OGH vom 19.12.2018, 3Ob178/18z
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hoch als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Roch und Dr. Rassi und die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek als weitere Richter in den Pflegschaftssachen der Minderjährigen 1. A*****, geboren ***** 2012, und 2. L*****, geboren ***** 2014, beide wohnhaft bei der Pflegemutter M*****, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über die außerordentlichen Revisionsrekurse der Mutter M*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Schlegl, Rechtsanwalt in Graz, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom , GZ 1 R 126/18h-49 (1 R 127/18f-26), mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-West vom , GZ 15 Ps 92/17g-35 (15 Ps 93/17d-13), bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Den Revisionsrekursen wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
A***** und L***** sind derzeit sechs bzw vier Jahre alt. Sie leben seit August 2015 bei einer Pflegemutter. Ihre Halbschwester, die im Oktober zwei Jahre alt wurde, lebt bei der leiblichen Mutter der drei Töchter. Zu den (drei) Vätern der Kinder besteht kein Kontakt.
Am übertrug die (damals noch 21-jährige) Mutter die Pflege und Erziehung für A***** und L***** mit freiwilliger Vereinbarung gemäß § 29 StKJHG an das Land Steiermark als Kinder- und Jugendhilfeträger. Vom KJHT wurde dieser Teil der Obsorge jener Pflegemutter übertragen, bei der die beiden Kinder seither leben.
Am beantragte die die „Rückübertragung“ der von der Pflegemutter ausgeübten Teilobsorge für beide Minderjährige. Sie habe sich im August 2015 in einer Notlage befunden und daher die Kinder „dem Jugendamt gegeben“ was aber nur für eine gewisse Zeit gedacht gewesen sei. Bereits ab Oktober 2015 habe sie wegen einer Rückführung beim Jugendamt vorgesprochen, damals aber noch auf eine Gemeindewohnung gewartet. Als sie mit ihrer dritten Tochter schwanger gewesen sei, habe man ihr mitgeteilt, dass sie ihre beiden älteren Töchter nun vorläufig nicht zurückbekomme. Inzwischen habe sie jedoch eine Gemeindewohnung und bemühe sich nun bereits seit dem Frühjahr 2016 intensiv darum, ihre beiden Kinder wieder zurück zu bekommen. Sie habe den Eindruck, dass diese von der Pflegemutter als ihre eigenen Kinder betrachtet würden. Obwohl sie selbst nur einen vorübergehenden Krisenplatz für sie gesucht habe, wolle die Pflegemutter die Kinder nicht mehr zurückgeben.
Der (KJHT) beantragte daraufhin, der Mutter die Obsorge für A***** und L***** im Teilbereich Pflege und Erziehung zu entziehen und an ihn zu übertragen. Die Pflegemutter sprach sich in einer Stellungnahme dazu für den Verbleib der Mädchen in ihrer Betreuung aus und wies darauf hin, dass sich die anfangs vorhandenen Verhaltensauffälligkeiten beider Mädchen seit der Unterbringung im Sommer 2015 stark gebessert hätten.
Mit Beschluss vom wurde der Mutter die Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung sowie gesetzliche Vertretung in diesem Bereich hinsichtlich beider Minderjähriger entzogen und dem KJHT übertragen. Im Anschluss daran gab das Erstgericht ein Sachverständigengutachten (insbesondere zur Frage der Erziehungsfähigkeit der Mutter sowie zur Frage der Notwendigkeit der Obsorgeausübung durch den KJHT) in Auftrag.
Mit vom entzog das der Mutter die Obsorge hinsichtlich beider Töchter im Teilbereich Pflege und Erziehung sowie gesetzliche Vertretung in diesem Bereich und übertrug diese dem KJHT.
