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OGH vom 27.05.1993, 2Ob527/93

OGH vom 27.05.1993, 2Ob527/93

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Gerstenecker als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Jessica Tanya B*****, geboren am , derzeit ***** infolge Revisionsrekurses der mütterlichen Großeltern Helmut B*****, ***** und Waltraud B*****, ***** beide ***** und ***** beide vertreten durch Dr.Stefan Gloß und Dr.Hans Pucher, Rechtsanwälte in St.Pölten, gegen den Beschluß des Landesgerichtes St.Pölten als Rekursgericht vom , GZ R 870/92-17, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes St.Pölten vom , GZ 1 P 106/92-10, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die mj. Jessica Tanya B***** ist das uneheliche Kind der am verstorbenen Doris B***** und des Gerhard H*****, der die Vaterschaft vor dem Standesamt St.Pölten anerkannt hat. Bis zum Tod der Mutter stand dieser die Obsorge über das Kind allein zu. Bereits zu Lebzeiten der Mutter hatten während deren Krankheit die mütterlichen Großeltern und die mütterliche Urgroßmutter bei der Betreuung des Kindes geholfen. Derzeit ist die Hauptbetreuungs- und Bezugsperson die 70jährige, aber noch recht rüstige mütterliche Urgroßmutter. Nunmehr wohnt der Vater der Minderjährigen bei seinem Bruder und dessen Frau, Adolf und Heidemarie H*****, in *****. Während seiner beruflichen Abwesenheit von zu Hause könnten diese, insbesondere Heidemarie H*****, das Kind betreuen. Der Vater der Minderjährigen ist zur Übernahme der Obsorge geeignet, ebenso die von ihm angebotene Betreuungssituation. Die mütterlichen Großeltern besitzen in Tullnerbach ein neu erbautes schönes Haus und wären zur Betreuung eines Kindes dieses Alters ebenfalls geeignet.

Mit dem am bei Gericht zu Protokoll gegebenen Antrag begehrte der Vater der Minderjährigen, ihm die Obsorge über die Minderjährige zu übertragen.

Am stellten auch die mütterlichen Großeltern den Antrag, ihnen die Obsorge über die Minderjährige zu übertragen.

Mit Beschluß vom (ON 10 dA) übertrug das Erstgericht dem Vater die Obsorge für die Minderjährige. Den Antrag der Großeltern wies es ebenso ab wie den Antrag des Vaters, wegen Gefahr im Verzug eine vorläufige Obsorgeanordnung zu treffen und ihm ein vorläufiges Besuchsrecht für die Dauer des Obsorgeverfahrens zuzuerkennen. In seiner rechtlichen Beurteilung des bereits wiedergegebenen Sachverhaltes führte das Erstgericht aus, es sei bei einer Obsorgeentscheidung vom Kindeswohl auszugehen. Geeignete Eltern, die eine geeignete Betreuungssituation hätten, seien dabei in der Regel Großeltern oder noch ferneren Verwandten vorzuziehen. Da der Vater geeignet und die von ihm angebotene Betreuungssituation in Ordnung sei, wäre die Obsorge ihm zuzuweisen gewesen.

Das Gericht zweiter Instanz gab dem von den mütterlichen Großeltern gegen diesen Beschluß erhobenen Rekurs nicht Folge und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei.

Gemäß § 166 ABGB komme die Obsorge für das uneheliche Kind der Mutter allein zu. Im übrigen gelten, soweit nichts anderes bestimmt sei, die das eheliche Kind betreffenden Bestimmungen über den Unterhalt und die Obsorge auch für das uneheliche Kind. Es gelte somit auch § 145 Abs 1 ABGB, welche Bestimmung in ihrem ersten Satz regle, daß im Falle gemeinsamer Obsorge der Eltern bei Unmöglichkeit der Ausübung derselben durch einen Elternteil die Obsorge dem anderen Elternteil allein zukomme. Danach laute der zweite Satz des § 145 Abs 1 ABGB:

