zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
OGH vom 29.09.2021, 7Ob161/21h

OGH vom 29.09.2021, 7Ob161/21h

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Stefula und Dr. Weber als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin L***** H*****, geboren ***** 2009, *****, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Kinder- und Jugendhilfe MA 11 – Regionalstelle 23, 1230 Wien, Röszlergasse 15), und den Verein VertretungsNetz Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 1050 Wien, Ziegelofengasse 33/1/3, (Bewohnervertreterin Mag. K***** S*****, MA), diese vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, Einrichtungsleiterin B***** S*****, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 44 R 288/21k-12, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom , GZ 18 Ha 1/21h-5, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

[1] Die 11-jährige Bewohnerin lebt seit Anfang Juli 2020 in einer institutionalisierten Wohngemeinschaft. Die volle Erziehung für die Bewohnerin kommt dem Kinder- und Jugendhilfeträger zu.

[2] Die Bewohnerin leidet an einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung, einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten und einer Entwicklungsstörung im schulischen Bereich. Sie durchlebt krankheitsbedingt und aufgrund einer sehr niedrigen Frustrationstoleranz wiederkehrend Impulsdurchbrüche. Während dieser Durchbrüche beißt sie sich oder andere, kratzt sich oder andere, versucht sich die Haare auszureißen und schlägt mit dem Kopf gegen die Wand.

[3] Hat die Bewohnerin einen solchen Durchbruch, wird sie von ihren Betreuern entweder nur an den Händen oder auch mittels „Bärengriff“ festgehalten, bis Entspannung eintritt. Befinden sich auf der Wohnebene andere Bewohner, wird versucht, sie in den „Bewegungsraum“ zu bringen, der sich im Kellergeschoß befindet. Sie wird dabei entweder getragen oder die Betreuer haken sie unter, je nachdem, wie heftig ihr Impulsdurchbruch ist. Mitunter reicht die Androhung, sie in den Raum zu bringen, dass es der Bewohnerin gelingt, ihre Emotionen zu kanalisieren.

[4] Beim „Bewegungsraum“ handelt es sich um einen Kellerraum mit geringem Tageslichteinfall, der über den Eingangsbereich des Hauses erreichbar ist. Grundsätzlich soll dieser Raum der Beschäftigung und Entspannung dienen. Dort befindet sich ein Tischfußballtisch und ein Wasserbett sowie Haken an der Decke, um Schaukeln anzubringen. Weiters sind Matten vorhanden, die dazu dienen, „draufzuhauen“ oder – wenn die Bewohnerin mit dem Kopf gegen die Wand schlägt – diese zwischen sie und die Wand zu schieben.

[5] Die Bewohnerin mag diesen Raum an sich und ist gerne dort, sie lehnt es jedoch ab, „hingebracht“ zu werden. Bislang hat sie sich beim Verbringen in diesen Raum nicht verletzt.

[6] Zu Impulsdurchbrüchen der Bewohnerin, die ein Festhalten, Androhen des Festhaltens und Verbringen in den Bewegungsraum unumgänglich machte, ist es seit ihrer Betreuung in der Einrichtung zwar seltener gekommen, beispielsweise aber am , , , . Dabei wurde die Bewohnerin im Bewegungsraum unter anderem in Bauchlage festgehalten, dies auch am Wasserbett. Das Verbringen in den Bewegungsraum, das Zurückhalten und die Androhung des Zurückhaltens sowie der körperliche Zugriff und das Festhalten bei Impulsdurchbrüchen durch die Betreuer sind alternativlos.

[7] Der Verein beantragte – soweit im Revisionsrekursverfahren noch relevant – die vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen durch körperlichen Zugriff (Festhalten), Zurückhalten oder Androhung des Zurückhaltens, sowie Verbringen in den „Bewegungsraum“ formell und materiell auf ihre Zulässigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls für unzulässig zu erklären sowie allenfalls Auflagen gemäß § 15 Abs 2 HeimAufG zu erteilen. Das Verbringen einer 11-jährigen in den „Bewegungsraum“ durch Tragen oder Handführung sei keine alterstypische Freiheitsbeschränkung und mit einer Verletzungsgefahr verbunden. Das Festhalten in Bauchlage sei als besonders eingriffsintensive Maßnahme nicht verhältnismäßig. Auch seien die formellen Voraussetzungen für die Freiheitsbeschränkungen nicht erfüllt, insbesondere würden konkrete Ausführungen über die jeweiligen Abläufe in der Dokumentation fehlen.

