OGH vom 16.06.2011, 6Nc6/11a
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** GmbH, *****, vertreten durch Schreckeneder Schröder Rechtsanwälte OG in Zell am See, gegen die beklagte Partei B***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. Okan Ersoy, Rechtsanwalt in Wien, wegen 703,04 EUR sA, über den Kompetenzkonflikt zwischen den Bezirksgerichten Innsbruck, Hietzing und dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Führung des Verfahrens fällt in die Zuständigkeit des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien.
Der Zurückweisungsbeschluss des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien wird aufgehoben.
Text
Begründung:
Die klagende Partei, die von der beklagten Partei 703,04 EUR sA begehrt, brachte eine Mahnklage beim Bezirksgericht Innsbruck ein. Zur Zuständigkeit brachte die klagende Partei vor, Innsbruck sei als Erfüllungsort vereinbart worden. Das Bezirksgericht Innsbruck erließ am einen Zahlungsbefehl. Die beklagte Partei erhob rechtzeitig Einspruch. Darin erhob sie die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit. Die Parteien hätten keinen Erfüllungsort vereinbart; Sitz der beklagten Partei sei in Wien.
Das Bezirksgericht Innsbruck stellte den Einspruch der klagenden Partei zu und räumte ihr für eine „geeignete Antragstellung“ zur Einrede der Unzuständigkeit eine Frist von zwei Wochen ein. Daraufhin beantragte die klagende Partei unter Berufung auf § 230a ZPO bzw (in einem weiteren am selben Tag elektronisch eingebrachten Schriftsatz) § 261 Abs 6 ZPO die „Aufhebung des Zurückweisungsbeschlusses“ und Überweisung der Rechtssache an das nicht offenbar unzuständige Bezirksgericht Hietzing.
Mit Beschluss vom sprach das Bezirksgericht Innsbruck seine Unzuständigkeit aus und überwies die Rechtssache an das „offenbar zuständige“ Bezirksgericht Hietzing. Die Urschrift dieses Beschlusses findet sich auf der ersten Seite des Antrags auf Überweisung gemäß § 230a ZPO (ON 4).
Im Akt erliegt jedoch eine Beschlussausfertigung mit abweichenden Wortlaut. Darin wird ausgesprochen, dass der in Wahrheit nicht gefasste Zurückweisungsbeschluss vom gemäß § 230a ZPO aufgehoben und die Rechtssache an das nicht offenbar unzuständige Bezirksgericht Hietzing überwiesen wird (ON 6).
Das Bezirksgericht Hietzing wies mit Beschluss vom (ON 7) die Klage wegen sachlicher Unzuständigkeit zurück. Die beklagte Partei sei eine Kapitalgesellschaft. Das der Klage zugrunde liegende Geschäft sei offenbar für die beklagte Partei ein unternehmensbezogenes Geschäft (§ 344 Abs 1 UGB). Damit falle diese Streitsache in die Handelsgerichtsbarkeit (§ 51 Abs 1, Z 1, § 52 Abs 1 JN). In Wien sei daher das Bezirksgericht für Handelssachen Wien zuständig.
Daraufhin beantragte die klagende Partei die Überweisung der Rechtssache gemäß § 261 Abs 6 ZPO an das nicht offenbar unzuständige Bezirksgericht für Handelssachen Wien.
Mit Beschluss vom hob das Bezirksgericht Hietzing unter Berufung auf § 261 Abs 6 ZPO den Zurückweisungsbeschluss auf und überwies die Klage an das Bezirksgericht für Handelssachen Wien.
Das Bezirksgericht für Handelssachen Wien wies mit Beschluss vom die Klage zurück und sprach seine Unzuständigkeit aus. Die Zuständigkeit des Bezirksgerichts Hietzing sei bereits bindend begründet worden. Bei der Überweisung nach § 230a ZPO habe das Bezirksgericht Hietzing als Adressatgericht keine Art der Unzuständigkeit mehr von Amts wegen wahrnehmen dürfen. Im Fall der Überweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit an das allgemeine Gericht eines anderen Ortes könne sich dieses nicht mehr für sachlich unzuständig erklären, weil das Kausalgericht zuständig wäre. Der negative Kompetenzkonflikt werde gemäß § 47 JN vom gemeinsam übergeordneten Gericht zu entscheiden sein.
Mit Verfügung vom legte das Bezirksgericht für Handelssachen Wien den Akt dem Oberlandesgericht Wien gemäß § 47 JN zur Entscheidung über den Kompetenzkonflikt vor.