Die Mutter sei nicht ausreichend erziehungsfähig, um neben der von ihr betreuten (dritten) Tochter auch die beiden anderen Kinder zu betreuen; diese stellten in Anbetracht ihrer Verhaltensauffälligkeiten erhöhte Anforderungen an die Betreuung. Eine Rückführung zur Mutter würde das Wohl der Kinder gefährden. Die mütterliche Großmutter habe keinen Obsorgeantrag gestellt; außerdem sei ein Verbleib bei der Dauerpflegemutter, die die stabilste Bezugsperson für die beiden Minderjährigen sei und sehr positiven Einfluss auf die Verhaltensauffälligkeiten ausgeübt habe, zu deren Wohl notwendig.
Das gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge.
Die im Rekurs vorgebrachten Bedenken gegen die Fachkompetenz der im Verfahren beigezogenen gerichtlichen Sachverständigen seien unbegründet; eine Beeinflussung der Sachverständigen durch die Pflegemutter habe nicht stattgefunden. Von einer bewusst herbeigeführten Entfremdung der Kinder von der Kernfamilie aus „Eigeninteresse am aufrechten Pflegevertrag“ könne keine Rede sein. Ein Konsum von Alkohol und anderen Drogen seitens der Mutter sei nur für die Vergangenheit festgestellt worden; für ihre Behauptung, sie befinde sich nun in einer geordneten Lebensgemeinschaft, führe der Rekurs keine Beweisergebnisse an. Es dürfe nicht übersehen werden, dass die Mutter im Sommer 2015 durch die Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung unterstützt worden sei, als sie dennoch wegen einer Überforderungsstiuation die Obsorge für beide Mädchen an den KJHT übertragen habe. Außerdem sei die Kooperationsbereitschaft der Mutter mit den betreuenden Stellen nicht durchgängig gegeben. Im Gutachten sei mehrfach betont worden, dass der Mutter zum aktuellen Zeitpunkt die ausreichende Erziehungsfähigkeit fehle, um alle drei Kinder in ihrem Haushalt zu betreuen. Eine Trennung von der Halbschwester sei nicht relevant, weil diese erst nach der Übersiedlung der beiden größeren Mädchen zur Pflegemutter geboren worden sei. Im Gutachten der Sachverständigen fänden sich noch ergänzend weitere Risikofaktoren, die gegen die Rückführung der Kinder in den Haushalt der Mutter sprächen.
Dagegen richten sich die (gleichlautend) für beide Minderjährigen erhobenen der Mutter wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, mit dem Antrag, die Obsorge der Mutter „zur Gänze rückzuübertragen“, hilfsweise die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben.
Der KJHT beantragte in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs der Mutter nicht Folge zu geben; hilfsweise, dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufzutragen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revisionsrekurse sind entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts – zulässig und im Sinn ihres Aufhebungsantrags berechtigt.
1.1 Bei einer vereinbarten Übertragung der Pflege und Erziehung im Sinn der § 26, 27 B-KJHG (§ 29 StKJHG) (früher: freiwillige volle Erziehung nach § 28 JWG) an den zuständigen KJHT bleiben die Eltern Obsorgeträger (RISJustiz RS0127384; 9 Ob 47/16a mwN). Die Eltern können durch eine solche Vereinbarung die faktische Ausübung der Obsorge ganz oder teilweise übertragen, nicht aber die Obsorgerechte und -pflichten (9 Ob 47/16a mwN). Einen Verzicht auf die Elternrechte und die damit verbundenen Pflichten kennt das Gesetz nicht (RIS-Justiz RS0006513).
Auch die hier vorliegende freiwillige Übertragung der faktischen Ausübung der Pflege und Erziehung für die Kleinkinder durch die Mutter hatte daher keine Änderung der Obsorgerechte und -pflichten zur Folge. Zutreffend hat das Erstgericht daher den Antrag der Mutter auf „(Rück-)Übertragung“ in einen Widerruf der freiwilligen Übertragung des Teilbereichs der Pflege und Erziehung an den KJHT gewertet (Erörterung in der Verhandlung am ).