[8] Die Einrichtungsleiterin erklärte, dem Antrag im Tatsachenbereich nicht entgegenzutreten.

[9] Das Erstgericht sprach – soweit im Revisionsrekursverfahren noch relevant – aus, dass die an der Bewohnerin vorgenommenen Maßnahmen des Festhaltens, des Verbringens in den „Bewegungsraum“, des Festhaltens im „Bewegungsraum“ sowie des Androhens des Festhaltens zulässig seien. Den Impulsdurchbrüchen der Bewohnerin könne nur durch Festhalten begegnet werden, weshalb die Maßnahmen als zulässig zu qualifizieren seien. Die Dokumentation, die auszugsweise in Kopie angeschlossen und einen Bestandteil der Entscheidung bilde, sei ausreichend und entspreche den gesetzlichen Anforderungen.

[10] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vereins teilweise Folge und änderte die Entscheidung dahin ab, dass es die an der Bewohnerin vorgenommenen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen des Zurückhaltens und der Androhung des Zurückhaltens sowie des körperlichen Zugriffs und des Festhaltens im Zeitraum von bis für unzulässig erklärte, ausgenommen im Zeitraum bis . Weiters erklärte es diese Maßnahmen für den Zeitraum ab bis für zulässig. Das Verbringen der Bewohnerin in den Bewegungsraum im Keller erklärte es ab ebenfalls für zulässig. Für jene Zeiträume, in denen Freiheitsbeschränkungen vorgenommen worden seien, die Bewohnervertretung jedoch nicht verständigt worden sei, sei die bekämpfte Entscheidung im Sinne einer Unzulässigerklärung der getroffenen Maßnahmen abzuändern. Für die übrigen Zeiträume sei die bekämpfte Entscheidung nicht zu beanstanden. Die an der Bewohnerin vorgenommenen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen seien aufgrund des festgestellten Sachverhalts bis zu einem derzeit noch unbestimmten zukünftigen Zeitpunkt notwendig, weshalb der längst mögliche Zeitraum des § 15 Abs 2 HeimAufG angeordnet werde. Das Verbringen in den Kellerraum stelle keine freiheitsbeschränkende Maßnahme dar, weil es nicht unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs der Bewohnerin bezwecke und sei daher ebenfalls zulässig.

[11] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mit der Begründung zu, es liege noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu den Folgen eines unterbliebenen Ausspruchs nach § 15 Abs 2 HeimAufG durch das Erstgericht vor.

[12] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[13] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, er ist auch im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

[14] 1. Dass es sich bei der Wohngemeinschaft, in der die Bewohnerin lebt, um eine Einrichtung gemäß § 2 Abs 1 HeimAufG handelt, ist nicht strittig.

[15] 2.1. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens nach dem HeimAufG sind die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen, die zur Zeit der Antragstellung noch aufrecht sind, gemäß § 11 ff HeimAufG und die nachträgliche Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen, die zur Zeit der Antragstellung nicht mehr aufrecht sind, gemäß § 19a HeimAufG (Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 11 HeimAufG Rz 16). In beiden Fällen muss der Antrag ausreichend bestimmt sein, also hinreichend deutlich erkennen lassen, welche Entscheidung der Antragsteller anstrebt und aus welchem Sachverhalt er dies ableitet (vgl § 9 Abs 1 AußStrG;Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 11 HeimAufG Rz 14).

[16] 2.2. Der vorliegende Antrag lässt nicht hinreichend deutlich erkennen, ob der Verein die generelle und auch umgesetzte Anordnung der körperlichen Eingriffe für den Fall eines Impulsdurchbruchs (Überprüfung fortdauernder Maßnahmen) überprüft haben will oder ausschließlich die konkret bezeichneten, bereits stattgefundenen Eingriffe (nachträgliche Überprüfung von Maßnahmen). Einerseits wird der Antrag nämlich ausdrücklich auf § 11 HeimAufG gestützt und auf Auflagen gemäß § 15 Abs 2 HeimAufG verwiesen, andererseits bezieht sich das Begehren auf die Überprüfung der bereits vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen. Somit ist schon der Prüfungsgegenstand unklar. Sollten die Freiheitsbeschränkungen bei Impulsdurchbrüchen aufgrund einer generellen, auch umgesetzten Anweisung in abgestufter Intensität für die Zukunft erfolgt sein, liegt eine fortdauernde Freiheitsbeschränkung vor.

