OGH vom 16.11.2007, 7Ob193/07v

OGH vom 16.11.2007, 7Ob193/07v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Huber als Vorsitzende und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Julia M*****, geboren am ***** und Hanna M*****, geboren am *****, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Sandra M*****, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Wels als Rekursgericht vom , GZ 21 R 177/07i-S-46, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Gmunden vom , GZ 1 P 273/05y-S-41, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:

Die Obsorge für die Minderjährigen Julia M***** und Hanna M***** steht künftig der Mutter Sandra M***** allein zu.

Die Revisionsrekursbeantwortung wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Kinder lebten seit der Geburt zunächst in dem im Alleineigentum des Vaters stehenden Haus. Die großväterlichen Großeltern leben in der unteren Wohnung des Hauses, die Ehewohnung befand sich im ausgebauten Heuboden. Anfang November 2005 zog die Mutter mit den beiden Kindern aus der Ehewohnung (ohne die Stadt zu verlassen) in eine kleinere Wohnung. Seit September 2006 wohnt sie in einer 86 m2 großen Wohnung. Direkt vor dem Haus befindet sich ein großer Spielplatz. Schulfreundinnen von Julia wohnen in unmittelbarer Nähe. Seit dem Auszug aus der Ehewohnung wird der Besuchskontakt des Vaters zu den Kindern außergerichtlich geregelt. Er funktioniert gut. Die Kinder halten sich zweimal während der Woche am Nachmittag und am Wochenende auch über Nacht beim Vater auf. Die Kontakte werden flexibel zwischen den Eltern geregelt.

Julia besucht seit September 2006 die Volksschule. Ihre schulische Entwicklung ist sehr gut, sie ist ein sehr gut gepflegtes, sehr ruhiges, verlässliches Mädchen und „erledigt alles positiv". Sie verfügt über einen reichhaltigen aktiven und passiven Wortschatz und ist intelligent.

Hanna besucht seit April 2006 den Kindergarten. Sie ist ein sehr gepflegtes, fröhliches, ausgeglichenes Kind und zeigt keine Verhaltensauffälligkeiten. Sie ist intellektuell und emotional altersmäßig entwickelt. Sie verfügt über gute grob- und feinmotorische Fähigkeiten. Ihr Sprachverständnis ist altersentsprechend.

Die Mutter hat eine tägliche Arbeitszeit von 8.00 bis 12.00 Uhr. Es ist ihr möglich, beide Kinder jeden Tag um etwa 12.30 Uhr sowohl vom Kindergarten als auch von der Schule abzuholen.

Der Vater bewohnt die vormalige, 150 m² große Ehewohnung. Die Wohnbereiche des Vaters sind von jenen der väterlichen Großeltern getrennt. Er arbeitet täglich von 6.00 bis 14.15 Uhr. Während seiner berufsbedingten Abwesenheit bzw für den Zeitraum zwischen Abholung der Kinder vom Kindergarten und von der Schule bis zum Heimkommen des Vaters könnten die väterlichen Großeltern die Betreuung der Kinder übernehmen. Bei deren Verhinderung könnte die Schwester des Vaters oder sein Bruder aushelfen. Für den Vater besteht die Möglichkeit, bei seinem Dienstgeber im Fall der Änderung seiner familiären Situation sein aktuelles Vollzeitarbeitsverhältnis auf ein noch zu vereinbarendes Teilzeitausmaß zu reduzieren. Darüber hinaus könnte er jederzeit im Schlossereibetrieb seines Bruders eine Teilzeitbeschäftigung als Mitarbeiter mit freier Zeiteinteilung aufnehmen.

Durch die Trennung der Eltern werden bei beiden Kindern große Anforderungen an die kindliche Verarbeitungsfähigkeit gestellt. Wegen der Veränderung des Familiensystems, des Auszugs aus der früheren Familienwohnung, der Eingewöhnung in eine neue Wohnung gibt es Beunruhigungsphasen, obgleich beide Eltern kaum Störungen im Verhalten ihrer Kinder wahrnehmen. Die Kinder erleben die Trennung der Eltern als eine massive Veränderung ihres gewohnten Bezugsnetzes. Sie zeigen deutliche Verunsicherung, Rückzug und Verlustängste. Als Stützfaktoren können soziale Kontinuität durch die vertrauten Großeltern, der Kontakt zu Familienmitgliedern und Nachbarskindern, Betreuungskontinuität durch die väterliche Familie und Erlebniskontinuität in Form der vertrauten Wohnverhältnisse dienen. Die Mutter hat in Bezug auf die Kinder Verlustängste. Sie ist aber psychisch stabil, sie erledigt den Alltag trotz der derzeitigen leichten Hintergrunddepression gut. Sie ist zu beiden Kindern liebevoll und fürsorglich. In ihren Erziehungszielen und in ihrem konkret beobachteten Erziehungsverhalten ist die Mutter kompetent. Beide Kinder anerkennen die Führungsrolle der Mutter und dokumentieren auch mit ihrem Verhalten das derzeit vorrangige Bedürfnis, der Mutter nahe zu sein. Beide Kinder haben eine emotional enge Beziehung zur Mutter. Die Mutter anerkennt die Wichtigkeit des Weiterbestehens der gemeinsamen elterlichen Verantwortlichkeit und anerkennt die väterlichen Qualitäten.