1.2 § 204 ABGB bringt klar zum Ausdruck, dass primär die Obsorge durch Eltern, Großeltern oder Pflegeeltern zu erfolgen hat. Mit diesem Vorrang der leiblichen Eltern, Adoptiveltern und Pflegeeltern (RIS-Justiz RS0123509 [T1]) wird auch dem Recht nach Art 8 EMRK auf Schutz des Privat- und Familienlebens Rechnung getragen (RISJustiz RS0123509 [T3]; so schon 9 Ob 16/14i mwN; jüngst 6 Ob 106/18h). Bei der Entscheidung über die Obsorge kommt auch dem gemeinsamen Aufwachsen von Geschwistern in demselben Haushalt als einem Teilaspekt von vielen anderen Wert für ihre Entwicklung zu (RIS-Justiz RS0047845 [T3]; 1 Ob 99/16i mwN).
Die Maßnahme der Übertragung an den KJHT darf wegen des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) nach ständiger Rechtsprechung nur angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten und soweit sie zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist; sie muss das letzte Mittel sein (RIS-Justiz RS0048699; RS0047841 [T10, T 15]; RS0048712; RS0085168 [T5]). Bei der Entscheidung ist ausschließlich das Wohl des Kindes maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS-Justiz RS0048632; RS0106312).
Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls ist nicht geradezu ein Missbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt vielmehr, wenn die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (RIS-Justiz RS0048633; RS0048684). Dazu gehört (zwar) auch das Nichtbewältigen von Erziehungsaufgaben, ohne dass ein subjektives Schuldelement hinzutreten müsste (RIS-Justiz RS0048633 [T18 und T 19]).
Einen Günstigkeitsvergleich vorzunehmen, lehnt die Rechtsprechung aber ab. Dass ein Kind in sozialen Einrichtungen oder bei Dritten besser versorgt, betreut oder erzogen würde als bei seinen Eltern, rechtfertigt für sich allein noch keinen Eingriff in die elterliche Obsorge (RISJustiz RS0048704; 1 Ob 99/16i mwN). Daher hat selbst dann, wenn bereits die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, die Aufhebung einer Obsorgeübertragung an einen Dritten zu erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht. Demgemäß stehen nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes bedeuten würden (RIS-Justiz RS0009673 [T4]). Das hat auch für den Fall der Prüfung der Obsorgeübertragung an den KJHT zu gelten, wenn keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls ohne diese Obsorgeübertragung bestehen (1 Ob 99/16i mwN).
1.3 Ob ein bestimmter Sachverhalt die Entziehung der Obsorge rechtfertigt, ist eine immer aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zu treffende Ermessensentscheidung; sie kann nur auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage getroffen werden (RIS-Justiz RS0048699 [T20]).
2. Hier reichen die Feststellungen für die Annahme einer nicht anders – als durch Entziehung der Obsorge (im Teilbereich Pflege und Erziehung sowie gesetzliche Vertretung in diesem Bereich) und Übertragung an den KJHT – abwendbaren Gefährdung des Kindeswohls für die beiden Minderjährigen nicht aus:
2.1 Ein Obsorgeantrag der Pflegemutter für die beiden von ihr betreuten Mädchen liegt nicht vor.
2.2 Nach der Beurteilung des Erstgerichts weist die leibliche Mutter „nicht die im Hinblick auf die besonderen Bedürfnisse der beiden Minderjährigen notwendige spezielle Erziehungsfähigkeit auf“. Zu den Verhaltensauffälligkeiten der beiden Mädchen wird ausgeführt, sie hätten sich seit der Übersiedlung zur Pflegemutter verbessert, seien aber noch nicht gänzlich verschwunden; für die jüngere der beiden, die im Alter von elf Monaten zur Pflegemutter kam, sei diese (naturgemäß) die engste Bindungsperson. Eine Rückführung der beiden Töchter zur Mutter würde angeblich „aktuell das Kindeswohl gefährden“ und die Obsorgeausübung durch den KJHT sei „zur Sicherung des Kindeswohls notwendig“. Dazu steht fest, dass die Mutter „in den letzten fünf Jahren sechs mal umgezogen“ ist, dass „ein Schuldenregulierungsverfahren eingeleitet“ wurde und dass sie von der mütterlichen (Adoptiv-)Großmutter, zu der sie eine „ambivalente Beziehung“ hat, in der Betreuung ihrer jüngsten Tochter unterstützt wird.
