OGH vom 06.06.2013, 6Ob240/12f
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen S***** N*****, geboren am *****, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs des Kindes, vertreten durch das Land Niederösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt St. Pölten, Jugendhilfe, 3100 St. Pölten, Heßstraße 6), gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 178/12t 35, mit dem über Rekurs des Vaters M***** N*****, der Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom , GZ 30 Pu 220/11w 5, aufgehoben, das vorangegangene Verfahren für nichtig erklärt und der Antrag auf Unterhaltsfestsetzung zurückgewiesen wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird in Ansehung der Unterhaltsverpflichtung des Vaters im Zeitraum vom bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im Verfahren P. 22.196/2011 des Stadtgerichts Györ Folge gegeben, die Einrede der Rechtshängigkeit insoweit verworfen, der angefochtene Beschluss in diesem Umfang aufgehoben und dem Rekursgericht insoweit die neuerliche Entscheidung über den Rekurs des Vaters in der Sache aufgetragen.
Die Entscheidung über den Revisionsrekurs in Ansehung der Unterhaltsverpflichtung des Vaters für die Zeit nach dem Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im Verfahren des Stadtgerichts Györ wird vorbehalten.
Text
Begründung:
Die Minderjährige ist die eheliche Tochter von M***** N***** und M***** N*****. Eltern und Kind sind tschechische Staatsbürger. Die Mutter wohnt mit der Tochter im Sprengel des Erstgerichts, wo das Kind auch die Schule besucht. Der Vater lebt in L*****, Oberösterreich, wo er berufstätig ist. Die Mutter stimmte am schriftlich zu, dass der Jugendwohlfahrtsträger Vertreter des Kindes für die Festsetzung und Durchsetzung der Unterhaltsansprüche des Kindes ist.
Am brachte der Vater in Ungarn beim Stadtgericht Györ die Klage auf Ehescheidung ein, in der er neben der Scheidung auch begehrt,
seine Tochter bei der Mutter unterzubringen;
diese zu verpflichten, für den Unterhalt, die Erziehung und Pflege des Kindes zu sorgen;
ihn zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 70 EUR für seine Tochter ab Rechtskraft des Scheidungsurteils „an die Mutter für den Unterhalt des unterhaltsberechtigten minderjährigen Kindes“ zu verpflichten. Er behauptete, seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter hätten zwar in Österreich ihren Hauptwohnsitz, hielten sich aber tatsächlich seit Februar 2011 in einem ungarischen Ort auf.
Mit dem am beim Erstgericht eingebrachten Schriftsatz beantragte das vom Jugendwohlfahrtsträger vertretene Kind, den Vater zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von 240 EUR ab und von 270 EUR ab zu verpflichten. Die Eltern lebten seit April 2010 getrennt. Seither komme der Vater seiner Unterhaltspflicht nicht nach.
Nachdem sich der Vater zum Unterhaltsfestsetzungsantrag nicht geäußert hatte, gab das Erstgericht diesem Antrag mit Beschluss vom statt.
Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Vater erhobenen Rekurs, mit dem die ausländische Rechtshängigkeit geltend gemacht wurde, Folge. Es hob den angefochtenen Beschluss auf, erklärte das vorangegangene Verfahren für nichtig und wies den Antrag auf Unterhaltsfestsetzung zurück. Die Anfrage des Rekursgerichts an die ungarischen Justizstellen sei dahin beantwortet worden, dass die von der Mutter erhobene Einrede der mangelnden inländischen Gerichtsbarkeit vom ungarischen Gericht abgelehnt worden sei und am eine erste Verhandlung stattgefunden habe, die vertagt worden sei. Es sei auch bestätigt worden, dass es nach ungarischem Recht möglich sei, im Scheidungsverfahren auch über den Unterhalt der gemeinsamen Kinder zu entscheiden. Aus Art 3 lit c der VO (EG) Nr 2009/4 ergebe sich die Annexzuständigkeit des ungarischen Gerichts für das Kindesunterhaltsverfahren, das der Vater vor der Antragstellung des Kindes in Österreich eingeleitet habe. Nach Art 12 dieser Verordnung wäre daher grundsätzlich das Verfahren vom Erstgericht von Amts wegen auszusetzen gewesen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen ungarischen Gerichts feststehe. Da Letzteres nun der Fall sei, habe sich das später angerufene Gericht für unzuständig zu erklären. Im Zuge des Rekursverfahrens führe dies gemäß § 56 Abs 1 AußStrG zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, zur Nichtigerklärung des vorangegangenen Verfahrens und zur Zurückweisung des Antrags.
Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil zur Europäischen Unterhaltsverordnung, insbesondere zur Annexzuständigkeit im Verhältnis eines Kindesunterhaltsverfahrens zu einem Scheidungsverfahren der Eltern, höchstgerichtliche Rechtsprechung nicht vorliege.
Rechtliche Beurteilung
Der vom Vater nicht beantwortete Revisionsrekurs des Kindes ist zulässig; er ist Sinn einer Abänderung für den aus dem Spruch ersichtlichen Zeitraum auch berechtigt und in Ansehung des anschließenden Zeitraums noch nicht entscheidungsreif.
1. Seit dem ist die VO (EG) 2009/4 des Rates vom über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUVO [auch EG UntVO oder EuUntVO]) anwendbar (Art 76 EuUVO; 2 Ob 217/12v; Fucik in Fasching/Konecny ² V/2 Art 76 EuUVO Rz 2). Österreich und Ungarn sind Mitgliedstaaten, auf die diese Verordnung anwendbar ist. Ihr sachlicher Anwendungsbereich umfasst alle Unterhaltspflichten, die „auf einem Familien-, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen“ (Art 1 Abs 1 EuUVO), daher auch die Geldunterhaltspflicht des Vaters.
