OGH vom 14.03.2013, 2Ob239/12d
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Karl H*****, vertreten durch Dr. Helmut Klementschitz, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. David O*****, und 2. B***** Versicherungs AG, *****, vertreten durch Lippitsch Neumann Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen 9.194,71 EUR sA und Feststellung, über die Revisionen aller Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom , GZ 2 R 150/12i 16, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom , GZ 17 Cg 213/11b 12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision der klagenden Partei wird nicht Folge gegeben.
Hingegen wird der Revision der beklagten Parteien teilweise Folge gegeben und werden die Urteile der Vorinstanzen dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:
„1. Das Leistungsbegehren von 9.194,71 EUR s.A. besteht dem Grunde nach zu 50 % zu Recht.
2. Das Begehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger 4.597,36 EUR samt 4 % Zinsen seit zu bezahlen, wird abgewiesen.
3. Das Begehren, es werde festgestellt, dass die beklagten Parteien für sämtliche zukünftigen kausalen Spät- und Folgeschäden aus dem Unfallereignis vom im Kreuzungsbereich der Eggenberger Allee mit der Karl-Morre-Straße in Graz gegenüber der klagenden Partei haften, die drittbeklagte Partei nur mit der Höhe der Haftpflichtversicherungssumme des Beklagtenfahrzeugs mit dem Kennzeichen G 111RD, wird im die Hälfte übersteigendem Ausmaß abgewiesen.“
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Text
Entscheidungsgründe:
Am kam es um 10:20 Uhr bei guten Sichtverhältnissen und trockener Fahrbahn in Graz im Kreuzungsbereich der Eggenberger Allee mit der Karl Morre Straße zu einem Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Radfahrer und der Erstbeklagte als Lenker eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Rettungsfahrzeugs beteiligt waren.
Der westlich der Kreuzung liegende Teil der Eggenberger Allee sowie der nördlich der Kreuzung liegende Teil der Karl Morre Straße sind jeweils durch das Verkehrszeichen „Vorrang geben“ mit Zusatztafel für den besonderen Vorrangverlauf benachrangt, sodass der östliche Teil der Eggenberger Allee und der südliche Teil der Karl Morre Straße bevorrangt sind.
Der Kläger näherte sich der Kreuzung von Osten kommend auf einem baulich von der Fahrbahn getrennten Radweg in der Eggenberger Allee und wollte seine Fahrt in der Karl Morre Straße nach Süden, also von ihm aus gesehen nach links, fortsetzen. Der Radweg selbst überquert den nördlichen Ast der Karl Morre Straße mit einer Radfahrerüberfahrt und setzt sich danach gerade in der Eggenberger Allee fort.
Der Erstbeklagte näherte sich mit dem Rettungsfahrzeug der Unfallstelle in der Eggenberger Allee aus Richtung Westen kommend, also entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung des Radfahrers. Er blieb etwa 1 m vor dem Schutzweg der Kreuzung verkehrsbedingt stehen. Der Kläger überfuhr einen Großteil der die Karl Morre Straße überquerenden Radfahrerüberfahrt, verließ diese kurz vor ihrem Ende und bog nach links ab. In diesem Zeitpunkt befand sich das Rettungsfahrzeug noch im Stillstand. „Geringfügig“ nachdem der Kläger die Radfahrerüberfahrt verlassen und mit der Querung der Eggenberger Allee begonnen hatte, setzte der Erstbeklagte das Rettungsfahrzeug in Bewegung, wobei er eine Geschwindigkeit von 16 km/h erreichte und nach einer Fahrstrecke von 5 m mit der Front gegen den mit etwa 10 bis 15 km/h fahrenden Kläger, der bis zur Unfallstelle eine Strecke von 8 bis 9 m zurückgelegt hatte, zusammenstieß.
Beiden Fahrzeuglenkern wäre es möglich gewesen, das gegnerische Anfahren bzw Abbiegen zu einem Zeitpunkt wahrzunehmen, in dem jeder noch vor der späteren Unfallstelle hätte anhalten können. Auch nach dem Losfahren des Beklagtenfahrzeugs wäre es beiden Unfallbeteiligten möglich gewesen, unfallverhütend zu reagieren.
