OGH vom 12.12.1977, 1Ob716/77
Norm
Kopf
SZ 50/160
Spruch
Gegen den Eigentümer der Liegenschaft, von der bei baubehördlich genehmigten Abbrucharbeiten Mauerwerk auf die Nachbarliegenschaft fällt, steht dem so geschädigten Nachbarn ein vom Verschulden unabhängiger Ausgleichsanspruch zu
(OLG Wien 2 R 56/77; HG Wien 10 Cg 115/76)
Text
Der Kläger ist Eigentümer einer Liegenschaft mit dem Haus Wien 7, L-Gasse 47, das an die Liegenschaft mit dem Haus F-Gasse 50 grenzt, deren Eigentümerin die beklagte Partei ist. Über deren Auftrag führte im Jahre 1963 die Firma H P Gesellschaft m.b.H., ein Spezialabbruchunternehmen, den Abbruch des fünfstöckigen Gebäudes durch. Beim Niederreißen der Hoffassade dieses Gebäudes durchschlugen an 24. Juli und herabstürzende Teile des Mauerwerkes das Dach der auf der Liegenschaft des Klägers befindlichen Lagerhalle, die ebenso wie darin befindliches Inventar schwer beschädigt wurde. Der Kläger begehrt für den dadurch entstandenen Schaden von der beklagten Partei unter ausschließlicher Berufung auf das Bestehen eines nachbarrechtlichen Anspruches die Bezahlung des Betrages von 320 000 S samt Anhang.
Das Erstgericht stellte mit Zwischenurteil fest, daß der Zahlungsanspruch dem Gründe nach zu Recht bestehe. Die Bestimmungen der §§ 264 ff. ABGB dienten dem Schutz der Nachbarn vor übermäßigen Einwirkungen, die von einem anderen Grundstück ausgehen. Ein das Maß des Zulässigen übersteigender Eingriff sei rechtswidrig und gebe dem Geschädigten einen Ausgleichsanspruch, der nicht an die Voraussetzungen der §§ 1293 ff. ABGB geknüpft sei. Aus der Natur des nachbarrechtlichen Anspruches ergebe sich, daß ein schädigendes Verhalten des Abbruchunternehmens oder seiner Leute zu vertreten sei. Es gehe auch zu Lasten des Gründeigentümers, wenn die Ursache für den Schadenseintritt ein offensichtlich den abbruchtechnischen Erfordernissen widersprechendes schuldhaftes Verhalten des Abbruchunternehmens sei. Wer den Nutzen eines gefährlichen Unternehmens habe, müsse auch die entstehenden Nachteile ohne Rücksicht auf das Verschulden tragen.
Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichtes. Durch die Erteilung der Baubewilligung werde in aller Regel ein so hoher Anschein der Gefahrlosigkeit geschaffen, daß der Nachbar einen Untersagungsanspruch nicht mit Aussicht auf Erfolg geltend machen könne. Die Baubewilligung habe daher dieselbe tatsächliche Wirkung wie die im § 364a ABGB genannte behördliche Genehmigung der Anlage. Der Grundgedanke des Nachbarrechtes lasse den Schluß zu, daß der Bauführer in solchen Fällen nicht auf Gefahr und Kosten des scheinbar ohnehin geschützten und daher zur Duldung verhaltenen Nachbarn tätig werden und in dessen Eigentum eingreifen dürfe; eine analoge Anwendung des § 364a ABGB sei daher unter diesen Voraussetzungen zulässig. Auch der Kläger habe auf die sich aus der anzunehmenden behördlichen Bewilligung des Abbruches ergebende Gefahrlosigkeit vertrauen dürfen. Schadensfolgen auf dem Grund des Klägers seien für die beklagte Partei auch objektiv kalkulierbar gewesen.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Streitteile sind in einem eng verbauten Gebiet Wiens Grundnachbarn. Die beklagte Partei machte von dem grundsätzlichen Recht des Eigentümers, mit der Substanz nach Willkür zu schalten (§ 354 ABGB), insofern Gebrauch, als sie das auf ihrer Liegenschaft errichtete fünfstöckige Gebäude durch ein befugtes Spezialabbruchunternehmen abbrechen ließ. Die gesetzlichen Grenzen der Willkür ergeben sich aus den Bestimmungen der §§ 364 ff. ABGB. Nach § 364 Abs. 1 ABGB darf die Ausübung des Eigentums nur insofern stattfinden, als dadurch in die Rechte Dritter nicht eingegriffen wird. Bei den Abbrucharbeiten verletzte die beklagte Partei diese Bestimmung dadurch, daß von der Hoffassade ihres Gebäudes Teile des Mauerwerkes auf das Dach der Lagerhalle des Klägers fielen und hiebei Schäden verursachten. Für solche Eingriffe in das Eigentum des Nachbarn gewährt die herrschende Rechtsprechung nachbarrechtliche Ersatzansprüche, die als Ausgleichsansprüche bezeichnet werden, kein Verschulden voraussetzen und am ehesten einem Entschädigungsanspruch auf Anlaß der Enteignung gleichzusetzen sind (SZ 45/7; SZ 44/140; SZ 43/139 u. v. a.; zuletzt 7 Ob 581/77). Der OGH hat auch anerkannt, daß der Eigentümer dabei ein schädigendes Verhalten des von ihm mit Baumaßnahmen beauftragten Unternehmers und seiner Leute zu vertreten hat und zur ungeteilten Hand mit Personen haftet, die zufolge eines schuldhaften Verhaltens schadenersatzpflichtig sind (SZ 45/132 u. a.).
