OGH vom 14.04.2020, 6Nc6/20i
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Gitschthaler sowie Univ.-Prof. Dr. Kodek als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen L*****, geboren am ***** 2007, *****, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Hall in Tirol vom , GZ 6 Ps 141/14i-137, gemäß § 111 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Villach wird genehmigt.
Text
Begründung:
L*****, geboren am ***** 2007, und I*****, geboren am ***** 2011, sind die ehelichen Kinder von M***** und J*****, die seit März 2014 getrennt leben. Nach mehreren Obsorge-, Kontaktrechts- und Unterhaltsverfahren (zuletzt) vor dem Bezirksgericht Hall in Tirol einigten sich die Eltern am dahin, dass die Obsorge für beide Kinder weiterhin jeweils dem Vater und der Mutter zukommt sowie dass L***** hauptsächlich im Haushalt des Vaters und I***** hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut werden; darüber hinaus wurde eine Kontaktregelung getroffen. Seit lebt L***** deshalb nunmehr beim Vater in Villach, I***** lebt (weiterhin) bei ihrer Mutter in Kolsass (Sprengel des Bezirksgerichts Hall in Tirol).
Mit Beschluss vom übertrug das Bezirksgericht Hall in Tirol von Amts wegen gemäß § 111 JN die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache betreffend L***** an das Bezirksgericht Villach. Da dieser sich nunmehr ständig in Villach aufhält, sei es zweckmäßiger, wenn das Bezirksgericht Villach die Pflegschaftssache führe.
Mit Beschluss vom verweigerte das Bezirksgericht Villach die Übernahme der Pflegschaftssache. Wenngleich mit der Regelung vom die (gemeint: alle) offenen Anträge erledigt wurden und der Wohnort von L***** diesen (allein) betreffende künftige Verfahrensschritte erleichtern dürfte, wenn dessen Pflegschaftsverfahren vom Bezirksgericht Villach geführt wird, so müsse doch angesichts der langjährigen Vorgeschichte damit gerechnet werden, dass bei neuerlichem Auftreten von elterlichen Konflikten beide Kinder betroffen sein werden. Bei einer Trennung der Verfahren würde dies doppelten Aufwand auf allen Seiten (jedenfalls für das Gericht und die Eltern) bedeuten, unter Umständen könnte auch „gegenteilig gewertet“ werden. Es sei daher zweckmäßiger, das Verfahren in Ansehung beider Kinder beim Bezirksgericht Hall in Tirol zu belassen, bei dem auch schon mehrjährige Erfahrung im Umgang mit den beteiligten Personen besteht. Schließlich gelte es als nicht zweckmäßig, eine für Geschwister geführte Pflegschaftssache aufzuteilen.
Beide Beschlüsse wurden den Parteien zugestellt und sind in Rechtskraft erwachsen.
Das Bezirksgericht Hall in Tirol legte den Akt gemäß § 111 Abs 2 JN dem Obersten Gerichtshof vor.
Rechtliche Beurteilung
Die Übertragung ist zu genehmigen.
1. Nach § 111 Abs 1 JN kann das zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte zuständige Gericht, wenn dies im Interesse eines Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird, seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen. Nach herrschender Auffassung ist ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Minderjährigen regelmäßig zweckmäßig und von wesentlicher Bedeutung. Besteht daher dieses Naheverhältnis zwischen dem ursprünglich zuständigen Gericht und dem Minderjährigen nicht mehr, verlegt dieser also insbesondere den Mittelpunkt seiner gesamten Lebensführung (stabil) in einen anderen Gerichtssprengel, so kann die Zuständigkeit übertragen werden (vgl bloß 6 Nc 15/09x; 6 Ob 21/17s EF-Z 2018/45; Fucik in Fasching/Konecny³ I [2013] § 111 JN Rz 3; Mayr in Rechberger, ZPO5 [2019] § 111 JN Rz 2; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG [2019] § 111 JN Rz 11 – alle mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
2. Es ist zwar richtig, dass eine solche Übertragung zu unterbleiben hat, wenn dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt (vgl etwa 4 Ob 2288/96s). Dies kann aber nicht bedeuten, dass nach rechtskräftigem Abschluss sämtlicher bislang geführter Verfahren und (nach derzeitigem Verfahrensstand: stabilem) Aufenthalt des Minderjährigen in einem anderen Gerichtssprengel die Zuständigkeit bloß deshalb beim vormals zuständigen Pflegschaftsgericht zu verbleiben hat, weil die Möglichkeit bestehen könnte, dass ein Verfahren vor dem Gericht des nunmehrigen Aufenthalts eingeleitet werden könnte. Der Frage der Sachkenntnis des bisher zuständigen Pflegschaftsgerichts kann vielmehr nur dann Bedeutung zukommen, wenn noch über einen offenen Sachantrag zu entscheiden ist, andernfalls ja dieses Gericht theoretisch bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Kindes zuständig bleiben würde, selbst wenn nie weitere Anträge gestellt werden sollten (6 Nc 21/17s; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 111 JN Rz 16).
3. Der Oberste Gerichtshof hat in jüngster Zeit mehrfach ausgesprochen (RS0129854), dass eine Teilübertragung der Zuständigkeit bei Pflegschaftsverfahren mehrerer Kinder, die aus der selben Ehe oder Lebensgemeinschaft entstammen, in der Regel nicht als zweckmäßig anzusehen sei; eine Art „gespaltene“ Zuständigkeit mehrerer Pflegschaftsgerichte sei zumeist schon aus praktischen Überlegungen (Aktenführung udgl) zu vermeiden. Diesen Entscheidungen lagen jedoch Sachverhalte zugrunde, mit denen der hier zu beurteilende nicht vergleichbar ist: So war in dem der Entscheidung 6 Nc 42/14z zugrunde liegenden Fall die Übertragung der Zuständigkeit ohnehin für beide Geschwister parallel vorgenommen worden; eine Aufspaltung der Zuständigkeit war von vorneherein kein Thema gewesen. In dem der Entscheidung 10 Nc 8/16g zugrunde liegenden Fall waren überweisendes und überwiesenes Gericht lediglich 15 km voneinander entfernt gewesen, weshalb der Oberste Gerichtshof in der (teilweisen) Übertragung der Zuständigkeit „im Hinblick auf die örtliche Situation wenig Vorteile“ sah. Und in der Entscheidung 10 Nc 5/18v betonte der Oberste Gerichtshof, dass eine Zuständigkeitsübertragung an das Wohnsitzgericht einen stabilen Aufenthalt des Pflegebefohlenen voraussetze; stehe dessen Lebensmittelpunkt noch nicht fest, werde die Übertragung als unzweckmäßig erachtet, etwa dann, wenn – wie im dortigen Fall – noch keine endgültige Entscheidung über die Obsorge vorliegt, der Aufenthalt des gesetzlichen Vertreters und damit des Kindes instabil und die zukünftige Lebenssituation unklar ist.
All diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben, weshalb gegen eine Übertragung der Zuständigkeit hinsichtlich L***** an das Bezirksgericht Villach keine Bedenken bestehen (vgl auch Fucik in Fasching/Konecny³ I § 111 JN FN 60 für den Fall, dass die Geschwister getrennt in Pflegefamilien untergebracht sind).
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2020:0060NC00006.20I.0414.000 |
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