Der Kläger begehrt Zahlung von 9.194,71 EUR sA und stellt ein Feststellungsbegehren für zukünftige Unfallsfolgen mit der Begründung, der Lenker des Rettungsfahrzeugs habe eine Vorrangverletzung sowie einen schweren Aufmerksamkeitsfehler zu verantworten, weil er plötzlich losgefahren sei, ohne den Kläger zu beachten.
Die Beklagten wenden dagegen ein, dem Erstbeklagten sei der Vorrang zugekommen. Er sei nach dem Anhalten zumindest 2 bis 3 m in Bewegung gewesen, als der Kläger in die Kreuzung eingefahren sei, und habe keineswegs auf den Vorrang verzichtet. Der Kläger sei nicht dem besonderen Verlauf der Vorrangstraße gefolgt und habe das im nördlichen Ast der Karl Morre Straße vor der Kreuzung, aber nach dem Radweg befindliche Verkehrszeichen „Vorrang geben“ missachtet.
Das Erstgericht sprach das Zurechtbestehen der Klagsforderung dem Grunde nach aus. Den Erstbeklagten treffe das Alleinverschulden, weil er infolge Vorrangverzichts wartepflichtig gewesen sei.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahingehend ab, dass es ausgehend von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 40 : 60 zu Lasten der Beklagten mit Zwischenurteil das Zurechtbestehen des Leistungsbegehrens dem Grunde nach zu 60 % aussprach und mit Teilurteil das Leistungsbegehren sowie das Feststellungsbegehren im Umfang von jeweils 40 % abwies.
Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und gelangte rechtlich zu dem Ergebnis, dass der Kläger die Radfahranlage verlassen und daher gegenüber dem Fließverkehr gemäß § 19 Abs 6a StVO im Nachrang gewesen sei. In der hier vorliegenden, schwierig zu beurteilenden Vorrangsituation sei auch der Kläger zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen; seine Fahrlinie sei zwar nicht verboten, aber jedenfalls ungewöhnlich und überraschend gewesen, habe er doch die beabsichtigte Fahrtrichtungsänderung nicht angezeigt. Als sich der Kläger entschlossen habe, die Radfahranlage zu verlassen und in die bevorrangte Straße einzufahren, habe sich das Beklagtenfahrzeug noch vor dem Schutzweg befunden. Eine aus einem vorausgehenden Vorrangverzicht ableitbare Vorrangverletzung liege aber nur dann vor, wenn der Wartepflichtige im Zeitpunkt seines Weiterfahrentschlusses tatsächlich in der Lage sei zu erkennen, dass er gegenüber einem anderen Fahrzeug wartepflichtig ist. Das Anfahren sei dem Erstbeklagten daher nicht als schuldbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten. Es habe ihn aber zu besonderer Aufmerksamkeit beim Anfahren und Einfahren in die Kreuzung verpflichtet. Dagegen habe er verstoßen, habe er doch den Kläger vor dem Anstoß nicht bemerkt. Es sei daher von einer Verschuldensteilung im Verhältnis 40 : 60 zu Lasten der Beklagten auszugehen.
Die ordentliche Revision sei zulässig, weil es einer Klärung der Rechtsfragen des Verlassens der Radfahranlage zum Zwecke des Linksabbiegens und des Verhältnisses der Vorrangbestimmung des § 19 Abs 6a zu Abs 8 StVO bedürfe.
Gegen diese Entscheidung richten sich die Revisionen aller Parteien. Der Kläger beantragt die Abänderung im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgebung, in eventu die Aufhebung, die Beklagten beantragen die gänzliche Klagsabweisung und ebenfalls in eventu die Aufhebung.
Beide Seiten streben in ihren Revisionsbeantwortungen jeweils an, dass der Revision der Gegenseite nicht Folge gegeben werde. Der Kläger stellt auch einen Zurückweisungsantrag.
Rechtliche Beurteilung
Die Revisionen sind aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig , jene des Klägers ist aber nicht , jene der Beklagten nur teilweise berechtigt .
1. Der Vorrang bezieht sich nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats auf die gesamte Fahrbahn der bevorrangten Straße (RIS Justiz RS0073758).
