OGH vom 19.12.2012, 6Ob230/12k

OGH vom 19.12.2012, 6Ob230/12k

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers C***** W*****, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin N***** W*****, vertreten durch Hornek Hubacek Lichtenstrasser Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Rückführung der mj A***** C***** W*****, geboren am , nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen, über den Revisionsrekurs des Antragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 48 R 136/12y 52, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom , GZ 9 Ps 264/11s 42, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Antragsteller und Antragsgegnerin sind die ehelichen Eltern des im August 2001 in Florida geborenen Kindes, wo es bis Dezember 2010 mit seiner Mutter lebte. Der Vater ist Deutscher, die Mutter ist Staatsangehörige der Ukraine. Das Kind besitzt die deutsche und die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Ehe der Eltern wurde im Juni 2006 von einem Gericht in Florida rechtskräftig geschieden. Die Obsorge für das Kind wurde beiden Elternteilen übertragen. Diese vereinbarten im Scheidungsvergleich, dass das Kind mit Ausnahme bestimmter geregelter Zeiten bei seiner Mutter lebt. Sie vereinbarten darin weiters, den Wohnort des Kindes nicht vor vorherigem Gerichtsbeschluss oder vor vorheriger schriftlicher Vereinbarung beider Elternteile auf einen Ort außerhalb des Bezirks des 20 th Judicial Circuit Court in Florida zu verlegen.

Der Vater hielt sich im Jahr 2008 vom 18. März bis Anfang Juli und vom 30. August an rund 14 Tage in den Vereinigten Staaten auf. Seither lebt er mit seiner neuen Ehefrau und deren Tochter in Berlin. Er war nicht mehr in den Vereinigten Staaten.

Im Sommer 2009 besuchte ihn seine Tochter einen Monat lang in Berlin. In der Zwischenzeit hatte es kaum telefonischen Kontakt zwischen den beiden gegeben. Nach dem Aufenthalt in Berlin erhielt das Kind psychologische Unterstützung. Auch seine schulischen Leistungen ließen nach. Zwischen Vater und Tochter fand bis zum Treffen in Berlin am 18. und kein persönlicher Kontakt statt. Telefonisch sowie über Skype hatten sie jedoch Kontakt.

Die Mutter beabsichtigte zu ihrem Lebensgefährten nach Wien zu übersiedeln. Das Kind war damit einverstanden. Am stellte sie bei einem Gericht in Florida den Antrag auf Wohnsitzverlegung nach Wien. Der Vater, dem der Antrag am zugestellt worden war, erhob gegen die Wohnsitzverlegung Widerspruch. Darin führte er an, er sei im Allgemeinen nicht gegen die Wohnsitzverlegung, der Umzug mit dem Kind in ein unbekanntes Land auf einem anderen Kontinent stelle jedoch eine wesentliche Änderung des Lebensstils und der Kultur dar.

Seit hält sich die Mutter mit dem Kind in Österreich auf. Dem Vater war die Anschrift des Kindes in Wien schon am bekannt. Seit ist das Kind in Wien amtlich gemeldet.

Der Vater ist Eigentümer eines Hauses in C***** C*****, Florida, das er vermietete. Die Mutter hat keinen Wohnsitz in Florida.

Im November 2011 stellte der Vater den Antrag auf Rückführung des Kindes nach dem Haager Übereinkommen vom über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ). Die Mutter habe das Kind trotz der gemeinsamen Obsorgeberechtigung ohne Einverständnis des Vaters und ohne entsprechenden Gerichtsbeschluss nach Österreich verbracht. Er beantragte, das Kind an ihn in C***** C*****, Florida, oder in Berlin zurückzugeben.

Die Vorinstanzen wiesen den Antrag des Vaters ab. Das Rekursgericht vertrat die Auffassung, dass der Vater im Zeitpunkt der Entführung nur ein Besuchsrecht im Sinne eines bloßen Umgangsrechts, nicht aber sein Mitobsorgerecht ausgeübt habe. Da der Vater zudem nicht mehr in den Vereinigten Staaten, sondern in Deutschland lebe und dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, sei eine Situation gegeben, die mit jener vergleichbar sei, in der der Antragsteller zwischenzeitig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Entführungsstaat habe. In einem solchen Fall sei eine Rückführungsentscheidung sinnlos bzw werde das HKÜ unanwendbar. Im zu entscheidenden Fall widerspreche eine Rückführung des Kindes auch aus diesem Grund dem Zweck des HKÜ.