Die Ausführungen des Rekursgerichts zur Tatsachenrüge der Mutter betreffend Drogen- und Alkoholkonsum „in der Vergangenheit“ beschränken sich auf den Hinweis, dass diese Feststellung „nur“ die Zeit der Schwangerschaften betreffe. Ergänzend stellt das Rekursgericht aber – im Widerspruch dazu – aus dem Gutachten fest, dass bei der Mutter „weitere Risikofaktoren“ vorlägen, und zwar „vergangene Alkohol- und Drogenprobleme sowie Überforderung in der Erziehung und Betreuung der beiden Minderjährigen, selbst unter unterstützenden Bedingungen ([seinerzeitige] Mutter-Kind-Unterbringung)“. Völlig ungeklärt blieb dabei jedoch – dies ist auch dem umfangreichen Sachverständigengutachten nicht zu entnehmen – inwieweit sich diese (frühere) Situation der Mutter allenfalls (wie von ihr behauptet) inzwischen geändert hat. Im Gutachten findet sich dazu nur der Hinweis, dass die Mutter selbst „zu ihrer eigenen Stabilisierung und Reifung noch Zeit und Energie benötigt“; dies wird allerdings allein daraus abgeleitet, dass sie „in der Vergangenheit psychische Instabilitäten und Suchtmittelabhängigkeit“ gezeigt habe. Insgesamt wird also (ohne geeignete Tatsachengrundlage) aus dem Umstand, dass die – damals erst 21-jährige – Mutter die Pflege und Erziehung für ihre beiden Kleinkinder im Sommer 2015 freiwillig vorübergehend dem KJHT übertrug (was sie selbst insbesondere damit begründet, dass sie zu diesem Zeitpunkt keine Wohnung und kein Einkommen hatte), mehr als drei Jahre später der Schluss gezogen, sie sei durch eine Rückführung ihrer beiden Töchter, zu denen sie nach der Aktenlage den (wenn auch seit der Fremdunterbringung offenbar entgegen ihren Wunsch besuchsbegleiteten) Kontakt stets aufrecht erhielt, überfordert. Als weitere „Risikofaktoren“ nennt das Rekursgericht noch die Situation der Mutter als Alleinerzieherin und die unterlassenen Vaterschaftsfeststellungen. Dem wird aber schon im Revisionsrekurs zutreffend entgegnet, dass sich mit diesen Umständen weder eine (aktuell) fehlende Erziehungsfähigkeit der Mutter noch eine (derzeitige) Gefährdung des Kindeswohls begründen lässt.
2.3 Die Feststellungen zur Gefährdung des Wohls der beiden Minderjährigen im Fall einer Rückführung von der Pflegemutter zu ihrer leiblichen Mutter sind daher ebenfalls unzureichend: Ist doch nicht erkennbar, in welcher Weise sich die – im Akt stets gleichlautend, nur schlagwortartig und ohne entsprechende Vorfälle bzw Beispiele angeführten – Verhaltensauffälligkeiten der beiden Mädchen „zwar deutlich gebessert“ haben, aber „nicht gänzlich verschwunden“ sein sollen. Auch dem Hinweis auf ein „hohes Risiko einer Traumatisierung“, das bei einer Rückführung der jüngeren Tochter bestünde, fehlt die erforderliche Konkretisierung. Maßgebend ist hier nämlich, ob (oder gegebenenfalls wann) durch eine stufenweise Ausweitung der Kontakte zur Mutter allenfalls eine Rückführung in absehbarer Zeit in Betracht kommt, oder ob dies für das Kleinkind einen so gravierenden Beziehungsabbruch bedeuten würde, dass die Gefahr einer Entwicklungsstörung bestünde (vgl 1 Ob 99/16i).
