OGH 06.06.2013, 6Ob240/12f
Rechtssatz
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Normen | AEUV Lissabon Art 267 Verordnung (EG) Nr 4/2009 des Rates 32009R0004 EuUVO Art12 |
RS0128966 | Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Sind zwei Verfahren „zwischen denselben Parteien“ im Sinn des Art 12 der Verordnung (EG) 2009/4 des Rates vom über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl EU 2009 L 7/1, anhängig, wenn in dem einen Verfahren das Kind seinen Anspruch auf Leistung des Unterhalts für die Vergangenheit und des laufenden Unterhalts gegen den Vater geltend macht und der Vater in einem Scheidungsverfahren die Festsetzung seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind und Leistung an die Mutter für die Zeit nach der Scheidung begehrt? 2. Wenn diese Frage bejaht wird: Wenn in dem einen Verfahren der Unterhaltsberechtigte seinen Anspruch auf laufenden Unterhalt geltend macht und im anderen Verfahren der Unterhaltsverpflichtete seine Verpflichtung zur Leistung laufenden Unterhalts ab einem späteren Zeitpunkt begehrt, werden dann ab dem späteren Zeitpunkt die Verfahren wegen „desselben Anspruchs“ im Sinn des Art 12 der Verordnung geführt? |
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen S***** N*****, geboren am *****, wohnhaft bei der Mutter M***** N*****, diese vertreten durch Mag. Klaus Fuchs und Mag. Gernot Weiß, Rechtsanwälte in Linz, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs des Kindes, vertreten durch das Land Niederösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt St. Pölten, Jugendhilfe, 3100 St. Pölten, Heßstraße 6), gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 178/12t-35, mit dem über Rekurs des Vaters M***** N*****, der Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom , GZ 30 Pu 220/11w-5, aufgehoben, das vorangegangene Verfahren für nichtig erklärt und der Antrag auf Unterhaltsfestsetzung zurückgewiesen wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
A. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind zwei Verfahren „zwischen denselben Parteien“ im Sinn des Art 12 der Verordnung (EG) 2009/4 des Rates vom über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl EU 2009 L 7/1, anhängig, wenn in dem einen Verfahren das Kind seinen Anspruch auf Leistung des Unterhalts für die Vergangenheit und des laufenden Unterhalts gegen den Vater geltend macht und der Vater in einem Scheidungsverfahren die Festsetzung seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind und Leistung an die Mutter für die Zeit nach der Scheidung begehrt?
2. Wenn diese Frage bejaht wird:
Wenn in dem einen Verfahren der Unterhaltsberechtigte seinen Anspruch auf laufenden Unterhalt geltend macht und im anderen Verfahren der Unterhaltsverpflichtete seine Verpflichtung zur Leistung laufenden Unterhalts ab einem späteren Zeitpunkt begehrt, werden dann ab dem späteren Zeitpunkt die Verfahren wegen „desselben Anspruchs“ im Sinn des Art 12 der Verordnung geführt?
B. Das Verfahren über das Rechtsmittel des Kindes wird, soweit darüber noch nicht entschieden wurde, bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Sachverhalt:
Die Minderjährige ist die eheliche Tochter von M***** N***** und M***** N*****. Eltern und Kind sind tschechische Staatsbürger. Die Mutter wohnt mit der Tochter in St. Pölten, wo das Kind auch die Schule besucht. Der Vater lebt in L*****, Oberösterreich, wo er berufstätig ist. Die Mutter stimmte am vor dem Magistrat der Stadt St. Pölten schriftlich zu, dass der Jugendwohlfahrtsträger, das Land Niederösterreich, Vertreter des Kindes für die Festsetzung und Durchsetzung der Unterhaltsansprüche des Kindes ist.
Am brachte der Vater in Ungarn beim Stadtgericht Györ (Györi Városi Bíróság) zur Zahl P. 22.196/2011 die Klage auf Ehescheidung ein, in der er neben der Scheidung auch begehrt,
- seine Tochter bei der Mutter unterzubringen;
- diese zu verpflichten, für den Unterhalt, die Erziehung und Pflege des Kindes zu sorgen;
- ihn zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 70 EUR für seine Tochter ab Rechtskraft des Scheidungsurteils „an die Mutter für den Unterhalt des unterhaltsberechtigten minderjährigen Kindes“ zu verpflichten. Er behauptete, seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter hätten zwar in Österreich ihren Hauptwohnsitz, hielten sich aber tatsächlich seit Februar 2011 in einem ungarischen Ort auf.