"Ist in dieser Weise der Elternteil, dem die Obsorge allein zukommt, betroffen, so hat das Gericht unter Beachtung des Wohles des Kindes zu entscheiden, ob die Obsorge ganz oder teilweise dem anderen Elternteil oder ob und welchem Großelternpaar (Großelternteil) sie zukommen soll; letzteres gilt auch, wenn beide Elternteile betroffen sind." Der Gesetzgeber habe mit dieser Textierung keine Gleichstellung des für die Obsorge in Frage kommenden (anderen) Elternteiles mit den Großeltern normieren, sondern vielmehr eine Reihenfolge (Elternteil vor Großeltern) festlegen wollen (Klein-Strauß-Brosch, Praxiskommentar des KindRÄG Rz 4 zu § 145; Pichler in Rummel2, ABGB, Rz 2a und 3 zu § 145). Zu einem solchen Ergebnis komme man aber auch dann, wenn man die vor dem KindRÄG gegeben gewesene Rechtslage beachtend bedenke, daß durch dieses Gesetz die Position unehelicher Eltern jedenfalls nicht habe geschwächt, sondern verstärkt werden sollen, was sich insbesondere etwa aus § 167 ABGB ergebe, aufgrund dessen über gemeinsamen Antrag der (miteinander nicht verheirateten) Eltern zu verfügen sei, daß ihnen beiden die Obsorge für das Kind zukomme, wenn sie mit dem Kind in dauernder häuslicher Gemeinschaft lebten und diese Verfügung für das Wohl des Kindes nicht nachteilig sei. Der durch das KindRÄG aufgehobene § 170 ABGB habe eine eindeutige Vorrangstellung des unehelichen Vaters vor den Großeltern normiert, weil diese nach § 145 Abs 1 aF ABGB erst dann für die Pflege und Erziehung in Frage gekommen seien, wenn beide Elternteile betroffen gewesen seien. Aber auch unter Beachtung des Wohles des Kindes stünde der Zuteilung der Obsorge an den Vater nichts entgegen. Ob der Vater mit der Mutter vor deren Tod zusammengelebt habe, sei ebenso von untergeordneter Bedeutung wie der Umstand, daß der Vater sich derzeit (offenbar um sich um seine Tochter kümmern zu können) in Karenz befinde und er im Falle seiner berufsbedingten Abwesenheit die Pflege und Erziehung seiner Schwägerin werde überlassen müssen. Das Erstgericht habe daher bei durchaus auch gegebener Eignung der mütterlichen Großeltern zur Übernahme der Obsorge die Obsorge zu Recht dem Vater übertragen.

Den Ausspruch über die Zulässigkeit des ordentlichen Revisionsrekurses begründete das Rekursgericht mit dem Fehlen einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu der hier zu entscheidenden Frage.

Gegen diese rekursgerichtliche Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der mütterlichen Großeltern mit dem Antrag, die Beschlüsse der Vorinstanzen im Sinne der Zuerkennung der Obsorge bezüglich der Minderjährigen an sie abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist berechtigt.

In ihrem Revisionsrekurs halten die mütterlichen Großeltern an ihrer Rechtsansicht fest, bei der Zuteilung der Obsorge gemäß § 145 Abs 1 Satz 2 ABGB werde dem anderen Elternteil keine Präferenz eingeräumt, es stünden einander vielmehr der andere Elternteil und die Großelternpaare gleichberechtigt gegenüber.

Dazu ist folgendes zu erwägen: Durch Mittel der Wortinterpretation und Erforschung des Zusammenhanges der einzelnen Regelungen des § 145 ABGB ist ein Vorrecht des anderen (verbleibenden) Elternteils gegenüber den Großelternpaaren nicht abzuleiten, zumal die Verwendung des Bindewortes "oder" zwischen der im Gesetz vorerst genannten Möglichkeit, die Obsorge ganz oder teilweise dem anderen Elternteil zuzuweisen, und der zweiten Entscheidungsmöglichkeit, die Obsorge einem und allenfalls welchem Großelternpaar (Großelternteil) zuzuerkennen, nur zwei alternative Entscheidungsvarianten, aber keine Wertung dahin zum Ausdruck bringt, welcher Entscheidungsmöglichkeit der Vorzug zu geben wäre. Maßgebend für die Entscheidung ist nach dem Wortlaut des Gesetzes das Wohl des Kindes, ein Vorrecht des unehelichen Vaters vor den mütterlichen Großeltern kann daraus nicht abgeleitet werden.

Entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes kann aber auch aus der vor dem KindRÄG geltenden Rechtslage und der Absicht, die der Gesetzgeber mit diesem Gesetz verfolgte, ein Vorrecht des unehelichen Vaters nicht abgeleitet werden. Im Rahmen der Fortentwicklung des bezüglich der Vermögensverwaltung und der Vertretung geltenden Kindschaftsrechtes bestand wohl vorerst die Absicht, in jenen Fällen, in welchen die Mutter eines unehelichen Kindes, der ja nach dem Wortlaut der bis dahin in Geltung gestandenen Bestimmung des § 170 ABGB die Pflege und Erziehung des Kindes allein zustand, ihren Pflichten nicht nachkommen kann, zur Vertretung und Verwaltung des unehelichen Kindes zunächst dessen Vater und dann (wie beim ehelichen Kind) die Großeltern heranzuziehen (vgl die nicht realisierte RV eines Bundesgesetzes über zivilrechtliche Bestimmungen zur Förderung der Jugendwohlfahrt, 677 BlgNR 16.GP, 13, Erl zu Z 9 (§ 166)). Im Begutachtungsverfahren wurde jedoch die Möglichkeit, dem Vater eines unehelichen Kindes die Rechte der gesetzlichen Vertretung und Vermögensverwaltung unter bestimmten Voraussetzungen einzuräumen, einer schwerwiegenden Kritik unterzogen, die auch als überzeugend erkannt wurde. Die - letztlich in Behandlung gezogen - RV 172 BlgNR