Der Vater zeigt ein sicheres, vorsichtig selbstbewusstes Verhalten, gibt aber wenig Einblick in seine Gefühlswelt. Er ist im Umgang mit den Kindern äußerst fürsorglich und liebevoll. Er anerkennt die erzieherischen Qualitäten der Mutter und stellt ihre Rolle und ihre Aufgabe als Mutter nicht in Frage.

Die väterlichen Großeltern übernahmen in der Vergangenheit regelmäßig und mit erheblichem Zeitaufwand die Betreuung der Kinder. Sie sind seit jeher nahe Bezugspersonen für sie, aber auch eventuell künftig mitbetreuende Personen. Die väterlichen Großeltern wären für den Fall der Wohnsitzverlegung der Kinder zum Vater bereit, sich wie bisher während der berufsbedingten Abwesenheit der Eltern um die Kinder zu kümmern.

Die Beziehung der Mutter zu den väterlichen Großeltern ist belastet. Die Großeltern zeigen sich jedoch als „bindungstolerant" der Mutter gegenüber, sie reflektieren ihre eigene Rolle und sind auch „nicht unkritisch" hinsichtlich der eigenen Schwächen.

Die Eltern beantragen jeweils, ihnen die alleinige Obsorge zu übertragen.

Das Erstgericht sprach aus, dass die Obsorge dem Vater künftig allein zustehen solle. Es vertrat die Rechtsansicht, dass prinzipiell beide Elternteile obsorgegeeignet seien. Die Trennung der Eltern werde als eine massive Änderung des gewohnten Beziehungsnetzes von den Minderjährigen erlebt. Als Stützfaktor in der derzeitigen persönlichen Umbruchsituation diene die soziale Kontinuität durch die vertrauten Großeltern, die Betreuungskontinuität durch die väterliche Familie und die Erlebniskontinuität in Form der vertrauten Wohnverhältnisse. Die Beibehaltung so vieler gewohnter Bezugspersonen als möglich im Sinne einer Beziehungskontinuität könne den Kindern Halt und Geborgenheit geben, weshalb es dem Wohl der Kinder diene, beim Vater zu leben und ihm die alleinige Obsorge zuzuerkennen. Das Rekursgericht bestätigte den angefochtenen Beschluss. Es entspreche ständiger Rechtsprechung, dass bei der Zuweisung der Obsorge gemäß §§ 177a f ABGB grundsätzlich eine Gleichberechtigung von Mutter und Vater herrsche und bei der Entscheidung über die Obsorge das Wohl des Kindes ausschlaggebend sei. Nur bei völlig gleichwertigen Verhältnissen komme der Betreuung von Kleinkindern durch deren Mutter der Vorzug zu. Im vorliegenden Fall seien sowohl der Vater als auch die Mutter für die Betreuung ihrer Kinder geeignet. Die grundsätzlich von beiden Elternteilen befürwortete gemeinsame Obsorge für die Kinder sei an der Wahl des Hauptaufenthaltsortes der Kinder gescheitert. Die Berufstätigkeit des Vaters bzw seiner im Vergleich zur Mutter leicht ungünstigeren Arbeitszeiten sprächen nicht für eine Übertragung der Obsorge an die Mutter. Der Vater habe versichert, seine Arbeitszeiten den kindlichen Bedürfnissen anpassen zu können. Nachdem die väterlichen Großeltern seit der Geburt der Kinder konstante Bezugspersonen seien, spreche nichts dagegen, dass die Kinder fallweise von den Großeltern betreut würden. Nachdem beide Kinder auch enge und innige Beziehungen zu beiden Elternteilen hätten, sei es in Übereinstimmung mit dem Erstgericht ausschlaggebend, ob auch bei Beachtung des Grundsatzes der Kontinuität und Stabilität bei beiden Elternteilen gleichwertige Voraussetzungen vorhanden seien. Das Rekursgericht teile die Rechtsansicht des Erstgerichtes, dass die Betreuungskontinuität durch die väterliche Familie und die Erlebniskontinuität in Form der vertrauten Wohnverhältnisse beibehalten werden solle. Der Umstand, dass die Kinder seit November 2005 überwiegend im Haushalt der Mutter seien, stelle dazu keinen Widerspruch dar, weil die Kinder aufgrund der ausgedehnten Besuchskontakte niemals den Kontakt zum väterlichen Haushalt verloren haben, sie daher nicht aus einer vertrauten Umgebung herausgerissen würden und sich auch nicht erst wieder an eine für sie neue und fremde Situation gewöhnen müssten. Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil die Entscheidung über die Obsorge eine solche des Einzelfalls sei.

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Vater beantragt in der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. Die Rechtsmittelbeantwortung ist aber als verspätet zurückzuweisen. Die Frist beträgt vierzehn Tage (§ 65 Abs 1 AußStrG). Die Freistellung wurde am zugestellt, der Schriftsatz aber erst am zur Post gegeben.