2. Antrag:
Mit dem am beim Bezirksgericht St. Pölten eingelangten Schriftsatz beantragte das vom Jugendwohlfahrtsträger vertretene Kind, den Vater zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von 240 EUR ab und von 270 EUR ab zu verpflichten. Die Eltern lebten seit April 2010 getrennt. Seither komme der Vater seiner Unterhaltspflicht nicht nach.
3. Verfahrensverlauf:
Nachdem sich der Vater zum Unterhaltsfestsetzungsantrag nicht geäußert hatte, gab das Erstgericht diesem Antrag mit Beschluss vom statt.
Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Vater erhobenen Rekurs, mit dem die ausländische Rechtshängigkeit geltend gemacht wurde, Folge. Es hob den angefochtenen Beschluss auf, erklärte das vorangegangene Verfahren für nichtig und wies den Antrag auf Unterhaltsfestsetzung zurück. Die Anfrage des Rekursgerichts an die ungarischen Justizstellen sei dahin beantwortet worden, dass die von der Mutter erhobene Einrede der mangelnden inländischen Gerichtsbarkeit vom ungarischen Gericht abgelehnt worden sei und am eine erste Verhandlung stattgefunden habe, die vertagt worden sei. Es sei auch bestätigt worden, dass es nach ungarischem Recht möglich sei, im Scheidungsverfahren auch über den Unterhalt der gemeinsamen Kinder zu entscheiden. Aus Art 3 lit c der VO (EG) Nr 2009/4 ergebe sich die Annexzuständigkeit des ungarischen Gerichts für das Kindesunterhaltsverfahren, das der Vater vor der Antragstellung des Kindes in Österreich eingeleitet habe. Nach Art 12 dieser Verordnung wäre daher grundsätzlich das Verfahren vom Erstgericht von Amts wegen auszusetzen gewesen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen ungarischen Gerichts feststehe. Da Letzteres nun der Fall sei, habe sich das später angerufene Gericht für unzuständig zu erklären. Im Zuge des Rekursverfahrens führe dies zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, zur Nichtigerklärung des vorangegangenen Verfahrens und zur Zurückweisung des Antrags.
Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil zur Europäischen Unterhaltsverordnung, insbesondere zur Annexzuständigkeit im Verhältnis eines Kindesunterhaltsverfahrens zu einem Scheidungsverfahren der Eltern, höchstgerichtliche Rechtsprechung nicht vorliege.
Das Kind erhob gegen diesen Beschluss Revisionsrekurs, den der Vater nicht beantwortete.
Mit Beschluss vom gab der Oberste Gerichtshof dem Revisionsrekurs insoweit Folge, als er die Unterhaltsverpflichtung des Vaters im Zeitraum vom bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des Stadtgerichts Györ im Verfahren P. 22.196/2011 betrifft. In diesem Umfang wurde die vom Vater in seinem Rekurs erhobene Einrede der Rechtshängigkeit zurückgewiesen, der Beschluss des Gerichts zweiter Instanz aufgehoben und diesem die Entscheidung in der Sache aufgetragen, weil für diesen Zeitraum die Identität des vom Kind im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Unterhaltsanspruchs mit dem Unterhaltsfestsetzungsbegehren des Vaters im ungarischen Verfahren nicht gegeben ist. Die Entscheidung über den Revisionsrekurs, soweit er die Zeit nach dem Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung des Stadtgerichts Györ im Verfahren P. 22.196/2011 betrifft, wurde vorbehalten.
4. Vorlagebegründung:
1.1. Seit dem ist die Verordnung (EG) 2009/4 des Rates vom über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (künftig: EuUVO) anwendbar (Art 76 EuUVO). Österreich und Ungarn sind Mitgliedstaaten, auf die diese Verordnung anwendbar ist. Ihr sachlicher Anwendungsbereich umfasst alle Unterhaltspflichten, die „auf einem Familien-, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen“ (Art 1 Abs 1 EuUVO), daher auch die Geldunterhaltspflicht des Vaters.
1.2. Gemäß Art 75 Abs 1 EuUVO ist die Verordnung auf alle nach dem eingeleiteten Verfahren anzuwenden.
2.1. Art 12 EuUVO bestimmt:
„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.