Das Rekursgericht sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob das HKÜ anzuwenden sei, wenn der Antragsteller in einem Drittstaat lebe und dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, nicht vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Antragstellers ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig, weil eine iSd § 62 Abs 1 AußStrG erhebliche Rechtsfrage nicht vorliegt.

1. Zweck des HKÜ ist es, die ursprünglichen tatsächlichen Verhältnisse wiederherzustellen, um zu gewährleisten, „dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht auf persönlichen Verkehr in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird“ (Art 1 HKÜ). Das Übereinkommen soll verhindern, dass für das Kind im Zufluchtsland eine Aufenthaltszuständigkeit begründet wird, die eine Abänderung der Obsorgeregelung im Herkunftsland ermöglicht (RIS Justiz RS0109515). Das Übereinkommen strebt die Wiederherstellung der ursprünglichen Tatsachenverhältnisse nach einem unter Ausblendung von Rechtsfragen durchgeführten Schnellverfahren an (RIS Justiz RS0074532).

2. Sachliche Anwendungsvoraussetzung für das HKÜ ist die „Entführung“, das ist das „widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten“ des Kindes außerhalb des Herkunftslands (6 Ob 73/12x; Nademleinsky/Neumayr Internationales Familienrecht Rz 09.04).

3. Gemäß Art 3 HKÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes als widerrechtlich, wenn

a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Herkunftsstaats zusteht, und

b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

4. Die in dieser Bestimmung angeführten Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen (RIS Justiz RS0106624). Bei der Beurteilung der Widerrechtlichkeit der Verbringung von Kindern nach dem HKÜ und der Frage des Bestehens eines (Mit )Sorgerechts nach dem anzuwendenden Sachrecht knüpft Art 3 HKÜ unmissverständlich an den Zeitpunkt unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes an (RIS Justiz RS0119948).

5. Das Rekursgericht hat nicht das Vorliegen der Voraussetzung nach Art 3 lit a HKÜ verneint, ist es doch davon ausgegangen, dass dem Vater unmittelbar vor dem Verbringen des Kindes das Sorgerecht, insbesondere das Recht den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen (Art 5 lit a HKÜ) zukam.

6. Der Revisionsrekurswerber meint, trotz Getrenntlebens der Eltern könne das Sorgerecht noch tatsächlich ausgeübt werden. Daher hätte das Rekursgericht zu dem Schluss kommen müssen, dass er sein Obsorgerecht sehr wohl tatsächlich ausgeübt habe.

Mit diesen Ausführungen wird eine erhebliche Rechtsfrage (§ 62 Abs 1 AußStrG) nicht aufgezeigt.

7. Das Rekursgericht ist der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gefolgt, wonach die Anwendungsvoraussetzung der tatsächlichen Ausübung des Sorgerechts oder Mitsorgerechts bei einer Trennung der Eltern in der Regel nur der Elternteil erfüllt, bei dem das Kind wohnt, und die Ausübung eines bloßen Umgangsrechts nicht genügt (RIS Justiz RS0106625).

8. Die von Nademleinsky/Neumayr (Internationales Familienrecht Rz 09.07) an dieser Rechtsprechung geübte Kritik, richtigerweise sei die tatsächliche Ausübung der Obsorge iSd Art 3 HKÜ nur in Situationen zu verneinen, in welchen ein sorgeberechtigter Elternteil sich „objektiv nicht mehr für das Kind interessiert“, bedarf im vorliegenden Fall keiner näheren Prüfung, zumal der Rechtsmittelwerber nicht konkret darlegt, worin nach den getroffenen Feststellungen die tatsächliche Ausübung des Mitsorgerechts des Antragstellers, der den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes mehr als zwei Jahre vor dem Verbringen nicht mehr betreten hat, liegen soll. Der Vater hatte mehr als ein Jahr vor dem Verbringen keinen Besuchskontakt mit seiner Tochter sei es in Florida, sei es in Berlin , und er nahm am Leben des Kindes nur noch durch Telefonate Anteil.

9. Scheitert eine Rückführung des Kindes (Art 12 HKÜ) schon wegen Fehlens der Voraussetzung der widerrechtlichen Verbringung nach Art 3 HKÜ, so ist die Frage der Anwendbarkeit des HKÜ, wenn der Antragsteller in einem Drittstaat lebt, nicht präjudizell.

Die Zurückweisung des ordentlichen Revisionsrekurses konnte sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 letzter Satz AußStrG).