Daß Ausgleichsansprüche zustehen, wenn die Eingriffe in das Eigentumsrecht des Nachbarn von einer behördlich genehmigten Anlage ausgehen (§ 364a ABGB), ist unbestritten, wogegen die Anerkennung einer Erfolgshaftung bei nur aus den §§ 364, 364 b ABGB abgeleiteten Ansprüchen in der Literatur zum Teil sehr heftig bekämpft wird (vgl. die Angaben in EvBl. 1976/190; JBl. 1976, 312 und SZ 47/140; ebenso Koziol - Welser[3] II, 34). Der OGH hat, wie das Berufungsgericht bereits richtig darlegte, in seiner jüngeren Rechtsprechung diesen Einwendungen weitgehend Rechnung getragen und sich in zunehmendem Maß zur Auffassung bekannt, daß eine differenziertere Beurteilung notwendig sei und ein vom Verschulden unabhängiger Ausgleichsanspruch nur dann gerechtfertigt sein könne, wenn eine Analogie zu § 364a ABGB am Platze sei. Hiebei ist davon auszugehen, daß § 364a ABGB ein der Enteignung verwandter Tatbestand ist; der Geschädigte hat einen Ersatzanspruch, weil er im Interesse des Nachbarn Eingriffe in sein Eigentum hinnehmen muß, die über die normale Duldungspflicht, wie sie § 364 Abs. 2 ABGB vorschreibt, hinausgehen; die Interessen des Nachbarn sind also von der Rechtsordnung, oft wegen dahinterstehender Gründe des öffentlichen Wohls, höher bewertet als das Eigentumsrecht des Betroffenen. Jede Analogie zu § 364a ABGB hat am diese Grundsituation anzuknüpfen: Dem Geschädigten muß ein Abwehrrecht genommen sein, das ihm nach dem Inhalt seines Eigentums "an sich" zugestanden wäre (Rummel in JBl. 1967, 122; Ostheim in JBl. 1973, 577). Rummel (a. a. O., 122 ff.) hat allerdings Bedenken, daß diese Voraussetzungen grundsätzlich auch bei baubehördlich genehmigten Maßnahmen auf dem Nachbargrundstück zutreffen; er anerkennt aber doch das Bedürfnis nach Einführung der Gefährdungshaftung des Bauherrn, der sich an die behördlichen Vorschriften dessen Haftung für den Unternehmer nicht in Betracht kommt. Er befürwortet, soweit Verschulden nicht vorliegt, eine sorgfältig abgegrenzte Gefährdungshaftung bei Gefährlichkeit der Handlung, die eine bestimmte Schadensfolge für den Schädiger oder zumindest objektiv kalkulierbar mache, bei Nutznießung durch Eingriff in fremdes Eigentum, allerdings aber auch noch bei durch die baubehördliche Genehmigung begrundeter faktischer Vermutung der Gefahrlosigkeit die eine Abwehr erschwert, wenn auch nicht rechtlich ausschließt; das soll besonders gelten, wenn Nachbarn wegen ihres räumlichen Kontaktes gegenseitigen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind, ohne ausweichen oder sich vorsehen zu können (a. a. O., 126). Auch Ostheim (a. a. O., 578) hält die analoge Anwendung des § 364a ABGB dann für gerechtfertigt, wenn das Verschuldenserfordernis durch andere besondere Haftungsgrunde wie etwa besondere Gefährlichkeit der Eingriffshandlung oder die vermutete Gefahrlosigkeit bei genehmigter Bauführung ersetzbar ist. Unter Bedachtnahme auf diese Grundsätze hat der OGH einen verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch gegen den Grundnachbarn anerkannt, wenn der Schaden von einer Grundstücksvertiefung (§ 364b ABGB) anläßlich einer Bauführung ausging; er führte aus, daß die baubehördliche Bewilligung die gleiche tatsächliche Wirkung habe, die im § 364a ABGB einer behördlich genehmigten Anlage zuerkannt werde; der Grundnachbar müsse die scheinbar gefahrlose Vertiefung hinnehmen, bis sich die allenfalls doch unvermeidbare Schädigung zeige (JBl. 1976, 312). Rummel (JBl. 1976, 314) hat dieser Entscheidung beigepflichtet und ausgeführt, daß in Sonderfällen erkennbarer Gefährlichkeit die baubehördliche Genehmigung zunächst den Anscheinsbeweis für die Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt geschaffen habe; werde die Gefährdung erkennbar, sei es in der Regel zu spät, auch noch Abwehrmaßnahmen zu treffen; hier liege der Gedanke eines Ausgleiches in Form einer Gefährdungshaftung nahe: Wo nämlich der Anschein der Gefahrlosigkeit (oder die Zulässigkeit einer Handlung überhaupt) sich erst aus einem behördlichen Genehmigungsverfahren ergebe, enthielten § 364a ABGB ebenso wie die anderen gesetzlich geregelten Gefährdungshaftungen deutliche Anhaltspunkte für die generelle Entscheidung des Gesetzgebers, in solchen Fällen Ausgleich zu gewähren. Unter Beachtung der gleichen Grundsätze bejahte der OGH eine Gefährdungshaftung auch bei Grabungsarbeiten in nächster Nähe einer Wasserleitung (EvBl. 1976/190).