(2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“
2.2. Das unterhaltsberechtigte Kind ist nicht Partei im ungarischen Scheidungsverfahren seiner Eltern. Der Begriff „zwischen denselben Parteien“ ist autonom zu bestimmen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum inhaltsgleichen Art 21 des Brüsseler Übereinkommens vom über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist eine Identität der Parteien ausnahmsweise auch anzunehmen, wenn die Parteien im Rechtsstreit zwar nicht identisch sind, aber die Interessen der Parteien hinsichtlich des Gegenstands zweier Rechtsstreitigkeiten so weit übereinstimmen, dass eine Entscheidung, die für oder gegen eine Partei ergeht, Rechtskraft gegenüber der anderen entfalten würde (, Drouot/CMII, Slg 1998 I 3075 Rn 19).
2.3. In der Literatur wird vertreten, dass für das Unterhaltsverfahren deshalb Parteienidentität auch anzunehmen sei, wenn in dem einen Verfahren das Kind Partei ist und in dem anderen Verfahren ein Elternteil in Prozessstandschaft (also im eigenem Namen über das Recht des Kindes) für das Kind den Prozess führt, soweit die Entscheidung für und gegen das Kind wirkt (Andrae in Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, EuZPR/EuIPR [2010] Art 12 EG-UntVO Rz 4).
2.4. Die Frage, ob Art 12 EuUVO anwendbar ist, wenn in dem einen Verfahren das Kind seinen Anspruch auf Leistung von Unterhalt für die Vergangenheit und des laufenden Unterhalts gegen den Vater geltend macht und der Vater in einem Scheidungsverfahren die Festsetzung seiner Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind und Leistung an die Mutter für die Zeit nach der Scheidung begehrt, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht zweifelsfrei gelöst.
3. Für den Fall der Bejahung der Parteienidentität stellt sich die Frage, ob Identität des im österreichischen Verfahren verfolgten Anspruchs auf laufenden Unterhalt mit jenem Unterhaltsanspruch des Kindes, der Gegenstand des ungarischen Scheidungsverfahrens ist, für den Zeitraum ab der Rechtskraft des ungarischen Scheidungsurteils gegeben ist.
5. Aussetzung des Verfahrens:
Diese gründet auf § 90a Abs 1 GOG.
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen S***** N*****, geboren am *****, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs des Kindes, vertreten durch das Land Niederösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt St. Pölten, Jugendhilfe, 3100 St. Pölten, Heßstraße 6), gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 178/12t-35, mit dem über Rekurs des Vaters M***** N*****, der Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom , GZ 30 Pu 220/11w-5, aufgehoben, das vorangegangene Verfahren für nichtig erklärt und der Antrag auf Unterhaltsfestsetzung zurückgewiesen wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird in Ansehung der Unterhaltsverpflichtung des Vaters im Zeitraum vom bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im Verfahren P. 22.196/2011 des Stadtgerichts Györ Folge gegeben, die Einrede der Rechtshängigkeit insoweit verworfen, der angefochtene Beschluss in diesem Umfang aufgehoben und dem Rekursgericht insoweit die neuerliche Entscheidung über den Rekurs des Vaters in der Sache aufgetragen.
Die Entscheidung über den Revisionsrekurs in Ansehung der Unterhaltsverpflichtung des Vaters für die Zeit nach dem Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im Verfahren des Stadtgerichts Györ wird vorbehalten.
Text
Begründung:
Die Minderjährige ist die eheliche Tochter von M***** N***** und M***** N*****. Eltern und Kind sind tschechische Staatsbürger. Die Mutter wohnt mit der Tochter im Sprengel des Erstgerichts, wo das Kind auch die Schule besucht. Der Vater lebt in L*****, Oberösterreich, wo er berufstätig ist. Die Mutter stimmte am schriftlich zu, dass der Jugendwohlfahrtsträger Vertreter des Kindes für die Festsetzung und Durchsetzung der Unterhaltsansprüche des Kindes ist.
Am brachte der Vater in Ungarn beim Stadtgericht Györ die Klage auf Ehescheidung ein, in der er neben der Scheidung auch begehrt,
- seine Tochter bei der Mutter unterzubringen;
- diese zu verpflichten, für den Unterhalt, die Erziehung und Pflege des Kindes zu sorgen;
- ihn zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags von 70 EUR für seine Tochter ab Rechtskraft des Scheidungsurteils „an die Mutter für den Unterhalt des unterhaltsberechtigten minderjährigen Kindes“ zu verpflichten. Er behauptete, seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter hätten zwar in Österreich ihren Hauptwohnsitz, hielten sich aber tatsächlich seit Februar 2011 in einem ungarischen Ort auf.