[17] 2.3. Schon aus diesem Grund sind die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und Zurückverweisung der Heimaufenthaltssache an das Erstgericht zur Erörterung des Prüfungsumfangs unumgänglich. Dabei ist zu beachten, dass je nach Prüfungsgegenstand unterschiedliche verfahrensrechtliche Regelungen anzuwenden sind.

[18] 3. Schon jetzt ist für das fortzusetzende Verfahren auf Folgendes hinzuweisen:

[19] 3.1. Der vom Erstgericht beigezogene Sachverständige ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin sowie für Psychiatrie und Neurologie und Psychotherapeutische Medizin.

[20] Gemäß Anlage 14 der Verordnung der Bundesministerin für Gesundheit über die Ausbildung zur Ärztin für Allgemeinmedizin/zum Arzt für Allgemeinmedizin und zur Fachärztin/zum Facharzt (ÄAO 2015), BGBl II 147/2015 idgF, umfasst das Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin die Prävention, Diagnostik, Behandlung einschließlich Psychotherapeutischer Medizin und Rehabilitation von im Kindes- und Jugendalter auftretenden psychischen Krankheiten, Störungen und Verhaltensauffälligkeiten einschließlich der psychiatrischen Behandlung von entwicklungsbedingten psychischen Erkrankungen sowie die fachspezifische Begutachtung.

[21] Entgegen der Ansicht des Vereins ist aufgrund des Berufsbildes nicht erkennbar, inwiefern ein Sachverständiger aus dem Fachbereich Kinder- und Jugendpsychologie umfassendere entscheidungswesentliche Erkenntnisse bringen kann als der beigezogene Sachverständige aus dem Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Im Regelfall ist daher die Beiziehung eines weiteren Sachverständigen aus dem Fachbereich Kinder- und Jugendpsychologie nicht erforderlich.

[22] 3.2. Nach § 3 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinne dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmaßnahmen, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen oder durch deren Anordnung unterbunden wird. Eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871 [T6, T 19]). Mechanische Mittel der Freiheitsbeschränkung sind etwa unmittelbare körperliche Zugriffe mit dem Ziel, den Bewohner zurückzuhalten (RS0121662 [T16]).

[23] Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts stellt das Verbringen der Bewohnerin in den Bewegungsraum eine Freiheitsbeschränkung dar. Die Betreuer tragen die Bewohnerin nämlich nach den Feststellungen gegen ihren Willen in den „Bewegungsraum“ oder haken sie unter, um sie dorthin zu bringen. Sie verbringen sie gegen ihren Willen in einer durch ihre Krankheit herbeigeführten Ausnahmesituation an einen bestimmten Ort, an dem sie bleiben muss. Damit wird die Bewegungsfreiheit der Bewohnerin eingeschränkt. Die körperlichen Zugriffe sind bei der Elfjährigen keine alterstypischen Freiheitsbeschränkungen gemäß § 3 Abs 1a HeimAufG (vgl Bürger/Halmich, HeimAufG2§ 3 Rz 47).

[24] 3.3. Im fortzusetzenden Verfahren sind je nach Antragskonkretisierung aussagekräftige Feststellungen entweder zum Inhalt der zu prüfenden (andauernden) Anordnung und deren Umsetzung zu treffen oder zu den präzisierten vergangenen Vorfällen. Weiters ist dazu genau Stellung zu nehmen, inwiefern die Selbst- und Fremdgefahr nicht durch schonendere Mittel (auch im Vorfeld) abgewendet werden könnte oder konnte (vgl § 4 HeimAufG).

[25] 3.4. Sollte das Gericht eine noch aufrechte Freiheitsbeschränkung für zulässig erklären, hat es gemäß § 15 Abs 2 HeimAufG hiefür eine bestimmte, sechs Monate nicht überschreitende Frist zu setzen und die näheren Umstände sowie das zulässige Ausmaß der Freiheitsbeschränkung genau zu bestimmen. Die zulässige Freiheitsbeschränkung ist daher materiell, etwa nach dem Zweck und der Art des Eingriffs, seiner Intensität und Dauer möglichst exakt festzulegen (vgl 7 Ob 80/19v = RS01327229). Die bloße Zulässigerklärung einer Freiheitsbeschränkung durch „Zurückhalten und Androhen des Zurückhaltens sowie körperlicher Zugriffe und Festhalten“ entspricht diesen Vorgaben nicht.

[26] 4. Erst nach Erörterung und Klarstellung des Antrags sowie der Schaffung einer entsprechenden Sachverhaltsgrundlage kann über die Rechtssache abschließend entschieden werden.

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00161.21H.0929.000

Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.