Das Oberlandesgericht Wien sprach mit Beschluss vom , 2 Nc 1/11g, aus, es sei zur Entscheidung über den behaupteten Kompetenzkonflikt nicht zuständig. Die Rechtssache werde an den Obersten Gerichtshof überwiesen. Weil an dem Zuständigkeitsstreit auch das Bezirksgericht Innsbruck, somit ein außerhalb des Sprengels des zur Entscheidung angerufenen Oberlandesgerichts Wien liegendes Bezirksgericht beteiligt sei, sei der Oberste Gerichtshof zur Entscheidung berufen.
Rechtliche Beurteilung
Hierzu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
1.1. Gemäß § 47 Abs 1 JN sind Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gerichten erster Instanz über die Zuständigkeit für eine bestimmte Rechtssache von dem diesen Gerichten übergeordneten gemeinsamen höheren Gericht zu entscheiden.
1.2. Im vorliegenden Fall kann keinem Zweifel unterliegen, dass ein Kompetenzkonflikt vorliegt, haben doch zwischenzeitlich das Bezirksgericht Innsbruck, das Bezirksgericht Hietzing und das Bezirksgericht für Handelssachen Wien jeweils seine Zuständigkeit verneint. Ein negativer Kompetenzkonflikt liegt auch bei einer Überweisung nach § 230a ZPO und einer Rücküberweisung nach § 261 Abs 6 ZPO vor (OLG Wien WR 399 [1989]; Ballon in Fasching 2 § 47 JN Rz 19). Gleiches gilt, wenn sich das Adressatgericht bei einer Überweisung nach § 230a ZPO für unzuständig erklärt, weil es die Zuständigkeit des Erstgerichts für gegeben erachtet, und die Klage rechtskräftig zurückweist ( Mayr in Fasching/Konecny 2 § 230a ZPO Rz 24).
1.3. Zwar hat das Bezirksgericht Innsbruck im vorliegenden Fall ebenso wie das Bezirksgericht Hietzing und das Bezirksgericht für Handelssachen Wien seine Zuständigkeit verneint. Allerdings besteht ein Streit über die Zuständigkeit iSd § 47 Abs 1 JN nur zwischen dem Bezirksgericht Hietzing und dem Bezirksgericht für Handelssachen Wien. Insoweit hätte daher auch das Oberlandesgericht Wien über den Kompetenzkonflikt entscheiden können. Weil dieses jedoch bereits unanfechtbar (§ 47 Abs 3 JN) seine Zuständigkeit verneint hat, ist der Oberste Gerichtshof als allen beteiligten Gerichten gemeinsam übergeordnetes Gericht zur Entscheidung berufen.
2.1. Das österreichische Zivilverfahrensrecht kennt zwei Formen der Überweisung: Nach § 261 Abs 6 ZPO kann der Kläger, wenn der Beklagte das Fehlen der sachlichen oder örtlichen Zuständigkeit einwendet oder das Gericht seine Zuständigkeit von Amts wegen prüft, den Antrag stellen, dass das Gericht für den Fall, dass es seine Unzuständigkeit ausspricht, die Klage an das vom Kläger namhaft gemachte Gericht überweise. Diesem Antrag hat das Gericht stattzugeben, wenn es das andere Gericht nicht für offenbar unzuständig erachtet. Das Gericht, an das überwiesen wurde, ist an die Überweisung insoweit gebunden, als es sich nicht mit der Begründung für unzuständig erklären kann, dass doch das Überweisungsgericht zuständig sei ( G. Kodek in Fasching/Konecny 2 § 261 ZPO Rz 175). Hingegen wird über die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Gerichts, an das gemäß § 261 Abs 6 ZPO überwiesen wurde, nicht endgültig entschieden. Das Adressatgericht kann nur nicht die Sache wieder an das überweisende Gericht zurück überweisen (SZ 7/6). Es hat jedoch seine unprorogable Unzuständigkeit von Amts wegen wahrzunehmen, wenn weder es selbst noch das überweisende Gericht, sondern ein drittes Gericht ausschließlich zuständig ist ( G. Kodek aaO Rz 177). Nur in diesem Rahmen ist die Bindung des Adressatgerichts an den Überweisungsbeschluss zu verstehen ( G. Kodek aaO).
2.2. Außerdem sieht § 230a ZPO eine Überweisungsmöglichkeit vor, wenn die Klage zurückgewiesen wurde, ohne dass der Kläger Gelegenheit hatte, einen Überweisungsantrag nach § 261 Abs 6 ZPO zu stellen. Diesfalls kann nach § 230a letzter Satz ZPO das Adressatgericht einen Mangel der Zuständigkeit nur noch wahrnehmen, wenn der Beklagte rechtzeitig die Einrede der Unzuständigkeit erhebt. Insoweit besteht daher entgegen einem Teil der Lehre (zB Fucik , RZ 1985, 263 f; Simotta , JBl 1988, 367 f) eine eindeutig normierte Bindungswirkung des Adressatgerichts (7 Ob 584/93; Mayr in Fasching/Konecny 2 § 230a ZPO Rz 22). Nach den Gesetzesmaterialien wollte der Gesetzgeber mit der Formulierung des letzten Satzes des § 230a ZPO klarstellen, „dass das Gericht, an das die Sache überwiesen wird, seine Zuständigkeit nicht mehr von Amts wegen prüfen darf“ (JAB 1337 BlgNR 15. GP 12).