17. GP erachtete es - um zu verhindern, daß der Inhalt des bis dahin geltenden § 170 ABGB, insbesondere dessen Verweisung auf den § 145 ABGB, dazu führt, daß ein uneheliches Kind, das mit seiner Mutter und mit deren Eltern in einem geordneten Familienverband lebt, im Falle des Todes seiner Mutter von Gesetzes wegen zum Vater kommen müßte - für erforderlich, von der in der letzten RV vorgeschlagenen Regelung abzugehen (vgl 172 BlgNR 17.GP, 13f, Erl zu den Z 1, 2, 6 und 25 (§ 144 bis 145c, 154.187 und 196)). Da im Zuge der Ausschußberatungen einerseits die von der erwähnten Kritik aufgezeigte Problematik im Zusammenhang mit der Behinderung der allein erziehungsberechtigten unehelichen Mutter keiner weiteren Erörterung unterzogen wurde, und anderseits zur Frage der Präferenz bei der Übertragung der Sorgerechte für ein Kind nur insoweit Stellung genommen wurde, daß dem Rechtsinstitut der Obsorge durch die Großeltern gegenüber jenem der Vormundschaft der Vorrang gegeben wude (vgl 887 BlgNR 17.GP, 3, Bem zu Art I Z 1 bis 4 ua), kann auch eine historische Auslegung der nunmehr in Geltung stehenden Bestimmungen des § 166 Satz 2 iVm § 145 Abs 1 Satz 2 ABGB die Annahme eines Vorranges des verbleibenden Elternteiles des unehelichen Kindes gegenüber den Großeltern in dem Sinn, daß der Übertragung der Obsorge an ihn ungeachtet der Frage der Eignung der Großeltern der Vorzug zu geben wäre, nicht rechtfertigen. Dies bedeutet somit, daß im Falle der Behinderung des bis dahin allein sorgeberechtigten Elternteiles eines unehelichen Kindes allein das Kindeswohl dafür entscheidend ist, ob dem verbleibenden Elternteil oder einem Großelternpaar (Großelternteil), und bejahendenfalls welchem die Obsorge über das uneheliche Kind zu übertragen ist. Ob im vorliegenden Fall dem Vater oder den mütterlichen Großeltern der Vorzug zu geben ist, kann allerdings nach den bisherigen Verfahrensergebnissen noch nicht abschließend beurteilt werden, weshalb sich der Revisionsrekurs im Sinne des subsidiär gestellten Aufhebungsantrages als berechtigt erweist.

Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren zu den widerstreitenden Parteienbehauptungen Stellung zu nehmen und verläßliche Feststellungen vor allem über die bisherigen Lebensverhältnisse des Vaters der Minderjährigen - wo er zu Lebzeiten der Mutter der Minderjährigen tatsächlich gewohnt hat, welches Interesse er an der Minderjährigen bisher gezeigt hat - und seine Lebenseinstellung im allgemeinen, aus welchen Gründen er tatsächlich derzeit keiner Arbeit nachgeht, wann er eine Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen gedenkt und wie er sich seine künftige Lebensführung vorstellt - sowie darüber zu treffen haben, welche Beziehung der Vater zur Minderjährigen bisher aufgebaut hat. Um das Kindeswohl hinlänglich beurteilen zu können, wird es aber auch erforderlich sein, im einzelnen festzustellen, auf welche Art und in welchem Umfang die mütterlichen Großeltern neben der mütterlichen Urgroßmutter an der Betreuung der Minderjährigen zu Lebzeiten deren Mutter wirklich mitgewirkt haben, und in welcher Umgebung - in Böheimkirchen oder in Tullnerbach - sie mit dem Kind zu leben beabsichtigen. Erst nach einer ausführlichen Erfassung der für die Betreuung der Minderjährigen bedeutsamen Lebensverhältnisse des Vaters und der mütterlichen Großeltern wird es möglich sein, die Frage zu beantworten, welche Obsorge über die Minderjährige deren wohlverstandenen Interessen am ehesten entspricht.

Es mußte daher dem Revisionsrekurs Folge gegeben und dem Erstgericht nach Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen werden.