Der Revisionsrekurs ist - entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichtes - zulässig; er ist auch berechtigt.

Bei der Entscheidung nach § 177a ABGB ist stets das Wohl des Kindes im Vordergrund (RIS-Justiz RS0048969). Kein Elternteil hat unabhängig vom Wohl des Kindes ein Vorrecht auf Pflege und Erziehung des Kindes (RIS-Justiz RS0047911). Bei der Entscheidung sind neben den materiellen Interessen an möglichst guter Verpflegung und guter Unterbringung der Kinder auch das Interesse an möglichst guter Erziehung, möglichst sorgfältiger Beaufsichtigung und an möglichst günstigen Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen seelischen und geistigen Entwicklung zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0047832). Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind (RIS-Justiz RS0048632). Die Forderung nach Kontinuität entspringt dem Gedanken des Kindeswohls, weil nach der Lebenserfahrung die Stetigkeit und Dauer Grundbedingungen für eine erfolgreiche und damit dem Wohl des Kindes dienende Erziehung ist (RIS-Justiz RS0047928). Auch bei einer Erstzuteilung nach § 177a ABGB sind die Grundsätze der Kontinuität der Erziehungsverhältnisse und Lebensverhältnisse nicht zu vernachlässigen (RIS-Justiz RS0047903 [T2 und T 6] zu § 177 Abs 2 ABGB aF).

Die Entscheidung über die Obsorge ist zwar eine solche des Einzelfalls, der im Allgemeinen keine grundsätzliche Bedeutung zukommt (RIS-Justiz RS0007101, RS0115719).

Dem dargelegten Grundsatz der Kontinuität im rechtlichen Sinn wird von den Vorinstanzen aber nicht ausreichend Rechnung getragen, was hier im Interesse des Kindeswohls aufzugreifen ist. Es ist zunächst hervorzuheben, dass beide Elternteile grundsätzlich erziehungsfähig und geeignet sind, die Obsorge für die Kinder zu übernehmen. Die Kinder wohnen seit November 2005 bei der Mutter (im selben Ort wie der Vater). Sie ermöglicht den Kindern einen zwanglosen, intensiven und guten Kontakt mit dem Vater und den väterlichen Großeltern. Überträgt man nun die Obsorge auf den Vater, so bedeutet dies einen Wohnungs- und Bezugswechsel und damit eine Unterbrechung der mittlerweile eingetretenen Kontinuität der Lebensumstände nach der Trennung der Eltern, ohne dass aus den Feststellungen eine bessere Entwicklungsmöglichkeit der Kinder beim Vater abzuleiten wäre. Nach den Feststellungen funktioniert das zwanglose, sich nach den Bedürfnissen der Beteiligten orientierende Besuchsrecht des Vaters tadellos. Es ist damit der intensive Kontakt der Kinder zu allen Bezugspersonen gewährleistet. Bei Übertragung der Obsorge an den Vater müssten sich die Kinder erneut nach nur 2 Jahren wieder auf eine neue Lebenssituation mit allen typischen Umstellungsschwierigkeiten einstellen, was zwangsläufig zu neuerlichen (zusätzlichen) Verunsicherungen führen müsste. Sowohl am Wohnort der Mutter als auch am Wohnort des Vaters leben Freunde zumindest eines Kindes. Auf Grund der jedenfalls gegebenen örtlichen Nähe kommt dem konkreten Wohnort der Freunde aber ohnehin keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Die Möglichkeit, (mehr) von den väterlichen Großeltern betreut zu werden, wiegt den Vorteil der bisherigen Wohn- und Besuchskontinuität nicht auf. Die Mutter hat überdies bereits um 12.30 Uhr Dienstschluss und kann die Kinder selbst abholen und betreuen. Die Kontinuität des Aufenthalts der Kinder bei der Mutter und der Betreuungssituation bei ihr haben daher den Ausschlag zu geben.

Das Gutachten, auf dem die Feststellungen basieren, legt offen, dass die Empfehlung der Obsorgezuteilung niemals eine Empfehlung für einen Hauptaufenthalt bei einem Elternteil und für ein Hinausdrängen des anderen Elternteils aus der elterlichen Verantwortung war. Dies lässt deutlich erkennen, dass für die gutachterliche Stellungnahme tatsächlich nur die Bezugspersonen Großeltern und Schwester/Bruder des Vaters ausschlaggebend waren. Diese Beziehungen, die ohnehin durch die intensiven Besuchskontakte gepflogen werden, können aber, so gut sie auch sein mögen, aus rechtlicher Sicht nicht den Vorteil der Kontinuität aufwiegen.

Eine Übertragung der Obsorge auf den Vater bringt aus rechtlicher Sicht keine Verbesserung zum Wohl der Kinder. Es entspricht vielmehr dem Wohl der Kinder, der Mutter die Obsorge zu übertragen und dadurch die Erziehungs-, Aufenthalts- und Besuchskontinuität zu gewährleisten.