3.1. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Überweisung vom Bezirksgericht Innsbruck an das Bezirksgericht Hietzing um eine solche nach § 261 Abs 6 ZPO, weil der Kläger Gelegenheit hatte, einen Überweisungsantrag zu stellen. Damit hätte das Bezirksgericht Hietzing als Adressatgericht aber nur seine unprorogable Unzuständigkeit von Amts wegen wahrnehmen dürfen (OLG Wien MietSlg 34.743; G. Kodek in Fasching/Konecny 2 § 261 ZPO Rz 177; Simotta , JBl 1988, 367). Aus § 261 Abs 6 ZPO ergibt sich nämlich der Grundsatz der Einheit des Verfahrens vor dem ursprünglich angerufenen und dem Adressatgericht. Daher kann im Fall der Überweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit an das allgemeine Gericht eines anderen Ortes sich dieses nicht mehr für sachlich unzuständig mit der Begründung erklären, dass das Kausalgericht zuständig wäre (EvBl 1936/184).
3.2. Die vom Bezirksgericht Hietzing ausgesprochene Zurückweisung der Klage war daher verfehlt, weil die Gerichte der allgemeinen Gerichtsbarkeit und der Kausalgerichtsbarkeit zueinander nicht im Verhältnis der unprorogablen Unzuständigkeit stehen.
3.3. Rechtsgrundlage für den die gesetzwidrige Zurückweisung der Klage beseitigenden - Überweisungsbeschluss des Bezirksgerichts Hietzing an das Bezirksgericht für Handelssachen Wien war nicht die von ihm herangezogene Bestimmung des § 261 Abs 6 ZPO, sondern § 230a ZPO, weil in diesem Fall die klagende Partei keine Gelegenheit zur vorherigen Stellung eines Überweisungsantrags hatte. Dies führt jedoch dazu, dass das Bezirksgericht für Handelssachen Wien als Adressatgericht die Klage nicht mehr von Amts wegen zurückweisen hätte dürfen.
4.1. Bei der Entscheidung über negative Kompetenzkonflikte ist nach ständiger Rechtsprechung auf eine allfällige Bindungswirkung des ersten Beschlusses Bedacht zu nehmen ( Ballon in Fasching 2 § 47 JN Rz 17). Die Vorschriften über die Bindung an rechtskräftige Entscheidungen über die Zuständigkeit und an Überweisungsbeschlüsse (§ 46 Abs 1 JN,§ 261 Abs 6 ZPO,§ 474 Abs 1 ZPO iVm § 499 ZPO) haben den Zweck, Kompetenzkonflikte nach Möglichkeit von vornherein auszuschließen. Damit nimmt der Gesetzgeber in Kauf, dass allenfalls auch ein an sich unzuständiges Gericht durch eine unrichtige Entscheidung gebunden wird ( Ballon aaO mwN). Daher ist ein negativer Zuständigkeitskonflikt, der durch eine amtswegige Unzuständigkeitserklärung des Adressatgerichts ausgelöst wurde, zu dessen Lasten zu lösen (6 Nd 516/00; Mayr in Fasching/Konecny 2 § 230a ZPO Rz 24).
4.2. Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt jedoch darin, dass zwei Überweisungsbeschlüsse hintereinander erfolgten, und zwar zunächst nach § 261 Abs 6 ZPO vom Bezirksgericht Innsbruck an das Bezirksgericht Hietzing und anschließend gemäß § 230a ZPO vom Bezirksgericht Hietzing an das Bezirksgericht für Handelssachen Wien. Die Berufung des Bezirksgerichts Hietzing auf § 261 Abs 6 ZPO war daher insoweit verfehlt.
Im vorliegenden Fall haben sowohl das Bezirksgericht Hietzing als auch das Bezirksgericht für Handelssachen Wien gegen die Bindungswirkung des jeweils das Verfahren an sie überweisenden Beschlusses verstoßen.
4.3. Damit hat die Entscheidung über den Kompetenzkonflikt ausschließlich aufgrund der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung zu erfolgen. Nach dieser fällt aber die Führung des vorliegenden Verfahrens in die Zuständigkeit des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (§ 51 Abs 1 Z 1, § 52 Abs 1 JN). Der von diesem Gericht gefasste gesetzwidrige Zurückweisungsbeschluss war aufzuheben (SSV-NF 2/64; Ballon in Fasching ² § 47 JN Rz 15).