2. Gemäß Art 75 Abs 1 EuUVO ist die Verordnung auf alle nach dem eingeleiteten Verfahren anzuwenden (7 Ob 116/12b mwN; 2 Ob 217/12v).
3. Die Vorgangsweise bei in verschiedenen Mitgliedstaaten „wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien“ anhängigen Verfahren (internationale Rechtshängigkeit) regelt Art 12 EuUVO, der Art 27 EuGVVO entspricht. Art 13 EuUVO enthält die (mit Art 28 EuGVVO übereinstimmende) Regelung der Aussetzung des Verfahrens wegen Sachzusammenhangs. Diese Bestimmung bildet einen Auffangtatbestand für jene Fälle, in denen die strengeren Voraussetzungen des Art 12 EuUVO nicht erfüllt sind, weil die erforderliche Partei- oder Anspruchsidentität nicht vorliegt, bei unkoordinierter Entscheidung der Gerichte aber dennoch rechtlich unvereinbare oder inhaltlich widersprüchliche Entscheidungen drohen. Art 12 und 13 EuUVO verfolgen demnach den Zweck, einander widersprechende Entscheidungen in verschiedenen Mitgliedstaaten zu vermeiden (2 Ob 217/12v mwN).
4. Art 12 EuUVO ist mit einer Ausnahme wortgleich mit Art 27 EuGVVO (nur das Wort „Klagen“ ist durch das Wort „Verfahren“ ersetzt) und in der Zielrichtung ident. Es kann daher auch auf die Rechtsprechung und das Schrifttum zu Art 27 EuGVVO zurückgegriffen werden (2 Ob 217/12v).
5. Die Minderjährige ist nicht Partei (Beteiligte) des ungarischen Verfahrens. Die Anwendbarkeit des Art 12 EuUVO hängt davon ab, ob sie und ihre Mutter, die Partei des ungarischen Verfahrens ist, als ein und dieselbe Partei anzusehen sind. Das Rekursgericht hat sich mit dieser Frage nicht ausdrücklich auseinandergesetzt. Sie ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht zweifelsfrei gelöst, weshalb der Senat den Gerichtshof mit dieser Frage befassen wird.
6. Die Identität des Anspruchs wird in der dem Europäischen Gerichtshof folgenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dann angenommen, wenn „Grundlage“ und „Gegenstand“ des Verfahrens übereinstimmen (6 Ob 122/09y; 2 Ob 217/12v je mwN; RIS Justiz RS0118405; RS0111769). Derselbe Gegenstand liegt nicht in der Identität der Klage oder Antragsbegehren, sondern im gemeinsamen Zweck der Klagen oder Anträge. Es ist entscheidend, ob es im Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten um dieselbe Frage geht, sodass nach der Logik nur eine einheitliche Entscheidung für beide Parteien möglich ist (6 Ob 122/09y mwN; 2 Ob 217/12v). Die Grundlage des Anspruchs umfasst den Sachverhalt und die Rechtsvorschriften, auf die die Klage gestützt wird (6 Ob 122/09y mwN).
7. Im Unterhaltsstreit geht es im Kern darum, ob, in welcher Höhe und für welchen Zeitraum die eine Partei der anderen Unterhalt schuldet (2 Ob 217/12v mwN; Andrae in Rauscher , EuZPR/EuIPR [2010] Art 12 EG UntVO Rz 6).
8. Nach diesen Grundsätzen fehlt es an der Anspruchsidentität jedenfalls für den vom Kind im österreichischen Verfahren vom bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils des ungarischen Gerichts begehrten Unterhalt, begehrt doch der Vater in diesem die Festsetzung seiner Geldunterhaltsverpflichtung erst ab diesem Zeitpunkt. Die Frage der Parteienidentität ist insoweit nicht erheblich. Für den beschriebenen Zeitraum kann daher das ungarische Verfahren das Verfahrenshindernis der Rechtshängigkeit für das vorliegende Unterhaltsverfahren nicht begründen.
9. Angemerkt sei, dass im Rahmen des Art 12 EuUVO das Zweitgericht die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts nicht nachzuprüfen hat (vgl 6 Ob 295/00a; RIS Justiz RS0114821; Mayr in Fasching/Konecny ² V/1 Art 27 EuGVVO Rz 24; Andrae in Rauscher , EuZPR/EuIPR [2010] Art 12 EG UntVO Rz 14; Tiefenthaler in Czernich/Tiefenthaler/Kodek , Europäisches Gerichtsstands und Vollstreckungsrecht³ Art 27 EuGVVO Rz 14 je mwN).
10. Eine Erklärung der Unzuständigkeit nach Art 13 Abs 2 EuUVO ist schon deshalb ausgeschlossen, weil das österreichische Verfahren nicht mehr in erster Instanz anhängig ist.
11. Der Oberste Gerichtshof kann in der Sache (Unterhaltsverpflichtung des Vaters im aus dem Spruch ersichtlichen Zeitraum) selbst nicht entscheiden, weil das Rekursgericht nicht meritorisch entschieden hat (vgl RIS Justiz RS0007037; RS0065254; 5 Ob 211/10f). Es war daher wie aus dem Spruch ersichtlich vorzugehen.
Fundstelle(n):
MAAAD-45546