Mit dem am beim Erstgericht eingebrachten Schriftsatz beantragte das vom Jugendwohlfahrtsträger vertretene Kind, den Vater zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von 240 EUR ab und von 270 EUR ab zu verpflichten. Die Eltern lebten seit April 2010 getrennt. Seither komme der Vater seiner Unterhaltspflicht nicht nach.
Nachdem sich der Vater zum Unterhaltsfestsetzungsantrag nicht geäußert hatte, gab das Erstgericht diesem Antrag mit Beschluss vom statt.
Das Rekursgericht gab dem dagegen vom Vater erhobenen Rekurs, mit dem die ausländische Rechtshängigkeit geltend gemacht wurde, Folge. Es hob den angefochtenen Beschluss auf, erklärte das vorangegangene Verfahren für nichtig und wies den Antrag auf Unterhaltsfestsetzung zurück. Die Anfrage des Rekursgerichts an die ungarischen Justizstellen sei dahin beantwortet worden, dass die von der Mutter erhobene Einrede der mangelnden inländischen Gerichtsbarkeit vom ungarischen Gericht abgelehnt worden sei und am eine erste Verhandlung stattgefunden habe, die vertagt worden sei. Es sei auch bestätigt worden, dass es nach ungarischem Recht möglich sei, im Scheidungsverfahren auch über den Unterhalt der gemeinsamen Kinder zu entscheiden. Aus Art 3 lit c der VO (EG) Nr 2009/4 ergebe sich die Annexzuständigkeit des ungarischen Gerichts für das Kindesunterhaltsverfahren, das der Vater vor der Antragstellung des Kindes in Österreich eingeleitet habe. Nach Art 12 dieser Verordnung wäre daher grundsätzlich das Verfahren vom Erstgericht von Amts wegen auszusetzen gewesen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen ungarischen Gerichts feststehe. Da Letzteres nun der Fall sei, habe sich das später angerufene Gericht für unzuständig zu erklären. Im Zuge des Rekursverfahrens führe dies gemäß § 56 Abs 1 AußStrG zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, zur Nichtigerklärung des vorangegangenen Verfahrens und zur Zurückweisung des Antrags.
Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil zur Europäischen Unterhaltsverordnung, insbesondere zur Annexzuständigkeit im Verhältnis eines Kindesunterhaltsverfahrens zu einem Scheidungsverfahren der Eltern, höchstgerichtliche Rechtsprechung nicht vorliege.
Rechtliche Beurteilung
Der vom Vater nicht beantwortete Revisionsrekurs des Kindes ist zulässig; er ist Sinn einer Abänderung für den aus dem Spruch ersichtlichen Zeitraum auch berechtigt und in Ansehung des anschließenden Zeitraums noch nicht entscheidungsreif.
1. Seit dem ist die VO (EG) 2009/4 des Rates vom über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUVO [auch EG-UntVO oder EuUntVO]) anwendbar (Art 76 EuUVO; 2 Ob 217/12v; Fucik in Fasching/Konecny² V/2 Art 76 EuUVO Rz 2). Österreich und Ungarn sind Mitgliedstaaten, auf die diese Verordnung anwendbar ist. Ihr sachlicher Anwendungsbereich umfasst alle Unterhaltspflichten, die „auf einem Familien-, Verwandtschafts- oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen“ (Art 1 Abs 1 EuUVO), daher auch die Geldunterhaltspflicht des Vaters.
2. Gemäß Art 75 Abs 1 EuUVO ist die Verordnung auf alle nach dem eingeleiteten Verfahren anzuwenden (7 Ob 116/12b mwN; 2 Ob 217/12v).
3. Die Vorgangsweise bei in verschiedenen Mitgliedstaaten „wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien“ anhängigen Verfahren (internationale Rechtshängigkeit) regelt Art 12 EuUVO, der Art 27 EuGVVO entspricht. Art 13 EuUVO enthält die (mit Art 28 EuGVVO übereinstimmende) Regelung der Aussetzung des Verfahrens wegen Sachzusammenhangs. Diese Bestimmung bildet einen Auffangtatbestand für jene Fälle, in denen die strengeren Voraussetzungen des Art 12 EuUVO nicht erfüllt sind, weil die erforderliche Partei- oder Anspruchsidentität nicht vorliegt, bei unkoordinierter Entscheidung der Gerichte aber dennoch rechtlich unvereinbare oder inhaltlich widersprüchliche Entscheidungen drohen. Art 12 und 13 EuUVO verfolgen demnach den Zweck, einander widersprechende Entscheidungen in verschiedenen Mitgliedstaaten zu vermeiden (2 Ob 217/12v mwN).