2.4 Aufgrund der bisher festgestellten Tatsachen ist außerdem – entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen – nicht zu beurteilen, ob die Erziehungsfähigkeit der Mutter nur „aktuell“ (vorübergehend?) oder auch in Zukunft so weit beeinträchtigt ist bzw sein wird, dass eine Entziehung der Obsorge und die Übertragung an den KJHT geboten wäre. Die – hiezu wie bereits erwähnt jedenfalls erforderliche (RIS-Justiz RS0048632; RS0106312) – Prüfung der aus fachkundiger Sicht prognostizierbaren Entwicklung der beiden Minderjährigen fehlt bisher.
In Anbetracht der auch im Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen nicht hinreichend beantworteten Fragen der derzeitigen Lebenssituation der Mutter (aufrechte, stabile Lebensgemeinschaft? Wohnverhältnisse? Berufliche Pläne?) sowie der zu erwartenden Entwicklung der beiden Minderjährigen (insbesondere auch in Bezug auf einen überdurchschnittlichen Betreuungsbedarf) ist eine Aufhebung in die erste Instanz nicht zu vermeiden. Das Erstgericht wird zur (fehlenden) Erziehungsfähigkeit der Mutter hinsichtlich ihrer beiden größeren Töchter sowie zur Gefährdung des Wohls dieser beiden Minderjährigen (für den Fall einer Abweisung des Antrags des KJHT) klare Feststellungen zu treffen haben. Dabei werden – wegen des Gebots des (aktuellen) Kindeswohls – angesichts der seit der Entscheidung erster Instanz (und seit dem davor eingeholten Gutachten) bereits verstrichenen Zeit von mehr als einem halben Jahr (bzw mehr als neun Monaten) die aktuellen Umstände zu erheben sein.
Im weiteren Verfahren wird bei der Beurteilung der beantragten Entziehung der Obsorge aber auch zu prüfen sein, ob allenfalls mit unterstützenden Maßnahmen etwaige Defizite der Mutter kompensierbar wären, ob also möglicherweise einer zukünftigen Gefährdung auch durch geeignete Auflagen oder Kontrollen (§ 107 Abs 3 AußStrG) begegnet werden könnte (1 Ob 99/16i mwN). Falls dann eine Übertragung der Obsorge an den KJHT gar nicht mehr in Betracht kommen sollte, wäre ein stufenweises und dem Alter der Kinder entsprechendes Programm für die Rückkehr zur Mutter zu erarbeiten (1 Ob 99/16i [P 2.4.]). Sollte hingegen im weiteren Verfahren tatsächlich von einer Gefährdung des Wohls der beiden Kinder im Fall einer Betreuung bei der Mutter (und der Halbschwester) – unter Ausblendung der Umstellungsschwierigkeiten, wie sie mit einer schrittweisen kind- und altersgerechten Rückführung unvermeidlich einhergehen – auszugehen sein, dann wäre die Obsorge antragsgemäß an den KJHT zu übertragen (1 Ob 99/16i). Dem Gesichtspunkt, dass die beiden Kinder durch die Pflegemutter derzeit besonders gut betreut werden, kann dabei aber keine allein ausschlaggebende Bedeutung zukommen: Müsste doch ansonsten schon der Hinweis auf die Stetigkeit der Verhältnisse bei einer (Kindes)Abnahme, die eine gewisse Zeitdauer anhält – besonders bei Kindern, die in den ersten Lebensjahren gut fremduntergebracht sind – dazu führen, sie dort zu belassen. Dies würde eine Rückführung an die Eltern (bzw hier an die Mutter) aber für immer ausschließen (1 Ob 99/16i mwN) und hätte hier außerdem eine nach der Rechtsprechung tunlichst zu vermeidende Trennung von (leiblichen) Geschwistern zur Folge (RIS-Justiz RS0047845 [T4]).
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