Nicht anders als in den erwähnten Fällen ist die Rechtslage im vorliegenden Fall, in dem die beklagte Partei zwar die Abbrucharbeiten durch ein Spezialabbruchunternehmen durchführen ließ und zweifellos auch eine baubehördliche Bewilligung für den Abbruch des Gebäudes nach § 60 Abs. 1 lit. d der Bauordnung für Wien, LGBl. 12/1930, in der geltenden Fassung, erhalten hatte und daher nicht schuldhaft handelte, aber die Abbrucharbeiten der Hoffassade des fünfstöckigen Gebäudes so knapp an der Liegenschaftsgrenze durchführen ließ, daß durch bloßes Herabstürzen des Mauerwerkes erhebliche Schäden an der Lagerhalle des Klägers und den darin befindlichen Gegenständen entstehen konnten und auch tatsächlich entstanden. Die von der beklagten Partei in Auftrag gegebene Handlung war damit als besonders gefährlich im Sinne der dargestellten Auffassungen anzusehen. Der Kläger konnte auch die Abbrucharbeiten nicht verhindern, da es, wenn auch unter Einhaltung der von der Baubehörde vorgeschriebenen Maßnahmen, das selbstverständliche Recht jedes Eigentümers ist, auf seiner Liegenschaft aufgeführte Gebäude, auch wenn sie bis zur Liegenschaftsgrenze reichen, auch dann abbrechen zu lassen, wenn durch bloßes Herabstürzen von Gebäudeteilen Schaden an der Nachbarliegenschaft nicht auszuschließen ist. Eine Nutznießung des Eigentums des Nachbarn war damit in Kauf genommen. Die eingetretene Schadensfolge im Eigentum des Klägers war auch zumindest objektiv kalkulierbar und eine Abwehr vor Beginn der Abbrucharbeiten praktisch nicht möglich; während der Abbrucharbeiten wäre aber eine Unterlassungsklage, wie sie sich die Revision vorstellt, nicht nur zu spät gekommen, sondern höchst gefährlich gewesen, da Abbrucharbeiten kaum ohne weiteres unterbrochen werden können. Der Kläger mußte die Möglichkeit nachteiliger Folgen des Verhaltens der beklagten Partei wie bei einer behördlich genehmigten Anlage im Sinne des § 364a ABGB hinnehmen und konnte insbesondere auch nach dem Eintritt des ersten Schadens am nichts Sinnvolles unternehmen. Es ist dann aber auch in diesem Fall gerechtfertigt, in analoger Anwendung des § 364a ABGB einen Ausgleich in Form einer Gefährdungshaftung anzuerkennen. Unerheblich muß es dabei bleiben, ob das Abbruchunternehmen ein Verschulden trifft. Wenn der Kläger ähnlich wie in den Fällen des § 364a ABGB das für sein Eigentum gefährliche Handeln der beklagten Partei, das auch ohne Verschulden zu einem Schaden an seinem Eigentum führen konnte, hinnehmen mußte, kann vom Kläger nicht verlangt werden, den allenfalls Schuldigen ausfindig zu machen und gegen ihn einen zwar zulässigen (SZ 36/159), aber schon wegen der Bestimmung des § 1315 ABGB riskanten Schadenersatzanspruch zu erheben; er kann sich vielmehr ohne Rücksicht darauf, wer allenfalls schuldhaft handelte, an den Nachbarn und damit an die beklagte Partei halten. Das muß umsomehr gelten, wenn, wie im vorliegenden Fall, das Abbruchunternehmen jedes Verschulden bestreitet und auch die beklagte Partei sich nicht darauf beruft, daß das Verschulden an dem eingetretenen Schaden einen bestimmten Dritten treffe.