2. Der Kläger hat den Radweg und die daran anschließende Radfahrerüberfahrt, somit eine Radfahranlage iSd § 2 Abs 1 Z 11b StVO benutzt. Ein Radfahrer, der eine solche Radfahranlage verlässt, hat gemäß § 19 Abs 6a StVO anderen Fahrzeugen im Fließverkehr den Vorrang zu geben. Im fließenden Verkehr befindet sich ein Fahrzeug, das weder hält noch parkt, noch sich nach einem Halten oder Parken in den entsprechenden Fahrbahnteil einordnet, noch aus einer in § 19 Abs 6 StVO aufgezählten Verkehrsfläche kommt (RIS Justiz RS0073664). Unter Halten ist nach § 2 Abs 1 Z 27 StVO eine nicht durch die Verkehrslage oder durch sonstige wichtige Umstände erzwungene Fahrtunterbrechung bis zu zehn Minuten oder für die Dauer der Durchführung einer Ladetätigkeit zu verstehen.
Das vor dem Schutzweg anhaltende Rettungsfahrzeug ist daher als im Fließverkehr befindlich und gegenüber dem die Radfahranlage verlassenden Kläger grundsätzlich bevorrangt anzusehen.
3. Allerdings ist weiters zu bedenken, dass nach § 19 Abs 8 Satz 2 StVO das Zum Stillstand Bringen eines Fahrzeugs, aus welchem Grund immer, insbesondere auch in Befolgung eines gesetzlichen Gebots, als Verzicht auf den Vorrang gilt.
Nach den Feststellungen setzte der Erstbeklagte das Rettungsfahrzeug „geringfügig“ nach dem Zeitpunkt, in dem der Kläger mit der Querung der Eggenberger Allee begonnen hatte, wieder in Bewegung (das Berufungsgericht beziffert diese Zeitdifferenz unter Hinweis auf das Sachverständigengutachten mit 0,3 sec).
Es mag daher der Gedanke des Berufungsgerichts einiges für sich haben, dass der Lenker des Rettungsfahrzeugs den Entschluss loszufahren davor und somit in einem Zeitpunkt, in dem für ihn das Verlassen der Radfahranlage durch den Kläger noch nicht auffällig sein konnte gefasst haben muss, sodass in diesem Zeitpunkt die Wahrnehmbarkeit dieses Vorgangs und damit eine Vorrangverletzung zumindest fraglich ist. Wesentlich ist aber die Feststellung des Erstgerichts, dass der Erstbeklagte auch nach seinem Wiederlosfahren ebenso wie der Kläger selbst -unfallverhütend reagieren und vor der Unfallstelle anhalten hätte können.
Dass der Erstbeklagte bei Fassung des Losfahrentschlusses die potentielle Vorrangsituation gegenüber dem die Radfahranlage verlassenden Kläger möglicherweise (noch) nicht wahrnehmen konnte, bedeutet daher nicht, dass er ab Wahrnehmbarkeit des Fahrmanövers des Klägers nicht verpflichtet gewesen wäre, sein Fahrzeug wiederum zum Stillstand zu bringen.
Umgekehrt wäre aber auch der Kläger im Hinblick auf seinen grundsätzlichen Nachrang gegenüber dem Fließverkehr bei Verlassen der Radfahranlage und der von ihm gewählten, den Linksabbiegevorgang erst durch seine Durchführung erkennbar machenden und damit besonders gefahrengeneigten Fahrweise ebenfalls zu besonderer Vorsicht gehalten gewesen. Auch ihm wäre es nach den Feststellungen möglich gewesen, auf das Losfahren des Rettungsfahrzeugs rechtzeitig unfallverhütend zu reagieren.
Angesichts der schwierig zu beurteilenden Vorrangsituation waren beide Lenker zu besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit verpflichtet (RIS Justiz RS0073128 [T6, T 8]; vgl RS0123931), was sie beide außer Acht ließen, sodass nach Ansicht des erkennenden Senats im konkreten Fall eine Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 1 angemessen ist.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 393 Abs 4, § 52 Abs 2 ZPO.
Fundstelle(n):
FAAAD-38925