4. Art 12 EuUVO ist mit einer Ausnahme wortgleich mit Art 27 EuGVVO (nur das Wort „Klagen“ ist durch das Wort „Verfahren“ ersetzt) und in der Zielrichtung ident. Es kann daher auch auf die Rechtsprechung und das Schrifttum zu Art 27 EuGVVO zurückgegriffen werden (2 Ob 217/12v).
5. Die Minderjährige ist nicht Partei (Beteiligte) des ungarischen Verfahrens. Die Anwendbarkeit des Art 12 EuUVO hängt davon ab, ob sie und ihre Mutter, die Partei des ungarischen Verfahrens ist, als ein und dieselbe Partei anzusehen sind. Das Rekursgericht hat sich mit dieser Frage nicht ausdrücklich auseinandergesetzt. Sie ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht zweifelsfrei gelöst, weshalb der Senat den Gerichtshof mit dieser Frage befassen wird.
6. Die Identität des Anspruchs wird in der dem Europäischen Gerichtshof folgenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dann angenommen, wenn „Grundlage“ und „Gegenstand“ des Verfahrens übereinstimmen (6 Ob 122/09y; 2 Ob 217/12v je mwN; RIS-Justiz RS0118405; RS0111769). Derselbe Gegenstand liegt nicht in der Identität der Klage- oder Antragsbegehren, sondern im gemeinsamen Zweck der Klagen oder Anträge. Es ist entscheidend, ob es im Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten um dieselbe Frage geht, sodass nach der Logik nur eine einheitliche Entscheidung für beide Parteien möglich ist (6 Ob 122/09y mwN; 2 Ob 217/12v). Die Grundlage des Anspruchs umfasst den Sachverhalt und die Rechtsvorschriften, auf die die Klage gestützt wird (6 Ob 122/09y mwN).
7. Im Unterhaltsstreit geht es im Kern darum, ob, in welcher Höhe und für welchen Zeitraum die eine Partei der anderen Unterhalt schuldet (2 Ob 217/12v mwN; Andrae in Rauscher, EuZPR/EuIPR [2010] Art 12 EG-UntVO Rz 6).
8. Nach diesen Grundsätzen fehlt es an der Anspruchsidentität jedenfalls für den vom Kind im österreichischen Verfahren vom bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils des ungarischen Gerichts begehrten Unterhalt, begehrt doch der Vater in diesem die Festsetzung seiner Geldunterhaltsverpflichtung erst ab diesem Zeitpunkt. Die Frage der Parteienidentität ist insoweit nicht erheblich. Für den beschriebenen Zeitraum kann daher das ungarische Verfahren das Verfahrenshindernis der Rechtshängigkeit für das vorliegende Unterhaltsverfahren nicht begründen.
9. Angemerkt sei, dass im Rahmen des Art 12 EuUVO das Zweitgericht die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts nicht nachzuprüfen hat (vgl 6 Ob 295/00a; RIS-Justiz RS0114821; Mayr in Fasching/Konecny² V/1 Art 27 EuGVVO Rz 24; Andrae in Rauscher, EuZPR/EuIPR [2010] Art 12 EG-UntVO Rz 14; Tiefenthaler in Czernich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht³ Art 27 EuGVVO Rz 14 je mwN).
10. Eine Erklärung der Unzuständigkeit nach Art 13 Abs 2 EuUVO ist schon deshalb ausgeschlossen, weil das österreichische Verfahren nicht mehr in erster Instanz anhängig ist.
11. Der Oberste Gerichtshof kann in der Sache (Unterhaltsverpflichtung des Vaters im aus dem Spruch ersichtlichen Zeitraum) selbst nicht entscheiden, weil das Rekursgericht nicht meritorisch entschieden hat (vgl RIS-Justiz RS0007037; RS0065254; 5 Ob 211/10f). Es war daher wie aus dem Spruch ersichtlich vorzugehen.
Zusatzinformationen
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2013:0060OB00240.12F.0606.001 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
MAAAD-45546