. GP 8 ff) nicht von einer Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1 HeimAufG aus. Daraus folge, dass dann keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG vorliege, wenn sich der Bewohner ohne die Maßnahme überhaupt nicht fortbewegen könne, das Anbringen eines Sitzgurtes nur dazu diente, einen drohenden Sturz zu verhindern, und die Maßnahme dazu eingesetzt werde, den Bewegungs und Handlungsspielraum zu vergrößern.

Im vorliegenden Fall wurde während eines zeitlich beschränkten Rehabilitationsaufenthalts der für den Bewohner speziell angepasste und von ihm mitgebrachte Rollstuhl samt entsprechenden Sicherungsmaßnahmen unverändert eingesetzt, um dem Bewohner eine Fortbewegung zu ermöglichen und ihn dabei vor einem Herausfallen zu schützen, wobei keine Anhaltspunkte für ein überlanges Verbleiben im Rollstuhl gegeben sind. Auch in diesem Fall liegt keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG vor.

5.1 Im Unterschied zum Einsatz des Rollstuhls mit der Anbringung eines Sitzgurtes wird durch die Unterbringung im Pflegebett und das Hochziehen der Schutzgitter die Bewegungsfreiheit grundsätzlich räumlich beschränkt. Diese Maßnahme ist als Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG zu qualifizieren (7 Ob 193/16g).

5.2 Nach § 7 Abs 2 HeimAufG ist der Leiter der Einrichtung verpflichtet, den Vertreter und die Vertrauensperson des Bewohners von einer Freiheitsbeschränkung zu verständigen und diesen Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen.

Die Unterlassung der Verständigung des Vereins von einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme ist kein bloßer Verstoß gegen Ordnungsvorschriften, sie bewirkt die Unzulässigkeit der Maßnahme. Sie dauert bis zu dem Zeitpunkt an, in welchem der Verein/der Bewohnervertreter tatsächlich Kenntnis von der angewandten Freiheitsbeschränkung erlangt hat (RISJustiz RS0121228). Die Unzulässigkeit der Maßnahme des Anbringens von Seitenteilen am Pflegebett folgt demnach schon aus der unterlassenen Verständigung.

6. Dem Revisionsrekurs war daher teilweise Folge zu geben.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00199.16I.0125.000
Schlagworte:
Gruppe: Zivilrechtsfragen - Menschenrechte,Grundfreiheiten

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